Riesenbildschirme sind "nicht das Optimale"

Christian Spannagel im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 23.10.2013
Auch im Klassenzimmer der Zukunft sollten an erster Stelle die Schülerinnen und Schüler stehen, sagt Christian Spannagel. Die geeigneten digitalen Werkzeuge und Medien zu finden, das sei ein wichtiger zweiter Schritt, so der Pädagoge.
Stephan Karkowsky: Für die Buchmesse war das offenbar kein Widerspruch, dass ein Stuttgarter IT-Unternehmen dort ein Schulbuch-freies Klassenzimmer vorführen durfte!

Ist dieser Cyber-Classroom nun schöne neue Welt oder ein Albtraum der Pädagogen? Das möchte ich mit Christian Spannagel von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg diskutieren, der ist dort Professor für Mathematikdidaktik und ein Fürsprecher des Computer-unterstützten Lernens. Die Benutzungsprozesse beim Lernen und Lehren mit Computern, das war sein Promotionsthema. Herr Spannagel, guten Tag!

Christian Spannagel: Ja, guten Tag!

Karkowsky: Wünschen Sie sich ein Klassenzimmer wie das eben beschriebene?

Spannagel: Ja, ich glaube, dass in Zukunft tatsächlich das Klassenzimmer so oder so ähnlich aussehen wird, dass digitale Werkzeuge im Klassenzimmer präsent sind. Und das ist auch gut so, weil digitale Werkzeuge viele Möglichkeiten bieten, sich aktiv mit Inhalten auseinanderzusetzen. Was mich an der Vorstellung ein wenig stört, ist sozusagen, dass alles sich um die digitalen Medien rankt. Eigentlich muss natürlich das Klassenzimmer der Zukunft sich weiterhin um die Schülerinnen und Schüler, ihre Lernprozesse, ihren Kompetenzerwerb, ihre Ideen und Interessen und um die Inhalte ranken, und nicht um die Medien. Die Medien kommen immer erst an zweiter Stelle.

Karkowsky: Wie kann man diesen Widerspruch denn auflösen?

Spannagel: Ja, Lehrerinnen und Lehrer müssen sich genauso wie heute und in Zukunft überlegen, wie schaffe ich es, dass meine Schülerinnen und Schüler sich diesen oder jenen Inhalt aneignen, wie schaffe ich, dass sie diese oder jene Kompetenzen erwerben? Und dann im zweiten Schritt müssen sie überlegen, ob dafür digitale Werkzeuge geeignet sind oder nicht, und wenn ja, welche digitalen Werkzeuge. Schwierig dabei ist natürlich, dass die Lehrerinnen und Lehrer selbst die entsprechenden Kompetenzen im Umfang mit digitalen Medien haben müssen, und da liegt ein großes Problem drin. Also, wie schaffe ich es, dass Lehrerinnen und Lehrer auf der einen Seite gut ausgebildet werden darin, und auf der anderen Seite aber auch im Sinne von Weiterbildung, lebenslanger Weiterbildung, lebenslangem Lernen sich da auf dem aktuellen Stand halten können?

Karkowsky: Was gibt es denn eigentlich bereits, wie weit geht das E-Learning schon heute?

"Der Computer bietet die Möglichkeit der Interaktivität"
Spannagel: Ja, da gibt es auch schon zahlreiche Dinge. Wir beispielsweise arbeiten mit Schülern mit Wikis. Wikis sind Online-Plattformen, in denen man gemeinsam Texte erstellen kann. Und das eignet sich insbesondere, um zu lernen, wie man im Internet Inhalte bereitstellt, und dabei auch gleichzeitig zu lernen, welche Probleme und Gefahren es gibt, wo man aufpassen muss beispielsweise bei Urheberrecht und Datenschutz. Oder es gibt in der Mathematik Werkzeuge wie dynamische Geometriesysteme. Sie müssen sich vorstellen, wenn Sie an der Tafel oder auf einem Blatt Papier eine geometrische Konstruktion machen, die kann man nicht mehr verändern, die muss man wegradieren oder wegwischen und noch mal neu machen. Und mit dynamischen Geometriesystemen kann man eine Konstruktion auch anschließend verändern. Der Computer bietet die Möglichkeit der Interaktivität, das heißt, ich kann diese Konstruktion untersuchen, ich kann Punkte bewegen, Geraden bewegen und dann daraus Schlüsse ziehen, Hypothesen überprüfen, die ich an diese Konstruktion stelle.

Karkowsky: Für Sie als Mathematiker wären doch eigentlich riesige Bildschirme anstelle von Tafeln, auf denen man dann 3D-Animationen hin- und herschieben kann, das Optimale. Aber wer soll das finanzieren?

Spannagel: Diese Riesenbildschirme sind für mich eigentlich gar nicht das Optimale, weil das müsste man dann auch im Klassenverband in irgendeiner Weise machen. Ideal ist natürlich, wenn die Schüler auf ihren kleinen Geräten solche Animationen haben und selbst untersuchen können, individuell. Das ist ja ideal. Finanzieren ist natürlich ein großes Problem, insofern glaube ich auch, dass wir mit dem Gang, den wir bisher gegangen sind, also dass wir Rechnerräume in den Schulen haben, dass das zukünftig kein Modell mehr ist. Die Schulen können es einfach nicht leisten, alle paar Jahre irgendwie neue Technologie zu kaufen. Das heißt, wir müssen in irgendeiner Weise dahin kommen, dass umfinanziert wird, also dass Dinge, die bislang beispielsweise … Geld, das bislang beispielsweise für Schulbücher in Massen ausgegeben wurde, dass das in irgendeiner Weise dazu dient, mobile Geräte zur Verfügung zu stellen.

Karkowsky: Sie hören zum Klassenzimmer der Zukunft den Heidelberger Mathematikprofessor Christian Spannagel. Herr Spannagel, Bill Gates würde am liebsten noch einen Schritt weiter gehen: Der Microsoft-Gründer sagte, man könne eigentlich die teuren Schulen dicht machen, jeder Schüler brauche doch sowieso nur Computer und Internet für den Unterricht zu Hause. Finden Sie das auch?

Spannagel: Ach so, wir brauchen gar keine Lehrer mehr!

Karkowsky: Doch, schon, aber die Schüler sitzen zu Hause!

"Die sozialen Strukturen sind ganz wichtig"
Spannagel: Nein! Okay, das könnte man sich auch vorstellen, dass der Lehrer irgendwo anders sitzt, aber nein, das, glaube ich, ist kein Modell. Denn es geht ja immer auch darum, in sozialen Verbänden miteinander zu lernen. Das heißt, Schüler gehen ja auch in die Schule und gerne in die Schule, weil sie ihre Mitschüler dort haben. Und die sozialen Strukturen sind ganz wichtig, dass man sich gemeinsam auf den Weg begibt und auch motiviert ist, Dinge zu tun.

Karkowsky: Aber es gibt ja auch richtige Bremser wie den Psychologen Manfred Spitzer, die warnen vor dem Verlust an haptischer Erfahrung, wer nur noch virtuell unterwegs ist, nur noch auf den Monitor glotzt, der klicke sich das Hirn weg, sagt er. Sehen Sie gar keine Gefahren darin, die Wirklichkeit immer nur auf Monitoren gespiegelt zu bekommen?

Spannagel: Natürlich ist das eine Gefahr, wenn man davon ausgeht, dass die Wirklichkeit immer nur auf Monitoren gespiegelt wird. Das ist überhaupt nicht meine Position, sondern für mich ist es wichtig, digitale Medien in Ergänzung zu realweltlichen Erfahrungen einzusetzen, nämlich dann und dort, wo sie einen Vorteil haben. Es gibt ja verschiedene Situationen, in denen kann ich keine realweltlichen Erfahrungen mache.

Also, wenn ich beispielsweise ein physikalisches Experiment habe, das gefährlich ist oder so, dann führe ich das nicht mit den Schülern gemeinsam durch, sondern dann schaue ich mir das als Film an oder als Animation oder Simulation. Wenn ich es aber real durchführen kann, dann führe ich es natürlich real durch! Weil das eine ganz andere Erfahrung ist. Und Herr Spitzer geht davon aus oder sagt berechtigterweise, dass Gefahren darin bestehen, wenn man digitale Medien im Überfluss und unvernünftig nutzt. Und meine Position ist, dass man genau aus diesem Grund auch digitale Medien in den Schulen einbringen muss, damit man mit Schülerinnen und Schülern gemeinsam schauen kann, wie man sie vernünftig nutzt.

Karkowsky: Und der Philosoph Richard David Precht, der spricht vom bulimischen Lernen in der analogen Schule. Ich zitiere: Alles ganz schnell in sich reinstopfen und bei der nächsten Klassenarbeit wieder auskotzen! Wie viel Wert hat ein breites Wissen eigentlich noch in einer Welt, in der ich ohnehin ständig mit Google und Wikipedia verbunden bin und alles Wissen der Welt sofort nachschlagen kann?

Spannagel: Ja, das halte ich für einen Irrtum, dass man Wissen nachschlagen kann. Man kann höchstens Informationen suchen oder Informationen bekommen, aber kein Wissen. Informationen werden zu Wissen dann, wenn ich es mit meinem eigenen Vorwissen verknüpfen kann, was ich da lese. Das heißt, um die Information, die ich im Internet finde, verstehen zu können, brauche ich bereits Vorwissen. Natürlich braucht man ein breites Wissen, um die Inhalte im Internet tatsächlich verstehen zu können, interpretieren zu können, einschätzen zu können, welche Relevanz haben Inhalte für mich, und einschätzen zu können, was bezweckt denn ein Autor mit dieser Information? Für das alles brauche ich Wissen. Wenn ich kein Wissen habe, dann bin ich verloren und muss sozusagen die Inhalte, die ich finde, per Copy und Paste irgendwohin übertragen, weil ich es nicht verstehe.

Karkowsky: Herr Spannagel, gestern kam die Nachricht, nach Bayern, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein verbietet auch das Bundesland Rheinland-Pfalz seinen Lehrern jeglichen dienstlichen Kontakt zu deren Schülern via Facebook. Enttäuscht Sie das, dass die Bundesländer nach und nach dicht machen in Sachen Lehrerkommunikation via Social Networks?

"Bei Facebook ist tatsächlich eine gewisse Schwierigkeit gegeben"
Spannagel: Nein, das enttäuscht mich nicht, sondern gerade bei Facebook ist tatsächlich eine gewisse Schwierigkeit gegeben, weil Facebook die Daten weiterverwendet und es problematisch ist aus datenschutzrechtlichen Gründen in Schulen in Bildungsinstitutionen. Nein, das ist schon richtig so, würde ich sagen. Man muss als Schulen Alternativen anbieten, in denen man in einem Raum gemeinsam online arbeiten kann, ohne dass man dieses Datenschutzproblem eingeht. Und da gibt es auch zahlreiche Möglichkeiten.

Karkowsky: Das virtuelle Klassenzimmer. Über mögliche und unmögliche neue Lernformen an der Schule sprachen wir mit dem Heidelberger Mathematikdidaktiker Professor Dr. Christian Spannagel. Ihnen danke für das Gespräch!

Spannagel: Ja, herzlichen Dank auch!

Karkowsky: Auch am Freitag geht es hier noch einmal um die Zukunft des Lernens. Um 15:00 Uhr ist unser Thema dann "Online-Kommune statt Vorlesung. Warum geteiltes Lernen im Netz magisch sein kann". Und am Samstag haben Sie dann zwei Stunden lang die Gelegenheit, mit zu diskutieren über das Pro und Contra neuer Lehrmethoden, ab 9:00 Uhr im "Radiofeuilleton" im Gespräch.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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