Manifest "Die Zukunft der Erdbewohner"

Utopie einer Weltgesellschaft

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Cover von Marc Augés Buch "Die Zukunft der Erdbewohner. Ein Manifest". Im Hintergrund ist ein Foto des futuristischen Parks "Gardens by the Bay" in Singapur zu sehen.
"Wenn wir nicht mehr nach der Zukunft greifen, dann weil es eher die Zukunft selbst ist, die nach uns greift", schreibt Marc Augé. © Deutschlandradio / Matthes & Seitz / Unsplash timJ
Von Tabea Grzeszyk · 28.06.2019
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Wir trauen uns nicht mehr, uns die Zukunft vorzustellen, diagnostiziert der Anthropologe und Ethnologe Marc Augé. Er plädiert dagegen für einen globalen Zusammenschluss jenseits nationaler Egoismen und kultureller Unterschiede.
"Das große Paradox unserer Epoche ist: Wir wagen es nicht mehr, uns die Zukunft vorzustellen, obgleich uns der Fortschritt der Wissenschaft Zugang zum unendlich Großen wie auch zum unendlich Kleinen ermöglicht", schreibt der französische Anthropologe und Ethnologe Marc Augé in seinem Manifest "Die Zukunft der Erdbewohner".
Obwohl der Mensch im 21. Jahrhundert dank der Errungenschaften der Wissenschaften so viel Wissen wie niemals zuvor angehäuft hat, ist uns doch, so lautet Augés Gegenwartsanalyse, eine entscheidende Fähigkeit abhandengekommen: Wir haben keine Vision mehr von der Zukunft. Wir haben Angst vor der Zukunft.

Die Zukunft findet längst statt

Nach 200 Jahren Fortschrittsgläubigkeit liegt heute das Zeitalter der "großen Erzählungen" hinter uns. Der Kampf zweier politischer Systeme, der des freiheitlichen Liberalismus und des Sozialismus, die miteinander konkurrierend nicht weniger als einen "neuen Menschen" erschaffen wollten, ist ausgekämpft.
Doch wir erleben heute nicht das "Ende der Geschichte", wie es der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama noch Anfang der 1990er-Jahre verkündete. Der historische Triumph des Kapitalismus führte stattdessen zu einer globalen Dynamik, die schnell deutlich machte, dass das kapitalistische System keine Demokratien benötigt, um sich auf der ganzen Welt auszubreiten.
Globalisierung, Digitalisierung, Beschleunigung, entfesselte Mobilität - die Zukunft findet längst statt. Laut Augé überfährt sie uns geradezu: "Wenn wir nicht mehr nach der Zukunft greifen, dann weil es eher die Zukunft selbst ist, die nach uns greift."

Mächtige, Konsumenten, Ausgeschlossene

Diese nach uns greifende Zukunft hat eine Dreiklassenwelt hervorgebracht, die die Menschheit in die Gruppen der Mächtigen, der Konsumenten und der Ausgeschlossenen aufteilt. Die kapitalistische Fokussierung auf den Einzelnen als potenziellen Konsumenten verstelle dabei den Blick auf den Menschen als Gattungswesen, auf die Menschheit als Bewohner eines gemeinsamen Planeten Erde.
Und genau darauf möchte sein Manifest hinaus: Marc Augé entwirft die Utopie einer "Weltgesellschaft", die nationale Egoismen und kulturelle Unterschiede überwindet und die Bildung für alle als letzten Zweck der Menschheit verwirklicht.

Wissen ist stets auch Herrschaftswissen

Augés schmales Büchlein beruht auf einem Vortrag in Turin aus dem Jahr 2013. Das macht es zu einem gut lesbaren, kurzweiligen Ritt durch die ethnologische und anthropologische Forschung, der der Franzose für seine Utopie einer Wissensgesellschaft eine zentrale Rolle zuschreibt.
Bei aller Sympathie für sein engagiertes Eintreten für eine solidarische Weltgemeinschaft bleibt dennoch eine Frage zurück: Wissen ist stets auch Herrschaftswissen, es gibt keine interesselose Akkumulation von Fakten.
In einer egalitären Weltgemeinschaft könnte es passieren, dass die nicht-westliche, nicht-weiße Mehrheit der Menschheit eine ganz andere Utopie von der Zukunft vorschwebt, als Marc Augé sie hier postuliert.

Marc Augé: "Die Zukunft der Erdbewohner. Ein Manifest"
Aus dem dem Französischen von Daniel Fastner
Matthes & Seitz, Berlin 2019
94 Seiten, 15 Euro

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