Richard von Schirach: "Der Mann, der die Erde wog"

Die Abenteuer der Wissenschaft

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Richard von Schirach erzählt anekdoten- und zitatenreich. © dpa / Bertelsmann
Von Günther Wessel · 01.11.2017
Als "brillante Sonderlinge in einer Irrenanstalt" beschrieb der Nobelpreisträger Max Delbrück die Gruppe der Wissenschaftler um Max Born in den 1920er-Jahren in Göttingen. Diese Forscher stellt Richard von Schirach in seinem neuen Buch vor – ein Lesevergnügen.
Von Schirach spannt einen Bogen von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Sein Interesse gilt dabei den Menschen, die groß und kühn dachten, wie er den englischen Naturforscher Henry Cavendish beschreibt. Der wollte die Welt komplett vermessen und in Zahlen fassen. Er zerlegte 1784 erstmals Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff, sein Hauptziel aber war, das Gewicht der Erde zu bestimmen. Mit Hilfe von Gravitationsgesetzen und komplizierten Apparaten ermittelte er die mittlere Erdichte – sie liegt beim 5,48-fachen von Wasser. So konnte er über das Erdvolumen das Gewicht unseres Planeten berechnen: 5,96 Trilliarden Tonnen, was dem realen Wert sehr nahe kam
Cavendish war das Musterbeispiel eines seltsamen Gelehrten: Verschroben, menschenscheu und exzentrisch. Und der Mehrheit seiner Zeitgenossen unbekannt. Wie auch Julius Robert Mayer, der 1841 als Erster den Energieerhaltungssatz formulierte, aber mehrere Jahrzehnte darum kämpfen musste, als Wissenschaftler anerkannt zu werden – Aufenthalte in Irrenanstalten inklusive.

Verschrobene Zeitgenossen mit schwierigen Lebensläufen

Auch einigen der "brillanten Sonderlinge" um Max Born spielten die Zeitläufte übel mit. Befreundete Wissenschaftler fanden sich im Zweiten Weltkrieg auf verschiedenen Seiten wieder, arbeiten gegeneinander oder schwebten in Lebensgefahr. Der geniale, aber menschlich schwierige Robert Oppenheimer und Maria Göppert forschten im Manhattan Project am Bau der Atombombe, Lew Landau arbeitete an der Entwicklung der sowjetischen Wasserstoffbombe, Fritz Houtermanns floh als Kommunist aus Deutschland in die Sowjetunion, wurde von Stalins Schergen verhaftet, saß lange in Einzelhaft und rettete sich und seinen Verstand dadurch, dass er sich – ohne Notizen – mit der Theorie der Primzahlen beschäftigte. Er wurde an Deutschland ausgeliefert, von der Gestapo inhaftiert und arbeitete später an einem Kernforschungsprojekt von Manfred von Ardenne mit.

Wertschätzung der Naturwissenschaften

Richard von Schirach erzählt anekdoten- und zitatenreich, manchmal etwas weitschweifig. Er charakterisiert seine Helden genau und zeigt die Verbindungslinien zwischen ihnen auf. Obwohl oder vielleicht gerade weil er Sinologe, kein Naturwissenschaftler, ist, gelingt es ihm ausgezeichnet, die wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Protagonisten mit ihrem Lebenslauf zu verbinden. Naturwissenschaftlern wird er wenig Neues über deren Forschung verraten – wohl aber über einige menschlichen Abgründe, die sich auftun können, wenn man sich (zu) stark in seine Arbeit verkriecht. Gedacht ist das Buch für die eher an Kulturwissenschaften interessierten Leser: es soll sie, so die Absicht des Autors, aus ihrer oft selbst verschuldeten Ignoranz den Naturwissenschaften gegenüber herausreißen. Das glückt.

Richard von Schirach: "Der Mann, der die Erde wog"
Bertelsmann, München 2017
316 Seiten, 22 Euro

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