Richard Sennett eröffnet Lessingtage

Schluss mit den Fantasien über den Anderen!

Der Soziologe Richard Sennett, Jahrgang 1943
Der Soziologe Richard Sennett, Jahrgang 1943 © picture-alliance/ dpa
Von Axel Schröder  · 25.01.2015
Abschottungspolitik, das war sein zentrales Stichwort: Der Stadtsoziologe Richard Sennett bezog es in seiner Rede bei den Hamburger Lessingtagen auf die Grenzen innerhalb von Metropolen, die zu Ghettobildung führen. Menschen müssten es aber aushalten, "dem Anderen" zu begegnen. Mehr noch: Es tue ihnen gut.
Richard Sennett hielt sich nicht auf mit einer Bestandsaufnahme der weltweiten Konflikte. Den Bogen von den Kriegen Afrikas, den Flüchtlingswellen über den Ukraine-Konflikt bis zu den innergesellschaftlichen Konflikten, die zum Beispiel islamfeindliche Menschen auf die Straße treiben, den Aufruhr sichtbar machen, hatte bereits Thalia-Intendant Joachim Lux in einer kurzen Rede vor Sennetts Auftritt geschlagen.
Der in London und New York lehrende Soziologe skizzierte in seiner Eröffnungsrede zu den diesjährigen Lessing-Tagen am Thalia-Theater vielmehr Wege, wie dieser Aufruhr wenn nicht vermieden, so doch wenigstens kleingehalten werden kann, beherrschbar bleibt. Mit "abgegriffenen, fröhlichen Multikulti-Idealen", so Sennett, gelinge das nicht. Schließlich reagierten Menschen auf die Andersartigkeit ihrer Mitbürger erst einmal mit Misstrauen und Verunsicherung:
"Mit Menschen zusammen zu sein, die anders sind, ist eine störende Angelegenheit. Wir sollten uns einig darüber sein, dass es ein Zustand ist, der uns nicht glücklich macht. Meiner Ansicht nach müssen wir diese Störungen aber eher als etwas Positives denn als etwas Negatives sehen. Der Blick auf diese Spannungen kann unseren Blick schärfen, unsere Neugierde wecken, uns herausholen aus unseren engen Denkmustern."
Aber dazu, so der Stadtsoziologe, müssten wir denen, die anders sind, erst einmal begegnen. Aber genau das geschehe in unseren Städten heutzutage immer seltener, so Sennett:
"Die ökonomische Ungleichheit, die überall immer größer wird, lässt die vormals durchmischten Nachbarschaften verschwinden. Gruppen, die sich in ihrer Rasse, ihrer Ethnie oder Religion unterscheiden, leben nun – wie in der Mitte des 20. Jahrhunderts - voneinander getrennt. Unsere Städte sind heute viel gemischter, aber sie sind viel weniger durchmischt."
Und dafür sorgten die Grenzen innerhalb unserer Großstädte, die die Menschen von den Lebenswelten ihrer Mitbürger trennen. Richard Sennett führte mit einer Dia-Schau vor, wie diese Grenzen beschaffen sind: Der Soziologe ließ sich im Helikopter über Caracas und Sao Paulo fliegen, machte Fotos von den sechsspurigen Stadtautobahnen, die die niedrigen Hütten der Armenviertel von den edlen Hochhaus-Quartieren der Reichen trennen.
Sennett zeigte seine Bilder vom streng gesicherten israelischen Grenzzaun zu Palästina, die jedes Zusammentreffen, jeden Austausch unmöglich machen und Fotos anderer Abschnitte der Grenzanlagen, in denen schmale Durchgänge in der acht Meter hohen Betonmauer eine Durchlässigkeit und Begegnung ermöglichen. Die gleiche – Sennett nennt es – Porösität von Grenzbereichen gibt es in unseren Städten. Zum Beispiel dann, wieder zeigt er ein Foto, wenn im Café in einer schmucken Kopenhagener Fußgängerzone auch die gleich nebenan betreut wohnenden Alzheimer-Patienten ihren Kaffee trinken:
"Das ist Porösität. Früher wurden diese Menschen drinnen versteckt. Heute gibt es eine poröse Verbindung zwischen dem Innen und Außen. Aus touristischer Sicht ist es nicht besonders vergnüglich, neben drei Menschen mit Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium zu sitzen – ich muss es wissen, weil ich dort gesessen habe. Aber es ist Realität! Und es ist eine Bedingung dafür, wenn man mit Andersartigkeit leben möchte. Es erzählt ein Stück Wahrheit."
Den Anderen in seiner Andersartigkeit verstehen, Vorurteile abbauen
Diese Wahrheit kennenzulernen und auszuhalten ist die Grundvoraussetzung dafür, den Anderen, seine Andersartigkeit zu verstehen und Vorurteile abzubauen. Das würde auch vielen Menschen gut tun, die derzeit auf islamfeindlichen Demonstrationen durch deutsche Innenstädte ziehen, so Sennett:
"Der Vorteil wäre, dass man aufhört, ein Leben voller Fantasien über den Anderen zu leben. Genau das ist es, – ich kann mir nicht helfen – was die Leute bei PEGIDA tun. Sie haben Fantasien über das Leben von Muslimen, weil sie sie nicht kennen. Meine Idee wäre, dass eine gemischte Stadt sich nicht mehr so sehr auf das konzentriert, was in ihrer Mitte passiert, sondern ihre Ränder gestaltet, so dass alle Menschen zusammenleben können."
Für Joachim Lux, den Intendanten des Thalia-Theaters, setzt sich die Abschottung gegen andere Lebenswelten innerhalb der Städte auch auf globaler Ebene fort. Die nördliche Halbkugel sei durch die Grenzanlagen zwischen den USA und Mexiko und die europäische Grenzsicherungsanlagen bis zur Türkei von der südlichen streng getrennt. Der Norden, so Lux, ähnelt den umzäunten und bewachten Reichenvierteln in vielen Teilen der Erde. Die Nordhalbkugel sei längst eine "Gated Community":
"Innerhalb dieser Gated Community bilden sich dann wieder andere Gated Communities durch restriktive Einwanderergesetze oder durch Wohlstand, der preislich für andere nicht zu erschwingen ist. Das gibt es alles. Und Hamburg? Ja. Man versucht in Hamburg auch, die eigenen Bezirke sauber zu halten von dem, was man glaubt, dort nicht sehen zu wollen."
Jüngstes Beispiel: Im feinen Harvestehude, einem Villenviertel in Alsternähe setzten zwei Kläger durch, dass alle Arbeiten an einer neuen Flüchtlingsunterkunft sofort gestoppt werden. Um den Charakter des Viertels nicht zu verändern. Joachim Lux schüttelt darüber den Kopf. Auch er lebt in dem Viertel, er hätte sich gefreut über Menschen, die anders sind.
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