Richard David Precht über künstliche Intelligenz

Leben ist mehr als das Lösen von Problemen

34:52 Minuten
Artificial intelligence, machine learning concept with brain
Hirn ist nicht alles: Denken allein macht uns nicht menschlich, meint Richard David Precht, sondern erst die Erfahrung, lebendig, verletzlich und in Beziehung zu sein. © Getty Images / E+
Moderation: Stephanie Rohde · 21.06.2020
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Künstliche Intelligenz zwingt uns dazu, klare Grenzen zu ziehen, sagt der Philosoph Richard David Precht: Wir müssen entscheiden, wie viel Macht wir Maschinen über uns geben. Und woran wir in Zukunft messen, was menschlich ist.
Zu den größten Schreckgespenstern der Digitalisierung gehört die Vorstellung, dass Computer uns mit ihrer Intelligenz überflügeln und die Weltherrschaft an sich reißen könnten. Richard David Precht findet es "abenteuerlich", dass selbst "IT-Gurus und -Visionäre aus dem Silicon Valley" solche Szenarien heraufbeschwören und "immer wieder behaupten, wir müssten aufpassen, dass diese Maschinen nicht böse werden."

Kontrollverlust auf dem Finanzmarkt

Dabei sei die Idee, künstliche Intelligenz würde einen eigenen Willen zur Macht entwickeln, schon insofern abwegig, "als in der Evolution erst der Wille da war und sich dann bei ganz wenigen Tieren auch noch Intelligenz dazu gesellt hat", sagt der Publizist und Professor für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg und der Musikhochschule Hanns Eisler in Berlin. Die Vorhersage, dass umgekehrt aus Intelligenz ein Wille entstehen könnte, sei "völliger Unsinn", so Precht, "denn zu einem Willen gehört ein menschlicher oder tierischer Leib."
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Wir sind keine Rechner, sondern suchen Resonanz: Richard David Precht findet das Menschliche im Angesicht der Maschine.© imago images / Hannelore Förster
Nichtsdestotrotz sieht Precht ein Risiko, dass wir die Kontrolle über künstliche Intelligenzsysteme verlieren könnten, zumal mehr und mehr komplexe Aufgaben von Algorithmen übernommen würden, wie etwa auf den globalen Finanzmärkten:
"Je intelligenter der Hochfrequenzhandel wird, je mehr er sich verselbstständigt, umso pannenanfälliger oder unkontrollierbarer wird er. Also, Zusammenbruch des Weltfinanzsystems durch eine entgleiste künstliche Intelligenz – das halte ich für ein realistisches Szenario."

Kein "Todesalgorithmus" für autonome Autos

Besonders in ethisch sensiblen Bereichen bestehe die Gefahr, dass wir Maschinen "sehr weitreichende Handlungsvollmachten" übertragen, "die sie auf keinen Fall bekommen dürfen", betont Richard David Precht. Das gelte etwa für Überlegungen, selbstfahrende Autos mit einem "Todesalgorithmus" auszustatten, sodass sie "von sich aus entscheiden – aufgrund einer Programmierung natürlich, aber auch aufgrund einer selbstständigen Mustererkennung –, ob sie lieber eine Oma überfahren oder lieber ein kleines Kind".
Eine solche "ethische Programmierung" von autonomen Fahrzeugen wäre unvereinbar mit dem Prinzip der Menschenwürde, sagt Precht. "Abstufungen von Lebenswerten", die damit vorgenommen würden, seien "in Deutschland nach den Erfahrungen des Dritten Reiches strengstens verboten" und stünden im Gegensatz zu unserem Grundgesetz.

Technik ist kein Maßstab für den Menschen

In der Entwicklung künstlicher Intelligenz erkennt Richard David Precht auch eine Herausforderung für unser Menschenbild. Wie sehen wir uns selbst, woran messen wir uns, wonach streben wir? In Anbetracht der zunehmenden Bedeutung komplexer, eigenständig agierender Computersysteme für viele Bereiche unseres Lebens stellen sich diese Fragen neu.
"In der Philosophie wurde der Mensch immer zu stark über seine Vernunft, seinen Logos, definiert", sagt Precht. Immanuel Kant habe uns Menschen in diesem Sinne als "das Andere der Natur" bezeichnet. Dem hält Precht ein Verständnis des Menschen als "das Andere der künstlichen Intelligenz" entgegen: "Ich rücke den Menschen näher an die Tierwelt heran und stärker von seinen Maschinen weg."
Gerade im Computerzeitalter habe sich ein falsch verstandenes Menschenbild durchgesetzt, das die Technik zum Maßstab erklärte, schreibt Precht in seinem aktuellen Buch "Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens". Doch das sei eine falsche Fährte: "Wir sind keine defizitären Rechner, sondern empfindsame, verletzliche und resonanzbedürftige Wesen, die sich ihr Leben erzählen, um es mit Sinn auszustatten."

Was uns antreibt: Vernunft wird überschätzt

Die Vernunft zu unserer hervorragendsten Eigenschaft zu erklären, das wäre Precht deshalb zu eng. Der Philosoph Karl Popper brachte diese Sichtweise des kritischen Rationalismus einst auf die Formel: "Alles Leben ist Problemlösen." Precht widerspricht:
"Die Problemlösungsarbeit des Menschen wird dramatisch überschätzt. Und wenn man diese Formel benutzt, um zu sagen: Maschinen und Menschen sind sich ähnlich, dann übersieht man, dass der Mensch von ganz vielen unterschiedlichen Emotionen und Gedanken angetrieben wird, und das Lösen von Problemen ist wirklich nur ein Teil davon."

KI und Klima – Fortschritt in den Grenzen des Planeten

Im Übrigen sei es auffällig, dass die Entwickler künstlicher Intelligenz in ihren Zukunftsentwürfen drängende Probleme der Gegenwart weitgehend ausblenden, bemerkt Richard David Precht. Die Visionäre des Silicon Valley verfolgten ambitionierte Pläne zur "Optimierung des Menschen, ohne das gesamte ökologische Desaster, auf das wir im Eiltempo zumarschieren, überhaupt zu reflektieren." Die Klimaerwärmung spiele in ihren Szenarien ebenso wenig eine Rolle wie Hunger oder Kriege.
Deswegen fehlten in vielen Konzepten für Innovation die Kosten der "Exnovation", so Precht: "Was bedeutet es, das, was ehemals innovativ war, wieder aus der Welt zu schaffen? Ein Smartphone, das nach vier Jahren weggeschmissen wird, zum Beispiel." Der meiste Elektroschrott, der in Deutschland eingesammelt werde, lande nach wie vor auf einer der am schlimmsten verseuchten Mülldeponien der Welt in Ghana.
Allmählich fingen Unternehmen zwar an, umzusteuern – zum Beispiel durch Recycling. Manche setzten auch auf das grüne Potenzial künstlicher Intelligenz, etwa um Maschinenparks energiesparender zu organisieren. Aber das werde im Augenblick "eher als Randthema behandelt", sagt Richard David Precht, "es steht nicht im Zentrum der KI-Entwicklung." Und er fügt hinzu: "Mir reicht das Tempo bei Weitem nicht."
(fka)

Richard David Precht: "Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens"
Goldmann Verlag, München 2020
256 Seiten, 20 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

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