Rettungsanker Geisenhausen

16.07.2013
Mit "Am Rande der Welt" nimmt der Germanist Roland Berbig eine prägende Phase in Günter Eichs Biografie unter die Lupe. Von 1944 bis 1954 lebte der Lyriker und Hörspielautor bei der Familie Schmid im niederbayerischen Geisenhausen - in einer Kammer unter dem Dach.
Günter Eich ist wohl der einflussreichste und charakteristischste Autor der 50er-Jahre. Er hat mit seinem Hörspiel "Träume" 1951 diese Gattung geradezu revolutioniert – die entsetzten Hörerreaktionen damals wiesen eindeutig darauf hin, wie genau Eich hier den wunden Punkt getroffen hatte, die Verdrängung der Nachkriegsdeutschen. Bald darauf sprach man bereits vom "Eich-Maß" für das Hörspiel, das den unumstrittenen Bezugspunkt darstellte.

Genauso wie mit seinen ersten, berühmten Hörspielen verstörte Eich aber auch durch seine Gedichte. Als die "Frankfurter Allgemeine" 1954 Eichs Gedicht "Nachhut" druckte, musste sie bald darauf eine ganze Seite für die erbosten Leser freiräumen. Eich steht als einer von wenigen Schriftstellern der frühen 50er-Jahre für das Bestreben, die Zeit des Nationalsozialismus und die immer noch aktuellen Verstrickungen darin bewusst zu machen.

Der Germanist Roland Berbig, Professor an der Berliner Humboldt-Universtität, hat nun diesen entscheidenden Abschnitt in Eichs Biografie genauer unter die Lupe genommen. Und kann erstmals die genauen Hintergrundbedingungen für die Arbeiten des Autors in diesem Zeitraum benennen. Eich lebte von 1944 bis 1954 bei der Familie Schmid im niederbayrischen Geisenhausen, und das ist das Thema von Berbigs Monografie. Als 37-jähriger Unteroffizier wurde Eich während des Kriegs zufällig dort einquartiert, und nach der Gefangenschaft in zwei Lagern am Rhein klopfte er, mehr oder weniger ohne Alternative, 1945 dort wieder an und bat um Unterkunft.

Zeit voller Schwierigkeiten
Er stammte aus Lebus an der Oder, hatte seinen festen Wohnsitz zuletzt in seinem Landhäuschen in Poberow, das mittlerweile im polnischen Gebiet lag, und seine Wohnung in Berlin war ausgebombt. Die katholische, in seinem selbstverständlichen Sinn gläubige Familie Schmid bildete da mit ihrer Dachkammer fast so etwas wie einen Rettungsanker. Eichs morphiumsüchtige Frau Else kam kurze Zeit später aus Berlin ebenfalls nach Geisenhofen, und das ist einer der prekären biografischen Punkte bei Eich, die Roland Berbig erstmals detailliert zeigt.

Im Jahr 1949 ließ Eich seine Frau für ein halbes Jahr bei der sie betreuenden Familie Schmid zurück und floh vor der ihn bedrängenden Situation zu einem Freund in Unterfranken. Er betrieb die Scheidung und kehrte, nachdem Else woanders untergebracht war, wieder nach Geisenhausen zurück. Es war für ihn eine Zeit voller finanzieller Schwierigkeiten und körperlicher wie geistiger Probleme. Berbig zeigt ausführlich, wie Eich versuchte, im sich neu konstituierenden Literaturbetrieb Fuß zu fassen. Wie er sich zunächst erfolglos an Filmskripten versuchte und erst allmählich wieder das Hörspiel als finanzielle Möglichkeit entdeckte – die ersten Jahre nach 1945 begriff er sich ausschließlich als Lyriker und machte sich als solcher in kleineren Kreisen auch schon einen Namen.

Roland Berbig zeigt unaufdringlich, dass das Aufgehobensein bei der Familie Schmid eine Voraussetzung für Eichs moralisch eindeutige Positionierung war – als einer von wenigen bekannte Eich, den Nationalsozialisten keinen aktiven Widerstand entgegengesetzt zu haben. Und zog umso bewusster die Konsequenzen daraus. Das Buch endet mit dem großen Erfolg als Hörspielautor und einer biografischen Zäsur: der Heirat mit Ilse Aichinger und dem Wegzug aus Geisenhofen.

Besprochen von Helmut Böttiger

Roland Berbig: Am Rande der Welt. Günter Eich in Geisenhausen, 1944-1954
Wallstein Verlag, Göttingen 2013
536 Seiten, 34,90 Euro
Mehr zum Thema