Rettet die Trennschärfe!

17.10.2012
Grenzen haben ein schlechtes Image. Dabei gibt es ohne Differenz kein Miteinander: Wer als Mensch wissen will, wer er ist, muss verstehen, wie er sich von anderen unterscheidet. In "Lob der Grenze" hält der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann ein Plädoyer auf die Kraft der Unterschiede.
"Grenzen zu ziehen gilt als unfein. Das Projekt der EU lebt in hohem Maße vom Pathos der fallenden Grenzen", schreibt der Wiener Philosophie-Professor Konrad Paul Liessmann. Stimmt, dachte ich, und las sein Buch in Sorge, unter der Oberfläche schöngeistiger Salonphilosophie könnten Nationalismus, alte Ständeordnung, Chauvinismus und Abschottung gelobt werden. Weit gefehlt.

Die neoliberale Weltwirtschaft, eine ökonomisierte Wissenschaft, der Zeitgeist und die Populärkultur haben eine "Ekstase der Entgrenzungen" entfesselt, beklagt Konrad Paul Liessmann und ruft dazwischen: Grenzen markieren doch auch Rechtsräume! Die Menschenrechte begrenzen den Zugriff von Staat und Markt auf die Bürger, moralische Schranken schützen die sozial Schwachen vor dem Diktat der Starken und bewahren den Embryo und den Sterbenden vor Begehrlichkeiten der Forschung, historische Grenzen bedingen familiäre Zugehörigkeit und kulturelle Identität.

Manche dieser Grenzen sind weder juristisch definierbar noch leicht zu erkennen - umso mehr braucht es einen gemeinsamen Konsens, sie sensibel einzuhalten.

A propos gemeinsam: Eine Gemeinschaft ist nicht dasselbe wie eine Gesellschaft, Werte sind nicht dasselbe wie Würde, Normen etwas anderes als Gebote. "Rettet die Trennschärfe!", könnte der Untertitel dieses Buches lauten.

Präzises Unterscheiden bedeutet keineswegs begrenztes Denken. Das belegt Liessmann in den ersten vier Kapiteln arg grundsätzlich theoretisch mit Spinoza, Kant, Hegel und Hobbes. Die Themen: Sein und Nichts, Anfang und Ende, Du und Ich, Dort und Hier. Trockene Kost selbst für willige Leser.

Zugänglicher und nachvollziehbarer, streckenweise sogar mit verschmitztem Humor, zeigt der Autor ab Seite 74, wie der territorial weitgehend entgrenzte Staat ganz neu Grenzen ziehen muss zwischen Freiheit und Sicherheit etwa im Internet, wie Extremsportler Grenzen ja gerade dadurch anerkennen, dass sie "an die Grenze gehen" und diese verschieben wollen, wie eine vermeintlich grenzenlose Konsumgesellschaft die "Grenzen des Erträglichen" durch immer neue Grenzwerte festgestellt haben will, dass man "am Stadtrand" wohnen möchte, obwohl keine Ränder mehr ersichtlich sind und "Urbanisierung" ja noch keine "Urbanität" garantiert. Die nämlich war mal das Synonym für Bildung, Kultiviertheit und Eleganz.

Konrad Paul Liessmann hat Vorträge und Aufsätze der letzten zwölf Jahre aktualisiert und zusammengefasst zu einer luziden Streitschrift gegen die Schwammigkeit. Im Denken, im politischen und wirtschaftlichen Handeln, in Kultur und Gesellschaft. Nein, er will keine alten Schlagbäume herunterlassen oder Zäune errichten, aber: "Hin und wieder kann es humaner sein, eine Grenze zu respektieren und über sie hinweg dem anderen die Hand zu reichen, anstatt die Grenze niederzureißen, um sich den anderen einzuverleiben."
Recht hat er.

Besprochen von Andreas Malessa

Konrad Paul Liessmann: Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft
Paul Zsolnay Verlag Wien 2012
207 Seiten, 18,90 Euro


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