Retter im hugenottischen Geist

Hanna Schott im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 03.09.2011
Kaum einer kennt André Trocmé und seine Ehefrau Magda. Sie retteten im von deutschen Truppen besetzten Frankreich mehr als 3500 Menschen vor dem Tod. Buchautorin Hanna Schott erklärt, wie sie auf diese Geschichte gestoßen ist.
Anne Françoise Weber: Wir haben es bereits gehört: Die Protestanten spielen in der französischen Geschichte immer wieder eine wichtige Rolle. Ein Beispiel aus neuerer Zeit sind der Pfarrer André Trocmé und seine Ehefrau Magda. Zusammen mit ihren Gemeindegliedern haben sie während der Nazizeit im kleinen Dorf Le Chambon-sur-Lignon im französischen Zentralmassiv mindestens 3500 Menschen versteckt und ihnen so das Leben gerettet. Die Autorin Hanna Schott hat nun eine Biografie der beiden geschrieben unter dem Titel: "Von Liebe und Widerstand". Vor der Sendung habe ich mit Hanna Schott gesprochen und sie gefragt, wie sie überhaupt auf Magda und André Trocmé gestoßen ist. Die beiden werden zwar ebenso wie ihr ganzes Dorf im Holocaustmuseum in Yad Vashem in Israel als Gerechte der Völker geehrt, aber in Deutschland sind sie doch sehr unbekannt.

Hanna Schott: Ich hatte die Namen auch noch nie gehört, bis ich eines Tages einen Anruf bekam von einem Verleger, eben diesem David Neufeld, bei dem ich das Buch dann auch gemacht habe, und der fragte mich, ob ich genug Französisch könne und auch bereit wäre zu reisen. Er hätte sehr gerne in seinem Programm eine Biografie von André Trocmé, und er hat mir dann ein bisschen was erzählt. Dass er diesen Namen kannte, liegt daran, dass er von einem mennonitischen Hintergrund kommt, deshalb Pazifist ist und das Interesse hatte, dass mal eine richtige Pazifisten-Biografie in seinem Verlag erscheint. Und über diese Verbindung bin ich überhaupt erst an den Namen gekommen, und dann habe ich mich da rein gelesen und festgestellt, dass nicht nur der André Trocmé eine sehr interessante Biografie hat, sondern auch seine Frau, und deshalb ist es jetzt eine Doppelbiografie.

Weber: Der Pazifismus ist ja wirklich eine interessante Sache, und interessant ist daran auch, dass selbst innerhalb der protestantischen Kirche in Frankreich André Trocmé da auf ganz viel Widerstand gestoßen ist und selbst nach dem Zweiten Weltkrieg noch im Grunde als schwer vermittelbar galt, oder?

Schott: Ja, auf jeden Fall! Und das ist bis heute ein bisschen heikel so in der Geschichte der französischen evangelischen Kirche, was vielleicht auch erklärt, dass es da gar nicht so viel Literatur gibt, denn wir denken immer, klar, in Deutschland war das so verbunden. Auf den Gürteln der Soldaten im Ersten Weltkrieg stand "Gott mit uns", und bei den anderen wäre das anders gewesen. Es war aber nicht so anders, auch die Franzosen glaubten natürlich, Gott wäre auf ihrer Seite, und hatten auch dieses Verständnis: Der Franzose muss sein Land verteidigen, auch gegen die Deutschen. Und das galt für die Protestanten genauso wie für alle anderen auch, wie für die Katholiken auch. Und die protestantische Kirche hatte nach dem Ersten Weltkrieg große Schwierigkeiten, jemanden anzustellen, der nicht gedient hatte im Krieg oder wenigstens nicht dafür war und sich auf die Seite der Franzosen gestellt hatte. Der André Trocmé war ja aus mehreren Gründen zwischen allen Stühlen, weil er eine deutsche Mutter hatte und einen französischen Vater – interessanterweise waren beide Eltern aus hugenottischer Familie. Seine Verwandtschaft war zu Teilen auf der deutschen Seite im Ersten Weltkrieg, auch wirklich als Soldaten, zu Teilen auf der französischen Seite, und er ist in diesem ganzen Zwiespalt groß geworden und zum Pazifisten geworden.

Weber: Sie haben schon gesagt, er kam aus einer Hugenottenfamilie. Sein Vater war ein ziemlich strenger Pfarrer, hat man so den Eindruck, und auch Magda Trocmé kam aus irgendwie ziemlich engstirnigen Verhältnissen, hat man den Eindruck. Ihr Vater war Militär und wenig präsent, von der verstorbenen Mutter durfte man kaum reden – woher haben diese beiden überhaupt diese Weite im Denken bekommen?

Schott: Ja, also, eine Kleinigkeit muss ich richtigstellen: Der Vater von André Trocmé war zwar sehr engagiert in der protestantischen Kirche und hatte da auch einen höheren Posten, aber ehrenamtlich. Er war Unternehmer, er war Industrieller, war in der Textilbranche auch wirklich sehr erfolgreich, und seit mehreren Generationen, aber er war völlig in dieser stark calvinistisch geprägten Frömmigkeit groß geworden, und so sind die Kinder auch erzogen worden, und das habe ich mich auch gefragt: Wie können diese beiden Menschen, die aus so stark auch sehr autoritär geprägten Elternhäusern kamen, diese Freiheit gewinnen, diese geistige Weite? Und deshalb ist der erste Teil, der jeweils die Kindheit beschreibt, auch relativ ausführlich, weil ich mich gefragt habe: Woher kommt es und woher können solche Menschen auch so mutig werden? Die Hintergründe auf beiden Seiten waren ja jetzt nicht kleinbürgerlich oder kleinkariert oder kleingeistig, aber es war auf beiden Seiten klar: Es gibt nur eine Art, sich zu entwickeln, man bleibt in der Spur, die in dieser Familie gebahnt ist, und man bricht da auf jeden Fall nicht aus. Man weiß im Prinzip von drei Jahren an, in welche Richtung es gehen muss, auch weltanschaulich, sozusagen. Und ich glaube, beide waren ja in Minderheiten, weil der André Protestant war, und dass er eben in der protestantischen Diaspora aufgewachsen ist, und in dieser sehr edlen, einfach sehr reichen Familie auch weit weg von anderen Kindern erzogen wurde, wirklich nur innerhalb der Familie, sehr lange auch mit Privatlehrern, ohne dass er in eine normale Schule ging, und Magda wurde sowieso als Adelige mit russischer Großmutter auf Französisch erzogen in Florenz – das war sowieso auch eine ganz eigene Welt, die kaum etwas mit dem normalen Florenz zu tun hatte …

Weber: … zumal ihre Familie auch noch Waldenser waren, also auch eine Minderheit, …

Schott: Ja, und dann gab es noch eine anglikanische Oma und dann diesen russischen Dekabristen-Großvater… Also da ist schon irgendwie die halbe Weltgeschichte, also die halbe europäische Geschichte, in dieser Familiengeschichte drin zu finden. Man wusste, man ist nicht so wie die normalen Leute, man gehört nicht wirklich dazu, was ihnen vielleicht auch wieder eine gewisse Freiheit gegeben hat. Denn Mainstream kannten sie gar nicht.

Weber: Ihr Buch liest sich stellenweise, als wären sie dabei gewesen. Sie bringen Dialoge, beschreiben Eindrücke und auch Reaktionen der Hauptpersonen zum Beispiel. Gibt es da diesen Satz von André Trocmé, als endlich die Alliierten Truppen nach Chambon-sur-Lignon kommen und alle von Befreiung reden, da sagt er: Frei? Aber frei waren wir doch immer! Ein toller Satz, aber wie viel davon ist historisch und was waren überhaupt ihre Quellen?

Schott: Alles, auch diesen Satz habe ich mir nicht ausgedacht. Es gibt auch so gut wie keine wörtliche Rede, die jetzt meiner Phantasie entsprungen wäre. Beide haben sehr viel aufgeschrieben, beziehungsweise die Magda, die ja sehr alt wurde – die ist erst 1996 gestorben, im Alter vom 95 Jahren –, hat dann als alte Frau auf Tonband gesprochen, und da gibt es ganz viele, allerdings unerschlossene Quellen. Im Archiv des ökumenischen Rats der Kirchen habe ich die Kopien gefunden. Und das kann man lesen. Es ist ein Durcheinander sozusagen von weltgeschichtlich bedeutenden Dingen und ganz privaten, und deshalb wollten auch beide nie, dass da was veröffentlicht wird. Es ist auch unvollendet, es bricht irgendwo ab, und es ist nicht sehr systematisch. Aber es gibt ganz viele Quellen, und die durfte ich einsehen. Außerdem gibt es noch eine Tochter, die noch lebt, und – in Minneapolis in den USA lebt –, und mit der habe ich sehr, sehr viele Mails ausgetauscht.

Weber: Die Rettung von über 3.500 Menschen war ja nicht nur das Werk von Magda und André Trocmé, sondern die haben es eben geschafft, eigentlich die ganze Dorfgemeinschaft und die umliegenden Dörfer da mit einzubeziehen. Warum, meinen Sie, hat das hier funktioniert und nicht anderswo?

Schott: Weil das eine sehr spezielle Situation war, auf diesem Plateau. Das war so ein Rückzugsort gewesen, wirklich schon im 16., 17. Jahrhundert, für verfolgte Hugenotten, die dort auf sehr kargem Boden als Bauern gelebt haben und dann auch einfach dort geblieben sind. Das waren so Bauern, die ihren Glauben und ihre Lebensweise dort oben konserviert haben. Ein bisschen Tourismus gab es da, weil es ein Luftkurort war, auch schon in den 30er-Jahren, aber ansonsten blieb man komplett unter sich und hatte dieses hugenottische Erbe. Man fühlte sich immer noch am Rande der französischen Gesellschaft, und es war einem völlig klar: Wir sind die Kinder von Verfolgten, und vom Staat erwarten wir eigentlich nichts Gutes.

Weber: Trotzdem war das Ganze ja wahnsinnig gefährlich. Die Flüchtlinge wurden ja jetzt auch nicht in Kellern oder Dachböden versteckt, sondern gingen zum Teil ganz offen in die vom Magda und André gegründete Schule, sie lebten zum Teil in einer Pension, in deren Nachbarschaft Wehrmachtssoldaten einquartiert waren. Manche Menschen wurden ja auch abgeholt, auch ein Cousin von André Trocmé, er selbst und der Schuldirektor und ein Pfarrhauskollege wurden für ein paar Monate interniert – aber eine ganz große Razzia scheint es nicht gegeben zu haben. Wie erklären Sie sich das?

Schott: Dadurch, dass man sie immer gewarnt hat. Dort, im Rathaus, müssen mehr als eine Person gesessen haben, die ihnen immer Bescheid gesagt haben. In Le Puy saß die Gestapo, das ist nicht so weit weg, und von dort hatte man den Ort im Auge. Man wusste immer, das ist nicht ganz astrein, was da passiert. Aber sie hatten immer Leute, die ihnen geholfen haben, auch die das ganze Papier, was sie brauchten, die Stempel, um die Pässe zu fälschen – das ist immer irgendwie aufgetaucht. Da gab es einfach Leute, die mit ihnen zusammengearbeitet haben. Und ich glaube, dass sich viele bis heute, soweit sie denn überhaupt noch leben, nicht geoutet haben.

Weber: Als Sie für die Arbeit am Buch dort waren, was war denn da Ihr Eindruck: Ist da immer noch so ein aktives Gemeindeleben? Gibt es immer noch Bibelarbeiten in den Bauernhöfen, oder ist das doch etwas, was sehr überholt ist?

Schott: Ein aktives Gemeindeleben gibt es dort. Dort ist eine große evangelische Kirche, bei der ich auch zum Gottesdienst war. Interessanterweise ist dort jetzt ein deutscher Pfarrer. Und diese Gruppen auf den Bauernhöfen gibt es nicht mehr. Also, heute kann man auch sich ins Auto setzen und in den Ort fahren, aber es ist immer noch ein sehr stark reformiert geprägter Ort. Was einen eher erstaunt, ist, wie wenig diese Geschichte dort präsent ist. Es gibt eine große Gedenktafel gegenüber von der Kirche, die ist von geretteten Juden dort angebracht worden, halb französisch, halb hebräisch – ja, und das war es eigentlich schon, die jetzige Bürgermeisterin würde gerne dort einen Gedenkort schaffen, aber die Dörfler fanden das bis jetzt nicht so wichtig. Das ist vielleicht auch so diese hugenottische Tradition: Man tut das, was notwendig ist, und macht da kein Buhei drum, und was war das schon!

Weber: Vielen Dank, Hanna Schott. Sie sind Autorin des Buches "Von Liebe und Widerstand – Das Leben von Magda und André Trocmé", erschienen im Neufeld Verlag, 240 Seiten, kostet 14,90 Euro.

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