Retrospektive in Locarno

Versteckte Falten des deutschen Kinos

Das 69. Filmfestival Locarno
Das 69. Filmfestival Locarno © picture alliance/dpa/Foto: Alexandra Wey
Von Peter Claus · 11.08.2016
Beim Internationalen Filmfestival in Locarno gehören die Retrospektiven zu den Publikumsmagneten. Die Retro in diesem Jahr steht unter der Schlagzeile "Geliebt und verdrängt". Vorgestellt wird das Kino der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963.
Heimatkitsch, Militärklamotten, Liebesschnulzen. Mehr als diese Schlagworte sind zum west-deutschen Kino der Adenauer-Zeit kaum im öffentlichen Bewusstsein. Und genau das will die Retro in Locarno ändern. Kurator Olaf Möller:
"Dieses ganze Kino ist, zumindest in der Bundesrepublik, so unfassbar, eingemüllt in Klischees."
Wiewohl, klar, die Klischees, die es aufzubrechen gilt, auch bedient werden, jedenfalls dem ersten Eindruck nach. Doch sieht man jetzt beispielsweise "Spukschloss im Spessart" wird nicht nur deutlich, wie subversiv die Komödie den westdeutschen Spießer-Mief jener Jahre anprangert, im Zusammenhang wird auch klar, wie klug Regisseur Kurt Hoffman, wenn auch vorsichtig, einen Aufbruch zu neuen ästhetischen Dimensionen gesucht hat, keine kitschdurchtränkten Star-Postkarten zeigte, sondern eine Bildästhetik angestrebt hat, die der Erzählung dient, sie vorantreibt. Klügster Einfall der Retro: es wird ein Blick von außen ermöglicht.
Olaf Möller "Die größte Außenperspektive ist die Deutsche Demokratische Republik. Was, glaub' ich, überhaupt nicht mehr bewusst ist, ist, wie viele Filme in der DDR über die Bundesrepublik gedreht worden sind. Und dass diese Filme ein unglaubliches Korrektiv zur Bundesrepublik sind. In der DDR wird in vielen Filmen über Dinge gesprochen, über die im BRD-Kino bestenfalls getuschelt werden konnte."
Wiederaufrüstung, reaktionäre geistige Entwicklungen, übersteigertes Profitstreben – das sind entscheidende Themen, die in den Filmen aus dem anderen Teil Deutschlands, natürlich ideologisch aufgeheizt, viel über das Kino der frühen Bundesrepublik und über die geistige Atmosphäre im Land selbst sagen. Vor Festivalbeginn machte in Bezug auf die Retro vor allem ein Schlagwort die Runde: "avantgardistisch". Olaf Möller:
"Es gibt Aspekte des bundesrepublikanischen Kinos der Adenauer-Ära, die genau das sind: avantgardistisch. Das ist nun aber genau das Wort, das man mit dieser Ära nicht verbindet. Das liegt daran, dass man zum Beispiel vergisst, dass der gesamte 'Junge deutsche Film' auch aus dieser Ära erwachsen ist, dass es wahnsinnig viele Überträge aus den 30er-Jahren in dieser Ära gibt, und dass das alles zusammen ein sehr eigenwilliges Gemisch ist."
Das belegen zahlreiche Kurzfilme, überwiegend von Regisseuren, deren Namen heute selbst Fachleute kaum mehr kennen, wie etwa Franz Schömbs. Er beispielsweise hat schon damals gemacht, was heute noch oder wieder en vogue ist: Elemente der bildenden Kunst, Musik, Theater, Film miteinander verwoben. Klarheit der Bilder, Bewusstsein für genaue Spiegelung der Realität, jedes Vermeiden von Traumfabrik-Verklärung – womit diese Filme das vorbereitet haben, was später, ab Mitte der 1960er-Jahre, zum Markenzeichen des sogenannten jungen deutschen Films wurde.

Neubewertung ist durch die Retro möglich

Zu dessen Protagonisten gehört Edgar Reitz, 1962 Mitinitiator des Oberhausener Manifests, weltberühmt geworden als Regisseur des 30-teiligen Spielfilm-Zyklus' "Heimat", in Locarno Präsident der Jury für den Kurfilmwettbewerb:
"Ich bin da sehr überrascht, dass man das, was wir 'Papas Kino' genannt haben, jetzt aus der Mottenkiste heraushält. Zu meinem Erstaunen hab' ich festgestellt: ich kennen überhaupt keinen von diesen Filmen."
Prägende frühe Filmerfahrungen kamen für Reitz nicht aus Deutschland:
"Ich habe eigentlich Erinnerungen nur an italienische Filme der Nachkriegszeit, also so Filme wie 'Fahrraddiebe", also von de Sica, von Rossellini, von Visconti, und wie sie alle hießen, diese Neorealisten aus Italien. – Die Vätergeneration, die hier in der Retro gezeigt wird, haben wir in meiner Generation ausgeblendet. Und da sag' ich mir, so ist das halt bei den Generationen, man ist auch ungerecht."
Eine Neubewertung ist durch die Retro möglich. Die Zeit ist mehr als reif dafür. Viele der damals in Westdeutschland prägenden Persönlichkeiten des Kinos leben nicht mehr oder fühlen sich nicht mehr in der Lage, sich dem öffentlichen Gespräch zu stellen.
Mario Adorf, jetzt 85, ist gekommen – er freut sich, dass das Verdikt des jungen deutschen Films über Papas Kino relativiert wird:
"Sie haben es zumindest totgeschwiegen, als ob es nicht existiert hätte. Und das fand ich schade. Denn in dieser Zeit sind doch immerhin ganz große Filme entstanden, es gab ja sehr viele andere, die ganzen Filme von Staudte, von Pabst, von von Baky. Und dass die wieder hier sozusagen aus dem Vergessen genommen werden, dass sie zumindest wieder bewusst noch mal werden, und das fand ich schon eine ganz tolle Idee."
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