Respektvolle Spurensuche

26.02.2009
Johanna Adorján sucht die Bruchstücke der Geschichte ihrer Großeltern zusammen, und montiert so ihre eigene Familien- und Identitätsgeschichte. Beide nahmen sich im Oktober 1991 gemeinsam das Leben, nachdem sie vorher die Wirren des Jahrhunderts gemeinsam durchlitten hatten: das KZ Mauthausen, den gescheiterten Volksaufstand in Budapest 1956 sowie die Flucht nach Dänemark.
Vermutlich ist es nicht allzu politisch korrekt, auf das Ärgernis hinzuweisen, doch gibt es seit Jahren eine Art Literatur, die in schwerfälliger Larmoyanz verfasst und anschließend von den Verlagen mit routiniertem Pathos angepriesen wird: Die Rede ist von jener Enkel-Prosa, in welcher auf Dachböden oder in verborgenen Familienalben mit großem, Erschrecken mimenden Getöse entdeckt wird, dass entweder die Oma eine so genannte Halbjüdin oder der Opa ein Vollnazi gewesen war.

Eine Leichenfledderei zum Distinktionsgewinn der Nachgeborenen ist dies, ein Sich-Wichtigmachen, um die Flauheit zeitgenössischer bundesdeutscher (Nicht-)Biographien mit einer Art Mantel der Geschichte zu verhüllen. Freilich muss man diese schwerblütigen Anmaßungen nicht unbedingt kennen, um Freude und Schmerz zu empfinden bei der Lektüre eines tatsächlichen Ausnahme-Buchs: Johanna Adorjáns "Eine exklusive Liebe".

Die 1971 geborene Kulturpublizistin erzählt darin die Geschichte ihrer Großeltern, ungarischer Juden, die den Holocaust überlebten, nach der sowjetischen Invasion 1956 aus Budapest flohen und sich im Oktober 1991 beide in Kopenhagen das Leben nahmen. Weshalb? Vielleicht wegen Adolf Hitler oder um der Enkelin eine spannende, zwischen Schuldgefühl und Faszination changierende Familiengestimmtheit zu vererben?

Nichts von derlei obszönen Banalitäten in diesem Buch. Stattdessen könnte man sagen: Eine Liebe auf Gegenseitigkeit. Denn so wie mit dieser nicht einmal 200 Seiten umfassenden Geschichte Samuel Adler alias Sándor Adorjan und seine Frau ins Leben zurückgeholt werden und von nun ab im Gedächtnis der Leser bleiben, so hatten sie zu Lebzeiten ihrer Enkelin ein beinahe ebenso großartiges Geschenk gemacht. Das KZ Mauthausen und die Todesmärsche überlebt, in Verstecken ausgeharrt, nach dem Krieg dann als Kommunisten beizeiten die Nachtseite der Utopie entdeckt und in Dänemark als Flüchtlinge erneut bei Null begonnen - aber immer Charme, immer Würde, immer jenes aristokratisches Beiseitewedeln des Niedrigen, von dem nun sogar noch die übernächste Generation zehren kann.

"Auftritt meine Großeltern aus Kopenhagen. Aus einer Wolke aus Parfum und Zigarettenrauch tritt ein elegantes Paar hervor, das aussieht, als hätte es eben den Oldtimer um die Ecke geparkt. Sie haben die tiefsten Stimmen, die man je gehört hat, ihr Deutsch hat einen fremdländischen Akzent, und sie sprechen mit mir, als wäre ich eine kleine Erwachsene. Magst du Ballett, interessierst du dich für Opern, hältst du außerirdisches Leben für vorstellbar. Meiner Großmutter wäre es im Traum nicht eingefallen, mit uns Enkeln auf Knien durchs Kinderzimmer zu rutschen, um nach einer verlorenen gegangenen Playmobil-Kappe zu suchen. Dafür ging sie mit uns in die Oper. Und mein Großvater ließ mich, als ich fünf Jahre alt war, an seiner Zigarre ziehen - als ich daraufhin schrecklich husten musste, erschrak er sich ganz fürchterlich und kaufte mir ganz schnell ein Eis. Sie kamen mir vor wie Filmstars ..."

Dass sie später gemeinsam aus dem Leben schieden, hatte also gewiss nichts mit einem massenmörderischen Hanswurst namens Hitler zu tun, sondern mit der Hinfälligkeit des Alters und der schieren Unmöglichkeit, der eine könnte weiterleben ohne den anderen. Eine große Liebe - voller Wehmut, aber ohne Wehleidigkeit.

Johanna Adorján schreibt von ihrer Spurensuche in Mauthausen (wo ein Guide in penetrantem österreichisch die Geschichte des Lagers herunterleiert), in Budapest und Paris, wo inzwischen steinalt gewordene Freundinnen der Großmutter noch leben, sich erinnern und wohl auch manches verschweigen. Obwohl mitunter die etwas forcierte Lakonie der Beobachtung irritiert - sichtbare Mitgift des Feuilletons der "Frankfurter Sonntagszeitung", für die sie schreibt - folgt man ihrer Erzählstimme, die weder raunt noch orakelt, wie einer guten Freundin bei einem Spaziergang in unbekanntes Gelände.

"Mein Vater ist jüdischer Herkunft, meine Mutter nicht. Was heißt das für mich? Was heißt es, alles Mögliche nur halb zu sein?"

Diese auf sich und die Umwelt beinahe ironische Neugier schließt freilich Emphase nicht aus. Auf einem Flug nach Tel Aviv hört sie ein geradezu babylonisches Stimmengewirr, die altvertraute Lust an Diskussion und selbstkritischer Reflexion:

"Das Gefühl ließ mich auch nach der Landung nicht los und sollte mich die nächsten Tage begleiten. Mitten in dem wahrscheinlich unsichersten Land der Welt fühlte ich mich auf eine merkwürdige Art sicher. Ruhig. Viel ruhiger als sonst."

Geborgenheit ohne Kitsch, ohne Tremolo, denn nie schiebt sich die kommentierende, verwunderte Erzählerin vor die eigentlichen Helden ihrer Geschichte. Jenseits koketter "Ich stelle mir vor"-Preziosen lässt sie jenen 13. Oktober 1991 vom frühen Morgen bis zum Abend noch einmal Wirklichkeit werden, Wirklichkeit skrupulöser Imagination der letzten Stunden ihrer geliebten Großeltern. Und kein falscher Ton, nirgends. Philemon und Baucis wurden nach ihrem gemeinsamen Tod zu zwei Bäumen, Johanna Adorjáns Großeltern sind dagegen von nun ab ein unvergessliches Buch.

Rezensiert von Marko Martin

Johanna Adorjan: Eine exklusive Liebe
Luchterhand Verlag, München 2009
185 Seiten. 18,20 Euro
Mehr zum Thema