Reporterin interviewt IS-Strategen

"Es gibt keine Garantie, lebend zurückzukommen"

Die Reporterin Souad Mekhennet im Gespräch mit Christian Rabhansl
Die Reporterin Souad Mekhennet im Gespräch mit Christian Rabhansl © Deutschlandradio / Jelina Berzkalns
Souad Mekhennet im Gespräch mit Christian Rabhansl · 14.10.2017
Die Investigativ-Reporterin Souad Mekhennet wagt sich hinter die Fronten des Dschihad und führt rare Interviews mit den Chef-Strategen des IS. Die Reporterin ist überzeugt, dass den Terror nur besiegen kann, wer die Terroristen versteht.
Deutschlandfunk Kultur: Zu Gast ist in Tacheles eine der mutigsten Frauen, die mir je begegnet sind: eine Journalistin, die hinter den Fronten des Dschihad recherchiert. - Souad Mekhennet hat zum Beispiel Jihadi John enttarnt, jenen blutrünstigen Mörder des IS, der vor laufender Kamera Menschen geköpft hat. Sie hat mit Rekrutierern des Terrors im Westen gesprochen, genauso mit Chefstrategen des IS. Und sie hat für die Fragen, um sie stellen zu können, ihr Leben riskiert. Denn das sind Männer, deren politisches Geschäft darin besteht, auch westliche Journalisten zu foltern, zu töten, um daraus ein Propagandavideo zu drehen. Jetzt zu Gast in Tacheles, herzlich willkommen, Frau Mekhennet.
Souad Mekhennet: Vielen Dank.

Nur ein Block und ein Kugelschreiber waren erlaubt

Deutschlandfunk Kultur: Ihr Buch trägt den Titel "Nur wenn du alleine kommst". Das macht schon deutlich, wie diese Interviews ablaufen. Sie dürfen keine Begleitung mitbringen, kein Telefon, keine Ausweispapiere, kein Aufnahmegerät, nur einen Block und einen Kugelschreiber. Alles andere müssen Sie zurücklassen, um dann im Nichts, in einem Fall zum Beispiel irgendwo zwischen Syrien und der Türkei, einen IS-Kommandeur zu interviewen.
Wie machen Sie das: Ihr Leben einem Menschen anvertrauen, dem nicht zu trauen ist?
Souad Mekhennet: Zunächst einmal vertraue ich keinem mein Leben an, weil ich natürlich weiß, dass es am Ende keine Garantien gibt. Es gibt natürlich Verhandlungen. Diese Zusammenkünfte brauchen Zeit, also die Vorbereitung dafür. Die stellten ihre Bedingungen: Die Bedingungen waren, dass ich alleine kommen sollte und keine Ausweisdokumente und keine Aufnahmegeräte, kein Telefon dabei haben sollte. Und ich stellte meine Bedingung, nämlich: Ich möchte mit jemandem reden, der was zu sagen hat. Und ich möchte auch jede Frage stellen dürfen, die ich stellen möchte.
Am Ende wissen Sie natürlich, wenn Sie zu so jemandem ins Auto steigen, gibt es keine Garantie, dass Sie dann auch wieder lebend zurückkommen.
Foto aus einem Propagandavideo der IS-Miliz zeigt voll verschleierte Frauen mit Gewehren, die angeblich in der syrischen Stadt Al-Rakka operieren (undatiert). 
Foto aus einem Propagandavideo der IS-Miliz zeigt voll verschleierte Frauen mit Gewehren, die angeblich in der syrischen Stadt Al-Rakka operieren (undatiert). © picture alliance / Syriadeeply.org
Deutschlandfunk Kultur: Keinerlei Sicherheiten?
Souad Mekhennet: Es gibt keinerlei Sicherheit.
Es kam zu einer Diskussion. Es war ein Kommandeur, bei dem sich herausstellte, dass der eine ähnliche Abstammung hatte wie ich auch. Er ist in Europa aufgewachsen und erzählte mir dann erstmal, wie er versucht hatte, sich in die europäische Gesellschaft, also in dem Land, in dem er groß wurde, einzugliedern, aber nie akzeptiert wurde. Und ich stellte fest, dass er mir etwas erzählte, was ich von vielen gehört hatte, die aus Europa sich Richtung IS oder auch Al-Kaida aufgemacht haben, nämlich diese Rolle, ein Opfer zu sein. Und aus dieser Sichtweise heraus dachte er, dass er sich im Prinzip nur verteidigen würde.
Da ich aber ähnliche Dinge erlebt habe, als ich in Deutschland aufwuchs, kam es zu einer Diskussion – bis zu dem Punkt, als er sich an die rechte Hosentasche griff, wo seine Waffe war. Dann wusste ich, jetzt musst du irgendwie vorsichtiger sein. Das geht nicht.

Eine ziemlich unverhohlene Vergewaltigungsdrohung

Deutschlandfunk Kultur: Das klingt sehr ruhig und sehr entspannt, wie Sie das jetzt erzählen, was mich sehr erstaunt. Denn dieses Buch erstreckt sich ja über viele, viele Jahre, und über viele, viele Recherchen, und was Sie dabei erlebt haben. Das war einmal dieses Interview. Dann waren Sie in Ägypten in einem Geheimgefängnis des Geheimdienstes. Sie erlebten Situationen, dass ein Terrorist, den Sie gemeinsam mit einem Kollegen interviewten, plötzlich grinsend sagte: Na ja, wir könnten Ihren Kollegen jetzt ja auch köpfen.
Es gab die Situation, dass Ihnen gesagt wurde: Wissen Sie, so gut aussehende Frauen verhören wir hier selten, was eine ziemlich unverhohlene Vergewaltigungsdrohung ist.
Souad Mekhennet: Im Gefängnis war das, ja.
Deutschlandfunk Kultur: Wie gehen Sie in diesem Augenblick damit um? Wie bereiten Sie sich mental darauf vor, gleich womöglich vergewaltigt zu werden?
Souad Mekhennet: Also, jetzt nehmen wir mal die Situation in diesem ägyptischen Gefängnis. Ich habe ein paar Wochen, bevor es zu dieser Situation kam, ein Training absolviert, von dem ich eigentlich nie gedacht hätte, dass ich es brauchen würde – bei der deutschen Bundeswehr, für Journalisten, die in Krisengebieten sind. Dort sagte uns ein Psychologe, dass es in der Tat mal irgendwann mal zu Vergewaltigungen kommen könnte und dass es wichtig sei, dass man sich selbst erstmal zuredet, einredet, diese Leute nicht an sich heranzulassen, auch wenn man eventuell vergewaltigt werden würde.

"Sie dürfen mich nicht brechen"

Deutschlandfunk Kultur: Hilft so ein Training?
Souad Mekhennet: In dem Augenblick, als mir diese Männer sagten, wir müssen Ihre Augen verbinden, wir müssen sie abführen, und ich hörte im Hintergrund die Schreie einer Frau, bat ich darum, noch einmal die Toilette aufsuchen zu dürfen und stand vor einem Spiegel und schaute in diesen Spiegel hinein und sagte die ganze Zeit: Egal, was jetzt passiert, sie dürfen dich nicht brechen. Das ist dein Körper. Es wird nicht deine Seele sein.
Ich bin davon ausgegangen, ich werde jetzt im nächsten Augenblick vergewaltigt werden, und habe versucht, mir das mental immer einzureden. Und auch, als sie mich dann abführten in diesen Raum hinein, wo ich diese Frau nochmal direkt im Raum schreien hörte, war jemand hinter mir, sehr nah an mir, und hauchte mir ins Ohr die ganze Zeit. Und ich hatte links und rechts Leute, Männer, die mich festhielten und abführten.
Also, mir ist schon klar gewesen, dass ich jetzt keine Schwäche zeigen darf. Denn das war das, was sie wollten. Sie wollten, dass wir zusammenbrechen. Mir hat es geholfen. Allerdings, und das sage ich auch ganz ehrlich: Natürlich, wenn Sie solche Situationen erleben, werden Sie mit dem Erlebten auch erstmal umgehen müssen. Sie haben in der Situation erstmal einen Überlebenswillen und einen Willen, sich nicht brechen zu lassen. Aber das holt Sie natürlich irgendwann auch wieder ein. Das muss man verarbeiten. Und das habe ich auch getan.
Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat, angeblich in Mossul aufgenommen
Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat, angeblich in Mossul aufgenommen© afp
Deutschlandfunk Kultur: Sie beweisen nicht nur Mut in Ihren Recherchesituationen, sondern sie beweisen auch Mut, wenn es darum geht, diese Dinge zu veröffentlichen. Ich habe vorhin schon gesagt, Sie haben mitgeholfen, Jihadi John zu enttarnen als einen britischen Staatsbürger. Diese Frage diskutieren Sie dann auch mit sich selber in dem Buch: Veröffentliche ich das unter meinem eigenen Namen, ich als muslimische Journalistin, obwohl der ganze IS mich kennt?
Sie haben sich dafür entschieden, das unter Ihrem Namen zu tun. Warum?
Souad Mekhennet: Also, es gab verschiedene Gründe. Das eine ist: Sie kriegen ja auch hier in Europa mit, welche Diskussionen wir führen, wenn es um die Frage geht: Warum kommt es zu Radikalisierung? Wie kann das passieren? Und da gibt es sehr oft sehr schnelle und einseitige Schuldzuweisungen. Es gibt bei einigen diese Denkweise, der Islam ist das Problem.

Ein Zeichen für die, die glauben, jeder Muslim sei für den IS

Ich habe diese Arbeit, die ich seit Jahren mache, auch diese Themen, wenn ich in der Tat mein Leben teilweise riskiere, um Dinge aufzudecken, aus dem Grund getan, weil ich auf der einen Seite finde, es ist wichtig für den Leser oder für den Zuhörer und Zuschauer, einen Einblick zu bekommen in die Realität, mit der wir es zu tun haben: wie diese Leute denken und warum sie so denken wie sie denken, damit es Lösungsvorschläge gibt.
Auf der anderen Seite aber, und das war in dem Fall von Jihadi John so, denke ich auch, es ist wichtig, auch den Leuten, die nicht muslimischer oder muslimischer Abstammung sind, ein Zeichen zu geben und zu sagen: Hier gibt es Leute, die Muslime sind und die bereit sind, mit denen umzugehen, die im Namen der eigenen Religion diese Morde verüben, und auch unter Einsatz ihres Lebens diese Dinge aufdecken. Also, es war auch nochmal ein Zeichen an jene Leute, die glauben, jeder Moslem sei auf Seiten von diesen IS-Angehörigen.
Deutschlandfunk Kultur: Die große Überraschung ist ja, wenn Sie dann mit solchen IS-Strategen reden, dass die überhaupt nicht über Religion sprechen.
Souad Mekhennet: Nein.

Von Religion redeten die IS-Strategen nicht

Deutschlandfunk Kultur: Sondern?
Souad Mekhennet: Die sprechen tatsächlich in erster Linie über Außenpolitik. Egal, ob es Leute waren, die sich in Europa oder im Nahen Osten oder in Pakistan oder Nordafrika radikalisiert haben, als erstes höre ich Dinge wie: Es gibt Doppelstandards im Umgang mit Muslimen. Ich gebe jetzt das wieder, was mir diese Leute sagen. Es gibt ein Narrativ, das in eine bestimmte Richtung geht, nämlich die Richtung, dass es einen Krieg gebe gegen den Islam. Da werden Dinge aufgezählt, wie zum Beispiel die Veröffentlichung der sogenannten Mohammed-Karikaturen in der Zeitung in Jyllands-Posten in Dänemark.
Wir hatten hier die Diskussion in Europa: Das gehört zur Meinungsfreiheit, zur Pressefreiheit. Ich bin jemand, mir ist Pressefreiheit sehr wichtig. Ich bin auch jemand, der sagt, egal, was veröffentlicht wird, niemand darf mit dem Tode bedroht werden. Man muss darüber reden können.
Jetzt gibt es aber in dem Fall von Jyllands-Posten eine interessante Geschichte, die viele Leute nicht kennen, die aber diese Männer und Frauen kennen, die sich irgendwann auch radikalisiert haben, nämlich dass die gleiche Zeitung, die diese Mohamed-Karikaturen unter dem Vorwand abgedruckt hat, es sei ein Zeichen der Pressefreiheit, sich zuvor geweigert hatte, Jesus-Karikaturen abzudrucken mit der Begründung, das würde die Gefühle der Leser verletzten.
Eine Frau in Hebron trägt ihr Kind und ihre Einkäufe über eine dänische Fahne.
Viele Länder verhängten nach der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung einen Warenboykott gegen Dänemark. Dieser Laden in Hebron im Westjordanland benutzte die dänische Fahne 2006 als Fußabtreter.© picture alliance / dpa / Bed Al Hafiz Hashlamoun
Dann haben wir alle als Gesellschaft natürlich das Problem, dass diese Leute sagen: Moment mal! Bei den Mohammed-Karikaturen sagt ihr, das ist Meinungsfreiheit und Pressefreiheit, aber gleichzeitig wollten die die Jesus-Karikaturen nicht drucken. Und ihr denkt alle, das seien keine Doppelstandards.
Oder als Nächstes: der Irakkrieg 2003, der unter dem Vorwand stattfand, es gebe Massenvernichtungswaffen im Irak. Wir wissen heute alle, es gab sie nicht. Welche Konsequenzen gab es dafür? Und welche Konsequenzen gab es für die Geheimgefängnisse? Diese Dinge werden uns vorgeworfen als Doppelstandards.

Große Angst in den 1990ern

Deutschlandfunk Kultur: Ich finde es ganz toll, wie Sie in Ihrem Buch diese politischen Fragen mit Ihren biographischen Fragen verknüpfen. Deswegen springe ich jetzt kurz zu Ihrer Familiengeschichte, die wirklich ganz, ganz faszinierend ist, weil Ihre Mutter aus der Türkei stammt, Ihr Vater aus Marokko. In Ihren Eltern vereinen sich Sunniten und Schiiten; da klappt das Zusammenleben. Sie hatten jüdische Nachbarn. Sie sind hier in Frankfurt geboren, dann als kleines Mädchen zu Ihrer Großmutter nach Marokko gekommen, dann schon als relativ kleines Kind wieder zurückgekommen. Sie haben also unglaublich viel Verschiedenes kennengelernt und sie haben auch die Deutschen verdammt gut kennengelernt.
Sie haben nämlich Anfang der 90er erlebt, wie 1991 in Hoyerswerda Übergriffe stattgefunden haben, 1993 dann Mölln, Solingen. Häuser brannten, Menschen wurden umgebracht. Anwohner haben applaudiert. Und die Bundespolitik reagierte, indem sie das Asylrecht massiv eingeschränkt hat. Und die Medien schrieben von "Asylantenflut". – Wie haben Sie diese Zeit als Teenager erlebt?
Souad Mekhennet: Ich hatte sehr viel Angst in der Zeit. Ich hatte das Gefühl, dass wir nicht mehr willkommen waren, dass wir irgendwann tatsächlich genauso wie unsere jüdischen Nachbarn – die im Haus unten wohnten und Holocaust-Überlebende waren und die diese Nummern noch eintätowiert hatten –, dass wir irgendwann in der Tat in Deutschland wieder eine solche Zeit erleben würden, in der aber Juden und Muslime gemeinsam in Camps gesteckt werden. Also, das war die Angst, die ich als Teenager hatte, mit der ich auch deshalb umgehen musste, weil ich irgendwann erlebt habe, wie ein Auto voller Skinheads und Neonazis hinter mir und meinem Bruder herfuhr und sie uns zuschrien, wir werden euch umbringen, haut ab, und solche Dinge.

"Ich habe zweimal im Krippenspiel die Maria gespielt"

Deutschlandfunk Kultur: Sie sind von Neonazis mit Ihrem Bruder über die Straße gehetzt worden. Und im Buch fragen Sie sich dann: Was, wenn mich damals ein Rekrutierer des Dschihad angesprochen hätte?
Souad Mekhennet: Ja. Ich sage natürlich auch dazu, dass ich in einem Familiengeflecht aufgewachsen bin, das haben Sie ja angesprochen, in dem meine Eltern und auch unser Umfeld immer sehr darauf geachtet haben, dass wir ein Teil der Gesellschaft sind. Ich war auch im christlichen Kindergarten. Ich habe zweimal im Krippenspiel die Maria gespielt. Wir hatten einen Weihnachtsbaum. Ich komme aus einer Familie, in der unsere Eltern und meine Großmutter uns erklärt haben, dass es viele Propheten gibt in allen Religionen, und sie haben die Gemeinsamkeiten erklärt, die wir als Menschen haben.
Nur, und das erzähle ich sehr deutlich und auch ehrlich: Wenn Sie in einer Situation sind, in der Sie Angst um Ihr Leben haben und das Gefühl haben, Sie werden nicht mehr akzeptiert von der Mehrheitsgesellschaft, dann können zwei Dinge passieren: Das eine ist, dass Sie sich selbst auch abgrenzen. Und dann hat in der Tat ein Rekrutierer, der weiß, wie er Sie ansprechen muss, ein sehr leichtes Spiel, um Sie einzufangen. Indem er sagt: Weißt du was, du wirst ja sowieso nie akzeptiert, nicht von den Deutschen und von den Marokkanern auch nicht. Und du gehörst eigentlich nirgendwo richtig hin. Aber wir geben dir ein neues Zuhause, nämlich in unserer Gemeinschaft.
Das andere, was passieren kann, wie es in meinem Falle gewesen ist: Sie haben Eltern und Sie haben ein Umfeld, das das versteht und sieht und wieder auffängt und Ihnen sagt: Okay, wir verstehen, du hast diese Angst, aber schau mal, hier gibt's zum Beispiel die jüdische Gemeinde, die aufsteht und gegen das, was in Mölln und Solingen passiert ist, sich erhebt. Hier gibt's Menschen, die etwas tun und gegen den Hass kämpfen. Du musst auf die Leute schauen, die irgendwie versuchen noch Brücken zu bauen. Das war in meinem Fall so.
Brennenden Türme des World Trade Centers nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York
Brennenden Türme des World Trade Centers nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York© imago/GranAngular
Deutschlandfunk Kultur: Das hat also den Ausschlag gegeben, dass Sie nicht radikal wurden, sondern eine sehr mutige Journalistin. In Hamburg sind Sie auf die renommierte Henri-Nannen-Schule gegangen, haben dann angefangen auch für den Spiegel zu arbeiten. Das war in der Zeit, als sich in derselben Stadt junge Männer radikalisiert hatten und dann am 11. September 2001 ins World Trade Center geflogen sind.
Aber auch da ging das weiter, dieses Gefühl des Nichtdazugehörens. Der Spiegel hat es damals fertig gebracht, Ihnen Aufträge nicht zu geben, denn – das war wirklich die Begründung, lese ich in Ihrem Buch – "man könnte Sie ja für eine Spionin der Taliban halten".
Souad Mekhennet: Es war nicht "der" Spiegel. Da muss man aufpassen. Es war ein Redakteur. Da muss man auch fair sein. Es gab auch beim Spiegel sehr nette Redakteure und wirklich Leute, von denen ich viel gelernt habe. Aber natürlich, Sie haben manchmal mit einzelnen Personen zu tun, die Ihnen das Gefühl geben, Sie werden auch nicht voll als Journalist akzeptiert. Das ist mir passiert mit einer Person dort, der mir sagte: Gut, wenn es um islamische Buchhandlungen geht oder Moscheen, da schicken wir dich hin, aber zu deutschen Familien, das machen wir lieber nicht, weil, man könnte dich für eine Taliban-Spionin halten.
Aber es ist, wie gesagt, nur eine Person gewesen. Ja, es war schade. Nur wenn wir sehen, wo ich heute gelandet bin, ist das natürlich jetzt auch irgendwie ganz nett.

In den wunden Punkt gepiekst

Deutschlandfunk Kultur: Sie sind bei der Washington Post, eine sehr renommierte Zeitung, mit einer sehr renommierten Journalistin, nämlich Ihnen: Souad Mekhennet. Dort sind Sie angekommen, aber ich habe jetzt diesen langen Bogen geschlagen und komme wieder zu dem Dschihadisten zurück, den Sie interviewt haben. Dieser Chefstratege des IS versucht nämlich, genau in diesen wunden Punkt reinzupieksen.
Der sagt Ihnen: Frau Mekhennet, Sie halten Europa für fair, Deutschland für fair. Warum haben Sie da eigentlich keine eigene Fernsehsendung?
Souad Mekhennet: Ja, da er hat natürlich den wunden Punkt getroffen. Da musste ich auch erstmal überlegen, wie ich darauf antworte. Denn er sagte, ja, wir haben natürlich gesehen, was du alles gemacht hast. Wir haben gesehen, du hast den interviewt und den interviewt. Du hast soundso viele Scoops gehabt. Warum hast du eigentlich nicht deine eigene Sendung dort?
Da wusste ich auch nicht so genau, wie darauf reagieren sollte, bis ich dann sagte: Na ja, aber jetzt nicht bei der Washington Post, und das ist ja auch ganz toll.
Ja, ich habe Dinge in Deutschland erlebt, die weh getan haben. Ja, ich habe Dinge erlebt, wo ich lange gebraucht habe, um zu verstehen, warum ich sie erleben musste. Allerdings habe ich auch mit Leuten zu tun gehabt, die mich ermutigt haben, meinen Weg weiter zu gehen, die mir geholfen haben. Ich habe sehr tolle Zeiten in Deutschland erlebt und hatte eine Schulbildung, Ausbildung, die mir ermöglicht hat, jetzt da zu sein, wo ich bin.
Also, insofern versuche ich das Glas immer als halb voll zu sehen und nicht halb leer. Die Erfahrungen, die ich hatte, die auch in dem Buch stehen, stehen deshalb in dem Buch, weil ich glaube, dass es wichtig ist, den Kollegen auch ein Zeichen zu geben und zu sagen: Mensch, ihr macht euch auch irgendwie ein bisschen selbst was kaputt, wenn ihr nicht ein bisschen die Strukturen ändert, damit Leute, die verschiedene Abstammungen haben, auch besser mitarbeiten können.

Wie die Islamisten den jungen Pero bekamen

Deutschlandfunk Kultur: Sie beschreiben das auch überhaupt nicht anklagend oder wehmütig in Ihrem Buch. Das möchte ich schon dazu sagen. Dieses Buch trägt den Titel "Nur wenn du allein kommst. Eine Reporterin hinter den Fronten des Dschihad" – von Souad Mekhennet. Sie ist hier zu Gast in Tacheles auf der Frankfurter Buchmesse und hat gerade vor ein paar Tagen erst den Daniel-Pearl-Preis bekommen für dieses Buch in den USA als erste Deutsche.
Frau Mekhennet, wir haben darüber gesprochen, wie die Strategen des IS eigentlich gar nicht über Religion sprechen, wie sie politisch agieren und wie sie mit einem gefühlten oder echten Doppelstandard des Westens agieren, um junge Muslime zu rekrutieren.
Was an Ihrem Buch sehr unter die Haut geht, ist, wie oft das Grauen und Erschrecken direkt in Ihr Leben eintritt, in Ihr unmittelbares Umfeld. So schildern Sie auch die Geschichte eines Jungen, das ist der Neffe einer guten Freundin von Ihnen, der plötzlich verschwunden ist.
Souad Mekhennet: Pero.
Deutschlandfunk Kultur: Pero, ja. Wie haben die Islamisten den bekommen?
Souad Mekhennet: Seine Eltern waren getrennt. Der Vater war irgendwann im Gefängnis. Mutter war alleinerziehend. Dann kam der Vater auf einmal, hat sich aber nicht wirklich um die Kinder gekümmert. Oder die Eltern dachten, wenn die Kinder ein bisschen Taschengeld haben, dann ist alles gut, sie haben aber nicht wirklich viel Zeit mit den Kindern verbracht.
Ein Jugendlicher sitzt am Bildschirm eines PCs, der die Flagge der Terrormiliz IS zeigt.
Islamisten versuchen auch, Jugendliche und Kinder anzuwerben.© imago / Ralph Peters
Dieser Pero ist irgendwann auf dem Pausenhof von Leuten angesprochen worden, wie andere auch. Vieles passiert gar nicht mehr in den Moscheen, sondern an verschiedenen Orten. Und dann hat man ihm ein bisschen eine – ich sage jetzt mal – eine andere Art von Familie gegeben, nämlich diesen Zusammenhalt mit den jungen Männern. Und da wurde erstmal auch gar nicht über Religion gesprochen, sondern die Religion war das bindende Glied, dass man gesagt hat, hey, du bist Moslem, ich bin Moslem, jetzt lass uns mal nachmittags was tun. Dann haben die sich getroffen.
So ging das weiter, bis diese Gruppe irgendwann entschied, jetzt machen wir uns auf den Weg nach Syrien, weil, alle gehen nach Syrien und kämpfen dort gegen den bösen Assad. Er war 16, als er wegging. Damals gab es den sogenannten islamischen Staat noch nicht.
Eins muss man eben auch sagen: Es gab eine Zeit in Europa, da haben Sicherheitsbehörden weggeschaut, als Leute sich auf den Weg gemacht haben, um an den Kämpfen gegen die Machthaber teilzunehmen. Da dürfen wir uns auch nichts vormachen.
Dieser Pero kam also in eine Gruppe, die – wie sich herausstellte – mehr machte als nur Leuten zu helfen. Sondern versuchte, ihn zum Kämpfer auszubilden.

Immer geht es um die "Verlogenheit des Westens"

Deutschlandfunk Kultur: Lässt sich da Muster ableiten und eine Strategie, die sich immer wiederholt?
Souad Mekhennet: Ja. Das fängt damit an, dass diese Leute sehr oft diesen jungen Menschen als der große Bruder oder der Ersatz für den Vater begegnen. Oder auch als der Ersatz für die Mutter, denn wir haben es mittlerweile auch mit Frauen zu tun, die sich radikalisieren. Und dann finden erstmal Gespräche statt, die ein Vertrauen aufbauen.
Und wenn dieses Vertrauen aufgebaut wurde, dann geht's zum nächsten Schritt, nämlich dass man anfängt zu sagen: Weißt du, jetzt schau dir mal an, was mit den Muslimen passiert auf der Welt. Und dann werden Videos gezeigt, die in der Tat auch die Gräueltaten zeigen. Dann wird über die Dinge diskutiert, über die ich vorhin mit Ihnen diskutiert habe: der Irak, die Geheimgefängnisse, diese ganze Frage, welche Konsequenzen gab es, die sogenannte – in Anführungszeichen – "Verlogenheit des Westens". Und es wird das Gefühl vermittelt, du bist Teil dieser Gemeinschaft. Und wenn deine Brüder und Schwestern im Irak oder in Syrien oder in Pakistan angegriffen werden, dann muss dich das hier auch interessieren. Dann ist es auch irgendwie deine Pflicht, da hinzugehen und zu helfen.
Dieser Pero, wie gesagt, hatte keine Ahnung von der Religion. Die Familie war wirklich nicht religiös. Später erzählten mir die Eltern, ja, der kam und hatte irgendwie Fragen, und wir konnten die gar nicht beantworten. Weil die keine Ahnung von Religion hatten, war dann der Rekrutierer der, der ihm immer erzählte, ja, aber die Religion will, dass du jetzt da hingehst. – Das stimmte alles natürlich nicht, aber er hatte das Vertrauen zu dem Rekrutierer und dachte, Mensch, der kann ein paar Koran-Suren auswendig. Der spricht Arabisch. Also muss der schon wissen, was da vor sich geht.

Einen Kämpfer hätte niemand zurückgeholt

Deutschlandfunk Kultur: In Peros Fall ist alles am Ende gut ausgegangen. Er kam lebend wieder zurück. Lässt sich auch daraus etwas ableiten? Wie kann man die jungen Menschen wieder zurückholen?
Souad Mekhennet: Er kam nur deshalb zurück, weil klar war, der hatte noch nicht gekämpft. Sonst hätte den niemand zurückgeholt. Auch der Imam, der damals beteiligt gewesen ist, der der Familie geholfen hat, hat ganz klar erstmal drauf geschaut – wie auch die Eltern und die Behörden – dass er noch nicht gekämpft hatte. Wenn Pero ein Kämpfer gewesen wäre, wäre es sehr schwierig gewesen ihn zurückzuholen.
Er ist zurückgekommen. Er hat jetzt sein Abitur gemacht, hat angefangen zu studieren und hat mit der ganzen Thematik nichts mehr zu tun.
Deutschlandfunk Kultur: Mir fällt auf: Sie sind sehr, sehr vorsichtig, nicht zu bewerten. Sie haben vorhin die angeblichen westlichen Doppelstandards ausdrücklich in Anführungszeichen gesetzt. Doch zum Thema Doppelstandards gab es eine Situation, die Sie in dem Buch beschreiben: Sie bekommen einen Anruf von einem Menschen, den damals in der Öffentlichkeit noch keiner kannte, Khaled al-Masri, ein Mensch, der – wie wir inzwischen wissen – von der CIA entführt worden ist. Die Deutschen haben da ziemlich gründlich weggeguckt. Der ist in Afghanistan gefoltert worden, ist dann als traumatisierter, gebrochener Mann quasi ausgesetzt worden.
Da fragen Sie sich: Wie soll der Westen einen solchen Menschen wieder zurückgewinnen? Haben Sie eine Antwort darauf?
Souad Mekhennet: Also, indem man Herrn al-Masri, um anzufangen, erstmal Antworten darauf gibt, warum das mit ihm passiert ist, was mit ihm passiert ist. Der Mann wartet bis heute darauf. Nachdem er aus dem Gefängnis in Afghanistan raus kam und ausgesetzt wurde und nachdem unsere Geschichte raus kam, an der wir monatelang gearbeitet haben, hat sich niemand bei ihm entschuldigt – weder von deutscher Seite noch von amerikanischer Seite.
Es hat sich auch niemand von deutscher Seite darum gekümmert, dass der Mann zum Beispiel behandelt wird. Der war traumatisiert. Dieses Trauma hat sich irgendwann auch so gezeigt, dass er anfing gewalttätig zu werden. Er ist dann irgendwann im Gefängnis gewesen, auch weil er versucht hat, einen Supermarkt anzuzünden. Und das letzte Mal, als ich ihn sah, das war vor anderthalb Jahren, lebte er auf der Straße in Österreich und war obdachlos.
Ich denke, damit sollte man anfangen, sich also mit diesem Mann zusammenzusetzen und ihm Antworten zu geben. Er wartet bis heute darauf.

Züchtet der Westen seine eigenen Gegner?

Deutschlandfunk Kultur: Und Sie stellen in Ihrem Buch auch die Frage: Was werden seine Kinder über Deutschland und über die USA denken, wenn sie erst einmal begreifen, was die beiden Länder ihrem Vater angetan haben?
Souad Mekhennet: Ja.
Deutschlandfunk Kultur: Züchtet der Westen mit so etwas seine eigenen Gegner?
Souad Mekhennet: Ich würde sagen, wir alle als Gesellschaften müssen uns bewusst darüber sein, dass diese Themen, die vielleicht für uns heute keine Rolle mehr spielen, weil wir sie nicht mehr auf dem Radarschirm haben, in der Rekrutierung oder in der Argumentation von Rekrutierern bis heute eine sehr große Rolle spielen. Und dass sie ihnen in der Logik, wie sie argumentieren, auch tatsächlich Recht geben, weil wir eben nicht mit diesen Themen umgehen, sondern sie ausblenden. Auch nicht mit dem Thema: Welche Konsequenzen gab es oder gibt es für Leute, die gefoltert haben.
Die Standards, die wir an andere anlegen, wo legen wir die an, wenn es um uns geht oder um unsere Nationen?
Das sind in der Tat Situationen, die Rekrutierern helfen.
Deutschlandfunk Kultur: Die deutsche Staatsanwaltschaft hat jetzt in diesem Frühjahr die Ermittlungen eingestellt gegen die CIA-Beamten, die ihn mutmaßlich entführt und gefoltert haben. Und Sie schreiben in Ihrem Buch: Wenn keine Konsequenzen aus so etwas folgen, dann verliert der Westen seine Glaubwürdigkeit und letztlich seine Legitimation. – Haben Sie ganz persönlich im Laufe dieser langen Jahre und Recherchen ein bisschen den Glauben an den Westen verloren?
Souad Mekhennet: Ich bin selbst aus dem Westen.

Der Westen darf nicht als Heuchler dastehen

Deutschlandfunk Kultur: Ich weiß, ich habe damit nicht andeuten wollen, dass Sie nicht aus dem Westen sind.
Souad Mekhennet: Nein, nein, ich habe das verstanden. Aber wenn ich persönlich den Glauben an irgendwen verlieren würde, würde ich diesen Job nicht machen. Ich denke, es gibt sehr viele Menschen, sowohl im Westen als auch im Nahen Osten oder wo auch immer, die versuchen bis heute Brücken zu bauen. Und die wirklich verstehen, dass es wichtig ist, mit diesen Themen umzugehen und darüber zu diskutieren. Deswegen stehen diese Geschichten auch in dem Buch, weil ich versuche den Leuten zu sagen: Passt mal auf, wir müssen uns damit auseinandersetzen, wenn wir Rekrutierung stoppen wollen, wenn wir Radikalisierung stoppen wollen, denn das sind die Dinge, die uns alle als Heuchler darstellen, wenn wir uns damit nicht auseinandersetzen.
Und die Politiker müssen sich damit auseinandersetzen.
Ich habe nur langsam das Gefühl, dass es immer noch Menschen gibt, die die Schuld oder die Probleme woanders suchen. Wir waren vorhin bei dem Thema, "der Islam ist schuld", bei diesen einfachen Antworten und einfachen Bildern. Aber das ist es nicht. Es ist viel tiefgründiger.
Ich sage auch in dem Buch: Es ist nicht die Religion, die die Leute radikalisiert, sondern sie radikalisieren die Religion. Und wir müssen anfangen, über die Themen zu reden, die uns auch weh tun. Das müssen wir. Sonst werden es die Rekrutierer tun.
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Khaled al-Masri 2006 vor dem BND-Untersuchungsausschuss in Berlin© imago/Christian Thiel

Sehr unterschiedliche Reaktionen aus USA und Deutschland

Deutschlandfunk Kultur: Im sogenannten Kampf gegen den Terror erleben wir sowohl in den USA als auch in Europa eine sehr harte, scharfe Rhetorik. Sie haben gerade gefordert, dass Konsequenzen und Entschuldigungen folgen müssten für solche Fälle wie dem des Khaled al-Masri, für solche Einzelfälle. Sorgt dann umgekehrt diese scharfe Rhetorik, die Politiker in Europa und in den USA an den Tag legen, dafür, das Problem eigentlich zu verschärfen?
Souad Mekhennet: Das Problem wird verschärft, indem es Rhetoriken gibt, die ganze religiöse Zugehörigkeiten von Menschen als Problem darstellen. Das Problem wird verschärft, wenn wir von den Muslimen oder dem Islam als der Quelle allen Übels sprechen, natürlich, indem wir den Mitgliedern einer Volksgruppe das Gefühl geben, sie können nicht mehr dazu gehören. Und da gibt es leider in Europa momentan einen Trend, muss man sagen. Wir hatten auch in Amerika mit einem Präsidenten zu tun, der zunächst einmal im Wahlkampf solche Rhetorik benutzt hat. Allerdings hat sich das auch geändert.
Ich finde aber etwas anderes sehr interessant: Das Buch ist zunächst in Amerika erschienen. Dann ist es in England rausgekommen, jetzt in Holland und in Deutschland. Die Zuschriften, die ich bekommen habe und das Feedback in Amerika und in Großbritannien unterscheiden sich absolut von dem, was ich aus Holland und teilweise aus Deutschland höre.
Deutschlandfunk Kultur: Inwiefern?
Souad Mekhennet: Sie haben ja gesagt, ich habe jetzt den Daniel-Pearl-Preis dafür bekommen, Daniel Pearl ist ein jüdischer Journalist gewesen, ein Kollege von uns vom Wall Street Journal, der getötet wurde. Und seine Familie und der Journalistenverband haben mich ausgesucht für diese Arbeit. Sie haben das gewürdigt, genauso wie viele Leser auch, dass man einen Einblick gewährt, natürlich auch unter Einsatz des Lebens, aber keine Seite einnimmt. Und das haben Leser in Amerika sehr zu schätzen gewusst, in Großbritannien auch.

Verstehen heißt nicht Verständnis haben

In Holland und in Deutschland gab es teilweise Zuschriften, die so schlimm waren, dass ich die den Behörden zuschicken musste. Drohungen von Leuten, die nicht damit leben konnten, dass eine muslimische Frau im deutschen Fernsehen oder in Holland auftritt und über das Thema versucht als Journalistin zu sprechen, weil man gleich irgendetwas abgeleitet hat – vielleicht ist sie ja auch ein trojanisches Pferd und solche Dinge.
Und dann gab es teilweise Morddrohungen. Das finde ich schon sehr interessant, wie die Leute dieses Buch aufnehmen und wie bereit Leute auch sind, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Deutschlandfunk Kultur: Also wird "Verstehen wollen" mit "Verständnis haben wollen" verwechselt?
Souad Mekhennet: Zum Beispiel. Und Sie haben es heute teilweise auch mit Leuten zu tun, die Ihnen nur dann zuhören wollen oder eigentlich im Prinzip nur das hören wollen, wie sie die Welt schon sehen. Und die nicht mehr offen sind dafür, dass man ihnen sagt: Pass mal auf, ich bin da hin gereist. Ich habe mit denen geredet. Hier hast du einen Einblick. Ich tue das nicht, weil ich diesen Menschen zustimme oder weil ich mit ihnen einer Meinung bin, sondern weil es mein Job ist als Journalist, einen Einblick zu gewähren.
Und ich habe das deshalb gemacht, weil ich 2002 vor der Frau eines Feuerwehrmannes stand, die ihren Mann bei den Anschlägen des 11. September verloren hat. Und diese Frau kam nach Deutschland, um an einem Prozess teilzunehmen. Ich habe damals für die Washington Post gearbeitet, und sie sagte uns Journalisten: Wisst ihr was? Ich gebe euch und unseren Politikern eine Mitschuld an dem, was passiert ist am 11. September.
Und wir schauten sie alle an und sagten: Aber wieso?

Warum habt ihr uns nicht gesagt, dass sie uns so hassen?

Und dann meinte sie: Weil uns niemand gesagt hat, dass es Menschen da draußen gibt, die uns so sehr hassen. Warum hassen sie uns? Wenn wir es gewusst hätten und wenn wir verstehen können, warum und woher dieser Hass kommt, dann hätten wir vielleicht als Gesellschaft etwas tun können, um das zu verhindern.
Deswegen habe ich all die Jahre mein Leben riskiert, um dieses Buch irgendwann zu schreiben und den Leuten diesen Einblick zu geben, und nicht, weil ich mit ihnen einer Meinung bin.
Imame beten am 08.07.2017 vor einem Bus mit der Aufschrift _Marsch der Muslime gegen den Terrorismus_ auf dem Prachtboulevard Champs-Élysées in Paris
Champs-Élysées/Paris: Imame setzen Zeichen gegen Terrorismus© dpa / Sebastian Kunigkeit
Deutschlandfunk Kultur: Ich wollte Sie zum Abschluss eigentlich fragen, wie optimistisch Sie sind, dass wir in zehn Jahren dieses Zeitalter des Terrors vielleicht ein bisschen beendet haben. Ich habe jetzt den Eindruck, dass ich Sie eigentlich eher fragen muss, wie pessimistisch Sie sind, dass es in zehn Jahren mindestens noch so schlimm ist?
Souad Mekhennet: Nein, ich bin optimistisch. Es gibt bis heute Menschen, die – trotz der Stimmung, trotz des Populismus, trotz der Dinge, die um uns herum passieren – versuchen, in Gesellschaften Brücken zu bauen. Und das ist eben auch eine Botschaft an all jene, die als Muslime denken, sie gehören nicht mehr nach Europa oder die sich nicht zugehörig fühlen: Schaut euch die Leute an, die Brücken zu bauen versuchen. Es gibt sie noch. Und es gibt immer auch einen anderen Weg. Man muss sich als Gesellschaft auf die Brückenbauer konzentrieren und nicht auf die, die versuchen uns als Gesellschaft auseinanderzutreiben.
Leider gibt es auf allen Seiten Populisten. Es gibt auf allen Seiten Leute, die versuchen die Gesellschaft auseinanderzutreiben. Aber solange es die Brückenbauer gibt, bin ich auch optimistisch.
Deutschlandfunk Kultur: Souad Mekhennet hat das Buch geschrieben "Nur wenn du allein kommst. Eine Reporterin hinter den Fronten des Dschihad", 384 Seiten für 24,95 € bei C.H. Beck erschienen. Vielen Dank, Frau Mekhennet.
Souad Mekhennet: Gerne, danke Ihnen.

Souad Mekhennet, geboren 1978 in Frankfurt/M., ist eine deutsche Journalistin mit türkischen und marokkanischen Wurzeln. Nach Studium der Politologie in Frankfurt war sie journalistisch u. a. für die New York Times, die Frankfurter Allgemeine Zeitung und das ZDF tätig. 2012 erhielt Mekhennet gemeinsam mit Elmar Theveßen den Deutschen Fernsehpreis für die Dokumentation "9/11". Mehrere Buchveröffentlichungen, zuletzt: "Nur wenn du allein kommst. Eine Reporterin hinter den Fronten des Dschihad". Verlag C.H. Beck, München 2017. Ihre Arbeit wurde 2017 mit dem Daniel Pearl Award ausgezeichnet.

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