Seelenporträt oder Vokaleffekte

    Der Stimmkünstler Roy Hart und die Neue Musik

    Ein zwei Wochen altes männliches Baby schreit.
    An schreienden Säuglingen könne man einen unverfälschten Umgang mit der Stimme beobachten, fand Alfred Wolfsohn. © picture alliance / Uli Deck
    Von Teresa Roelcke · 10.05.2016
    Die traumatherapeutischen Versuche Alfred Wolfsohns waren Impulsgeber für Roy Harts musikalische Stimmakrobatik.
    Töne in einem Umfang von fünf (!) Oktaven und "Multiphonics" - solche Superlative beherrschte der Stimmkünstler Roy Hart. Diese Fähigkeiten entstanden aus einer speziellen Psychotherapieform, die sein Lehrer Alfred Wolfsohn entwickelt hatte, um sich selbst von traumatischen Erlebnissen im ersten Weltkrieg zu heilen.
    Roy Hart führte diese Arbeit in den 60er-Jahren mit einer Schülergruppe weiter, die gemeinsames Leben, Psychotherapie und Theater miteinander verband und dabei eben diese besonderen Stimmklänge produzierte.
    Er selbst arbeitete zudem mit Komponisten wie Peter Maxwell Davies, Hans Werner Henze und Karlheinz Stockhausen zusammen, in dem Bestreben, das neu erschlossene stimmliche Potenzial auch für die Neue Musik fruchtbar zu machen.
    Fiepsen, Quietschen, Vogelzwitschern, mehrstimmiges Knurren und tiefes Dröhnen wie der Hall in einer leeren Gießkanne – vielleicht kann man so die Klänge beschreiben, die die Gruppe um den Stimmkünstler Roy Hart in den sechziger Jahren herstellen konnte.

    Stimmliche Selbstbefreiungsarbeit

    Roy Hart selbst konnte Töne in bis zu fünf Oktaven singen – und verfügte damit über mehr als den doppelten Stimmumfang von normalen Chorsängern, die etwa zwei Oktaven erreichen können. Er brachte die bizarrsten Klänge hervor, sogar intervallgenaue Mehrklänge. Aber er erarbeitete diese Klänge nicht gezielt. Stattdessen waren sie Ergebnis einer stimmlichen Selbstbefreiungsarbeit oder körperlichen Psychotherapie.
    Ziel dieser Arbeit war nicht das exakte Verfügen über die Klänge, sondern eher eine Suche nach vernachlässigten, ungeliebten Seiten der eigenen Persönlichkeit, die sich auch in der Stimme wiederfinden ließen. Die Arbeit war komplex und ihrem Selbstverständnis nach ganzheitlich. Körperliche Übungen ergänzten sich mit der Reflexion über die eigene Persönlichkeitsentwicklung. Das macht es schwer nachzuvollziehen, welcher Weg genau zu diesen außergewöhnlichen Klängen führt. Außerdem ist die Quellenlage über die Gruppe um Roy Hart und seinen Lehrer Alfred Wolfsohn teilweise widersprüchlich und auch insofern nicht ganz unproblematisch, als in dem Schülerkreis eine gewisse Tendenz zur Legendenbildung besteht.
    Die Erzählung über Alfred Wolfsohns Stimmforschung beginnt im Ersten Weltkrieg. Wolfsohn war noch sehr jung, zu Beginn des Krieges gerade einmal achtzehn Jahre alt, als er für den Sanitätsdienst der Armee des deutschen Kaisers im Einsatz war.

    Zusammenhang von stimmlichen und seelischen Problemen

    Durch die Kriegserlebnisse traumatisiert, kehrte er zurück. Er kam in ein Sanatorium, aber die Psychiater dort schienen ihm über die schlimmen Erfahrungen nicht hinweghelfen zu können. Stattdessen nahm er Gesangsunterricht und fand Erleichterung darin, dort gelegentlich einfach selbst schreien zu dürfen. Er begann, über den Zusammenhang von stimmlichen und seelischen Problemen nachzudenken und kam zu dem Schluss, dass eine ganz neue Art zu singen entwickelt werden müsse.
    Als er dann anfing, selbst Gesang zu unterrichten, interessierten ihn vor allem die hoffnungslosen Fälle: Menschen, denen es sehr schwer fiel, sich stimmlich zu artikulieren. Für ihn waren es "leidende Stimmen", von denen er annahm, dass ihr Leiden eng verknüpft war mit dem Leiden der Seelen.
    Anfang der vierziger Jahre musste Alfred Wolfsohn vor den Nationalsozialisten fliehen. Er ging nach London. Im Stadtteil Golders Green richtete er ein Voice Research Centre ein, wo er seine spezielle Verknüpfung von Psychotherapie und Gesangsunterricht weiterverfolgte. Die Unterrichtsstunden bewegten sich irgendwo zwischen Traumanalysen und körperlichen Übungen: Der Schüler sollte sich etwa schräg nach hinten an einem Brett entlang gegen die Wand lehnen.

    Den Körper ins Bewusstsein rufen

    Wolfsohn aktivierte dann verschiedene Bereiche des Körpers, um sie dem Schüler ins Bewusstsein zu rufen, während dieser Vokale sang. Er war fest davon überzeugt, dass es nötig sei, die Angst vor extremer Höhe und extremer Tiefe in der Stimme zu überwinden. Diese Arbeit verstand er nicht nur als einen wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung, sondern zur Entwicklung des menschlichen Wesen überhaupt.
    Er ging davon aus, dass es so etwas wie eine ursprüngliche Intaktheit der Stimme gegeben haben müsse, die einmal neun Oktaven umfasst habe. An schreienden Säuglingen könne man einen unverfälschten Umgang mit der Stimme noch beobachten. Aber im Laufe des Aufwachsens verlören die Menschen die Fähigkeit, ihre Stimme im vollen Umfang zu benutzen: Sie müssten sich immer mehr an die Außenwelt anpassen und dabei selbst beschränken, - etwa, indem sie sich in die konventionellen Stimmlagen Sopran, Alt, Tenor oder Bass fügen. Bestätigung fand Wolfsohn in den Ideen C.G. Jungs, des Erfinders der analytischen Psychologie. Zweifellos hatte Alfred Wolfsohn ein Bewusstsein davon, dass er Pionierarbeit für die Musik leistete, indem er der menschlichen Stimme neue Möglichkeiten erschloss.
    Roy Hart war derjenige unter Wolfsohns Schülern, bei dem der Ansatz die wohl beeindruckendsten stimmlichen Ergebnisse hervorbrachte. 1947 kam er im Alter von 21 Jahren aus Südafrika nach London, um dort an der Royal Academy of Dramatic Arts Schauspiel zu studieren. Recht schnell suchte er den Kontakt zu Wolfsohn und begann, Stunden bei ihm zu nehmen und wurde zu seinem bedeutendsten Schüler. Als dieser 1962 an einer Tuberkuloseerkrankung starb, hatte Roy Hart bereits kleinere Unterrichtsaufgaben von ihm übernommen und führte die Gruppe fort.
    Roy Hart war daran interessiert, die neuerworbenen stimmlichen Möglichkeiten nicht nur zur psychischen Entfaltung für die Mitglieder seiner Gruppe zu nutzen. Er wollte sie auch künstlerisch einsetzen. Wie schon sein Lehrer Wolfsohn überlegt hatte, lag es nahe, den Kontakt zur zeitgenössischen Musik und ihren Komponisten zu suchen.