Renato Cisneros: "Die Entfernung, die uns trennt"

Vom Vater losgesagt

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Im Vordergrund ist das Cover des Romans "Die Entfernung, die uns trennt" von Renato Cisneros zu sehen. Im Hintergrund eine Hochhaussiedlung in der peruanischen Hauptstadt Lima.
Renato Cisneros zeigt sich froh über den Tod es Vaters, nur so konnte er sich frei entwickeln. © Secession Verlag / Imago / Jan Huebner
Von Marko Martin · 22.05.2019
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Renato Cisneros "Die Entfernung, die uns trennt" zeichnet die Geschichte seines Vaters nach. Dieser war ein hoher peruanischer Militär und Minister. Ein faszinierendes Buch in der Tradition des lateinamerikanischen "Diktatorenromans".
Die Hommage an Gabriel Garcia Márquez, den "Übervater" der lateinamerikanischen Literatur, ist knapp, beinahe eine Art Abgrenzung – und steht doch bereits im ersten Satz von Renato Cisneros´ Roman "Die Entfernung, die uns trennt":
"Ich werde hier nicht die Geschichte einer Frau erzählen, die sieben Kinder mit einem Priester hatte; es genügt zu sagen, dass sie Nicolasa Cisneros hieß und meine Ururgroßmutter war."
Im Kontrast zum mystifizierenden Generationenroman "Hundert Jahre Einsamkeit" setzt der 1976 in Lima geborene Schriftsteller Renato Ciseros nicht etwa auf pikareske Überwältigung, sondern auf kühl reflektierte Tatsachen. Cisneros' Vater war ein peruanischer Militär und Minister, der sich ob seines argentinischen Geburtsortes "El Gaucho" nennen ließ und am liebsten mit Sonnenbrille und Uniform auftrat – manchmal posierte er auch mit einem Degen.

"Du bist im richten Augenblick gestorben"

"Mein Vater war ein uniformierter Schurke. Seine Uniform war seine Kruste. Darunter lagen die Wunden, die niemand sah, die er nie zeigte."
Dies übernimmt nun der Sohn, der 19 Jahre alt war, als sein berühmt-berüchtigter Vater 1995 starb.
"Du bist im richtigen Augenblick gestorben. Ich hatte noch die Gelegenheit, meine Talente zu entdecken und mich umzuerziehen. Wärest Du zu einem späteren Zeitpunkt von uns gegangen, hättest du mich vielleicht auf Dich zugeschnitten. Das Beste, was Du für mich getan hast, war zu sterben."
Das imaginäre Gespräch ist dabei frei von jeglicher Larmoyanz und weitet sich zum präzis recherchierten Panorama der peruanischen Machogesellschaft der 70er- und 80er-Jahre. Die kristalline Härte dieses Buchs – wohl eher eine literarische Reportage als ein Roman – ist seine größte Qualität.
Jenseits von anklagendem Pathos wird hier die Genese eines Aufstiegs zur Macht geschildert, psychologisch plausibel und ein Augenöffner selbst für jene Leser, die geglaubt hatten, das Genre des lateinamerikanischen "Diktatorenromans" sei längst Geschichte.

Kein Roman aus der Vergangenheit

Auch wenn Renato Cisneros nicht jene stilistische Verdichtung erreicht, wie sie etwa das thematisch vergleichbare "Gespräch in der Kathedrale" auszeichnet, den frühen Welterfolg seines berühmten Landsmanns Mario Vargas Llosa, so beschreibt dieser vier Jahrzehnte jüngere Autor doch ungemein packend eine Welt, die keineswegs gestrig ist.
Im Gegenteil: Cisneros Seniors Stern begann rapid zu sinken, als Mitte der 1980er-Jahre der damals junge sozialdemokratische Alan Garcia zum Präsidenten gewählt wurde, der freilich danach alle ihn gesetzten Hoffnungen enttäuschte – und, inzwischen längst Pensionär, im April 2019 Selbstmord beging, als vor der Tür seines Wohnpalastes Antikorruptionseinheiten der Polizei aufgezogen waren.
"Die Entfernung, die uns trennt" beschreibt die schockierende Nähe zwischen Vergangenheit und Gegenwart – ein irritierendes, ein höchst notwendiges Buch.

Renato Cisneros: "Die Entfernung, die uns trennt". Roman
Aus dem Spanischen von Steven Uhly
Secession Verlag, Zürich 2019
283 Seite, 24 Euro

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