Religionssoziologe: Papst fehlt "Sensibilität auch für das Politisch-Gesellschaftliche"

Karl Gabriel im Gespräch mit Ulrike Timm · 19.04.2010
Nach Einschätzung des Sozialethikers Karl Gabriel verspielt Papst Benedikt XVI. als Pontifex die Chancen als moralische Autorität einer Weltkirche. Er würde ihm raten, "einfach einen Crashkurs zu machen in Fragen gesellschaftlicher Wirklichkeit", sagte Gabriel.
Ulrike Timm: Vor fünf Jahren hieß es, wir sind Papst. Heute erscheint allein schon die Frage, sind wir noch Papst, ziemlich rhetorisch. Benedikt XVI. findet bei den Menschen in Deutschland so wenig Zustimmung wie nie zuvor.

Nur 31 Prozent bewerten seine Arbeit als gut oder sehr gut. Vor drei Jahren waren das noch 70 Prozent. Wäre der Papst Politiker - er müsste sich dringend um sein Image kümmern oder besser, er müsste sich darum kümmern, verstanden zu werden.

Von einem schlichten er hat es verpatzt bis hin zum offenen Brief an alle katholische Bischöfe, den der Theologe Hans Küng geschrieben hat, reichen die Reaktionen. Rundum ist von einem großen Vertrauensverlust in diesen Papst die Rede.

Nun wird die katholische Kirche mit ihrer 2000-jährigen Geschichte auch ihn überstehen, womöglich aber ziemlich lädiert. Wir sprechen mit dem Sozialethiker und Religionssoziologen Professor Karl Gabriel. Schönen guten Tag!

Karl Gabriel: Einen schönen guten Tag!

Timm: Herr Gabriel, drehen wir den Spieß doch einfach mal um: Gibt es etwas, was den Papst in den fünf Jahren seines Pontifikats rundum gut gelungen ist oder etwas, das Sie rückhaltlos an ihm bewundern?

Gabriel: Zunächst einmal, was ihm wirklich gut gelungen ist, das war seine Antrittsenzyklika, deus caritas est, in der er zwei Aspekte in den Vordergrund gerückt hat, nämlich dass sozusagen im Religionspluralismus das Christentum sozusagen unter diesem Aspekt antritt, Gott ist ein sozusagen liebender Gott, und das ist der zentrale Wert des Christentums.

Das hat er hier in das Zentrum gestellt, hat die Diakonie sozusagen als Grundfunktion von Kirche betont wie kein Papst vor ihm. Ein anderer Aspekt ist, dass er zum Beispiel im Gespräch mit Jürgen Habermas versucht hat, zwischen sozusagen Glaube und Vernunft eine Brücke zu schlagen, in dem Sinne, dass er sagt, die Vernunft braucht den Glauben, aber umgekehrt der Glaube, um in der Welt verankert zu sein, braucht er die Vernunft. Und in diesen beiden Punkten, denke ich, die auch gerade in der Anfangsphase des Pontifikats im Zentrum standen, bewundere ich ihn auch als Theologen.

Timm: Damit sprechen Sie seine intellektuelle Brillanz als Theologe an, die im Grunde niemand bestreitet. Zugleich aber formuliert er immer ungeheuer verquast, man braucht manchmal ein ganzes Studium, um ihn zu verstehen. Ist denn genau diese intellektuelle Brillanz zugleich die größte Schwäche, die zu Pannen führt?

Gabriel: Vielleicht nicht die intellektuelle Brillanz, denn zu der würde ja auch gehören, dass man ein Gefühl dafür hat, was denn das Wort, das ich spreche, auslöst. Und da fehlt ihm einfach das Gefühl dafür, in welchen Kontext hinein er spricht, sozusagen die Sensibilität auch für das Politisch-Gesellschaftliche.

Timm: Dann sprechen wir mal von dem, was er auslöst: Sie selbst sprechen von einem Pontifikat der Pannen. Welche waren denn die gravierendsten Pannen?

Gabriel: Also zunächst seine Regensburger Rede, in der er als Wissenschaftler und Papst sprechen wollte und in der ihm ganz unnötigerweise in einem Zitat noch eine Formulierung, die auch unnötig war für seine Aussagen, ihm untergekommen ist, und er hat dort nicht bedacht, dass dies in der islamischen Welt zu Problemen führen wird. Es läuft ...

Timm: Das heißt, Entschuldigung, das heißt, er hat es mit den Moslems verdorben, mit den Juden hat er es auch verdorben und gleichzeitig einen, ja, illegal geweihten Bischof, der den Holocaust leugnet, in die Kirche zurückgeholt, die Piusbruderschaft – sind das die gravierendsten politischen Pannen?

Gabriel: Das denke ich, die gravierendsten Pannen politischer Art, aber auch sozusagen kirchenpolitischer Art. Natürlich ist immer eine Frage, wieweit nicht nur die Umstände, sondern auch der Hintergrund das Problem ausmacht, denn es ist schon beobachtbar, gerade in der letzten Zeit, dass sich Benedikt den Positionen annähert, die auf dem Konzil die Minderheit waren und unterlegen sind, und das ist ja der Ursprung der Piusbrüder. Und da liegt für mich sozusagen inhaltlich die Problematik.

Timm: Sie sprechen jetzt kirchenpolitisch, aber wenn man einen Holocaustleugner in die Kirche zurückholt, dann versteht einen ja auf der Welt, jemand mit einem historischem Verständnis, eigentlich niemand mehr.

Gabriel: So ist es, es ist damit eben gerade diese Nahtstelle zwischen Kirche und Gesellschaft eben voll betroffen. Also man hat dieses Feld äußerst problematisch bearbeitet.

Timm: Herr Gabriel, das Schweigen des Papstes zum Missbrauchsskandal ist in Deutschland wohl seine, sagen wir populärste Sünde, einfach weil sich hiervon so viele Menschen berührt und getroffen fühlten. Ist es auch seine größte Panne im Pontifikat?

Gabriel: Das denke ich nicht. Er hat ja zu den USA sehr deutlich Stellung genommen, er hat einen Brief an die irischen Bischöfe geschickt, er hat sicher aus offensichtlicher organisatorischer Schwäche heraus es nicht geschafft, gleichzeitig für Deutschland sozusagen die entsprechende Botschaft zu haben ...

Timm: Aber er pflegt ja eine Kommunikation auf dem Papier. Die irischen Bischöfe haben einen Hirtenbrief bekommen nach ihrem Missbrauchsskandal, und ich erinnere noch ganz gut den Stoßseufzer eines irischen Katholiken: Wäre er doch gekommen und hätte zwölf Opfern die Füße gewaschen! Hat dieser Papst Benedikt, ganz anders als sein Vorgänger, keine Intuition für Menschen?

Gabriel: Das ist wohl richtig, und da liegt natürlich auch ein großer Unterschied zwischen Johannes Paul und Benedikt. Johannes Paul war ein Meister der öffentlichen Weltkommunikation wenn man so will und gerade auch der symbolischen Kommunikation. Und da fehlt Joseph Ratzinger einfach das Gespür dafür.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" im Gespräch mit dem Religionssoziologen Karl Gabriel über fünf Jahre Benedikt XVI.. Herr Gabriel, liegt es eigentlich allein am persönlichen Versagen des Papstes, wenn die Kirche derzeit so schlecht dasteht?

Gabriel: Nein, das glaube ich nicht. Also es liegt schon auch an den Strukturen an der Spitze einer nun wirklich großen Weltkirche, und es ist den Päpsten seit dem Konzil nicht gelungen, eine angemessene, einigermaßen angemessene (..) für eine solche Weltkirche an der Spitze zu arrangieren.

Timm: Wo genau liegt das Problem?

Gabriel: Es liegt darin, dass man auch keine vernünftige Ressortaufteilung und gleichzeitig Integration - also man hat keine Kabinettssitzung, man kennt keine Kabinettsdisziplin, also Selbstverständlichkeiten, die eigentlich schon für eine mittlere Organisation gang und gäbe sind, existieren nicht.

Johannes Paul war Charismatiker, für ihn hat diese Organisation sozusagen keine Rolle gespielt, er hat mehr auf Bewegung gesetzt und ist durch die Welt gereist und hat versucht, sozusagen die Kirche als Bewegung bewegt zu halten gewissermaßen. Und da ist Benedikt eben anders, er setzt schon auf die Institution Kirche, aber es fehlen strukturell jetzt die Voraussetzungen dafür, um eine angemessene Organisation Kirche, die etwas von dem theologischen, etwas von dem geistlichen Element sozusagen widerspiegeln würde. Und ohne das geht es ja nicht bei Kirche.

Timm: Dann spreche ich mal politisch: Dann fehlt es ihm an Führungsqualitäten und an Richtlinienkompetenz in seiner eigenen Organisation?

Gabriel: So könnte man das nennen.

Timm: Wie sehr schadet denn der Papst seiner Kirche?

Gabriel: Aktuell in einem Moment, in der gerade die katholische Kirche eigentlich sehr große Chancen hätte, sie ist ein global player wie keine andere der großen religiösen Organisationen. Wenn es die katholische Kirche in diesem Sinne als Weltkirche nicht gäbe, müsste man sie gewissermaßen erfinden, also da liegen eigentlich im Moment große Chancen für sozusagen eine moralische Autorität in der Welt.

Timm: In Großbritannien wollen ihn Menschenrechtsanwälte verhaften, deutsche Katholiken fordern offen seinen Rücktritt. Das alles mag auch populistisch sein, ist aber zugleich ein Seismograf. Kann der Stellvertreter Gottes auf Erden von seinem Amt eigentlich zurücktreten?

Gabriel: Selbstverständlich kann er das.

Timm: Ist das schon mal passiert?

Gabriel: Es ist auch in der Kirchengeschichte schon passiert, es ist nur allerhöchst unwahrscheinlich. Die Folge kann sein, dass gerade im Führungskern sich abschottet. Die deutschen Bischöfe haben ja inzwischen auch sehr vernünftig reagiert auf die gegenwärtige Krise, und da merkt man auch ein Stück, dass man mit dieser Krise umgehen kann. Aber in Rom gibt es eben dann doch die Reaktion, dies sozusagen als einen Großangriff auf die Kirche zu interpretieren, und das führt nun gar nicht weiter.

Timm: Herr Gabriel, der Theologe und Kirchenkritiker Hans Küng nimmt in seinem offenen Brief die Bischöfe in die Pflicht und fordert sie auf, sich gegen diesen Papst auch zu wehren. Das ist eine ganz brisante Forderung innerhalb der katholischen Kirche. Prompt herrscht erst mal Schweigen im Walde. Erwarten Sie, dass so ein Brief etwas bewirkt?

Gabriel: Nein, erwarte ich nicht.

Timm: Schade!

Gabriel: Das ist schade, aber ich erwarte es nicht, denn gerade diese Führungsstruktur der Kirche, also die mittlere Ebene, ist so stark auf die traditionelle hierarchische Struktur eingestellt, eingebunden, dass das eher zu Reaktionen der Abwehr führen wird. Danach sind sie ja auch ausgesucht, die Bischöfe. In den Reihen der Bischöfe fehlen schon seit einigen Jahren kritische Gestalten, die in dem Sinne nicht ganz auf der offiziellen römischen Linie liegen, dafür eben aber eine große Ausstrahlung haben. Das gab es noch vor einigen Jahren mit Bischof Kamphaus etwa für Deutschland. Aber ich vermute, ein Bischof Kamphaus würde heute nicht mehr Bischof, und das macht auch einen Teil des Problems aus.

Timm: Sie haben zusammen mit ihm studiert, waren Weggefährten an der Universität. Würden Sie Benedikt XVI. etwas raten wollen?

Gabriel: Oh, das ist schwierig. Ich würde ihm raten, dass er eben seine Intellektualität auch dort entwickelt, wo es um Geschichte, um Gesellschaft, um Menschen geht. Er hat eigentlich das Zeug dazu, aber er hat gerade in den letzten Jahren sich so stark sozusagen auf ein ahistorisches platonisches Denken hinbewegt, das ihn unfähig gemacht hat, Wirklichkeit, gesellschaftliche Wirklichkeit, wie sie heute existiert, wahrzunehmen. An dieser Stelle würde ich ihm raten, doch ja einfach einen Crashkurs zu machen in Fragen gesellschaftlicher Wirklichkeit.

Timm: Der Sozialethiker und Religionssoziologe Professor Karl Gabriel im Gespräch mit dem "Radiofeuilleton". Haben Sie herzlichen Dank!

Gabriel: Dankeschön!