Religionsfreiheit und Integration

Von Josef Schmid · 03.11.2009
Der Richterspruch wurde mit dem Verfassungsgrundsatz der Religionsfreiheit begründet. Sie deckt also nicht nur Freiheit von Religion, sondern auch das Gegenteil: Wenn jemand beten will oder muss, wenn auch zur Unzeit nach mitteleuropäischen Gepflogenheiten, dann muss das auch möglich sein.
Wir erinnern uns noch an das sogenannte "Kruzifix-Urteil": Da fürchtete ein Vater, dass sein Kind vom Anblick des Gekreuzigten einen seelischen Schaden davontragen könnte und klagte die Kruzifixe von den Wänden der Klassenzimmer. Im Namen der Religionsfreiheit mussten in einem Fall Kruzifixe, die an der kulturellen Identität Europas unbestritten großen Anteil haben, verschwinden, im anderen Fall muss ein Gebetsraum eingerichtet werden für eine Religion, gegen die Europa Jahrhunderte lang Abwehrschlachten zu bestehen hatte. Hieran zeigt sich, wie eine blinde Justitia in multikulturellen Gesellschaften zu Absurditäten führt. Die Verbannung von Kultur und Geschichte aus Recht und Politik produziert einen Nihilismus, der in Intellektuellenkreisen bis weit in die bürgerliche Repräsentanz hinein Gönner findet, weil er angeblich Ausgrenzung und Diskriminierung verhindert.

Mit dem Richterspruch wurde zugleich beschwichtigt: Der an sich brave Junge werde wohl kaum das Land umkrempeln; es sei ein Einzelfall; Ängste vor einem Einfallstor zur Aufhebung der religiösen und weltanschaulichen Neutralität unserer Bildungsanstalten seien unbegründet. Solche Beruhigungspillen erinnern an die Versuche, Weltkonflikte so lange zu leugnen, bis ein 11. September in New York und ein Desaster im Nahen und Mittleren Osten eines Besseren belehren.

In welchem Zusammenhang ist der anscheinend so belanglose Vorgang um einen Herrgottswinkel zu sehen?

Deutschland beherbergt vier Millionen Muslime aus 49 Staaten, über 60 Prozent stammen aus der Türkei. Jüngste Umfragen fördern zutage, dass unter jungen Muslimen eine Tendenz zur Rückbesinnung auf das Herkommen Platz greift: Zu enge Bindungen an den Westen werden von erstaunlich vielen abgelehnt. Es gibt wenige Ehen mit Einheimischen, auch gehen die Einbürgerungen zurück. Dafür verstärken die Jungen emotionale Bindungen zur Familie, zum Herkunftsland und zur islamischen Gemeinschaft, die sie im weltgeschichtlichen Aufwind sehen – und das nicht ohne Grund.

Jeder vierte Mensch auf Erden ist Moslem: 1,5 Milliarden. Die muslimischen Bevölkerungsgruppen wachsen mit hohen Geburtenziffern. Der Hinweis, dass es im Islam mehrere und gemäßigte Strömungen gebe, kann da nicht ganz beruhigen.

Ein Viertel aller Muslime lebt in Ländern, in denen der Islam nicht die Mehrheitsreligion ist. Das heißt, es gibt für die Glaubenseifrigen überall viel zu tun. Das bedeutet eine erhöhte Empfänglichkeit für Aufrufe und Gebote, die Geltungsmacht ihrer Religion durchzusetzen und zu erweitern.

Die Grenzen zum Islamismus sind fließend. Nach der islamistischen Idee der "Gottesherrschaft" kann es Frieden erst geben, wenn der Islam über die ganze Welt herrscht und westliche moderne Staaten sind unter diesem Zeichen ein lohnendes Ziel, besonders Deutschland. Es fehlt hier leider ein strenges Laizismus-Gesetz wie in Frankreich, das Sachverhalte von vornherein klarstellt und das ständige Anrufen der Gerichte unnötig macht. Dagegen besteht in Deutschland die Möglichkeit, liberale Staatsprinzipien sinnverkehrend einzuklagen, weil sie naiv-neutral ausgelegt werden können. Der Gedanke, das Verfassungsprinzip der Trennung von Staat und Religion zugunsten der eigenen importierten Religionsgemeinschaft schrittweise rückgängig zu machen, muss für Strenggläubige unwiderstehlich sein.

In einer mangelhaft integrierten Einwanderungsgesellschaft wird von Religionsfreiheit gegensätzlich Gebrauch gemacht. Sie rollt auf der schiefen Ebene unterschiedlicher Interessen und Lebensentwürfe in ihr Gegenteil: Das europäische Stammvolk koppelt sich von Religion ab, außereuropäische Zuwanderergruppen verankern sich mit ihrer Hilfe. Die demographische Dynamik innerhalb und außerhalb Europas sorgt dafür, dass alle Integrationsbemühungen in einem Wettlauf mit der Zeit stehen.

Josef Schmid, Soziologe und Bevölkerungswissenschaftler, geboren 1937 in Linz/Donau, Österreich, zählt zu den profiliertesten deutschen Wissenschaftlern auf seinem Gebiet. Er studierte Betriebs- und Volkswirtschaft sowie Soziologie, Philosophie und Psychologie. Von 1980 bis 2005 war Schmid Inhaber des Lehrstuhls für Bevölkerungswissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seine Hauptthemen: Bevölkerungsprobleme der industrialisierten Welt und der Entwicklungsländer, kulturelle Evolution und Systemökologie. Schmid ist Mitglied namhafter nationaler und internationaler Fachgremien. Veröffentlichungen unter anderem: "Einführung in die Bevölkerungssoziologie" (1976); "Bevölkerung und soziale Entwicklung" (1984); "Das verlorene Gleichgewicht – eine Kulturökologie der Gegenwart" (1992); "Sozialprognose – Die Belastung der nachwachsenden Generation" (2000). In "Die Moralgesellschaft – Vom Elend der heutigen Politik" (Herbig Verlag, 1999) wird der Widerspruch zwischen Vergangenheitsfixiertheit und der Fähigkeit zur Lösung von Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben scharfsichtig analysiert.
Josef Schmid
Josef Schmid© Maurer-Hörsch