Religiöse Rituale können sich wandeln

Paula Schrode im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 07.07.2012
Muslime und Juden sind über das Beschneidungsverbot entrüstet. Auch die christlichen Kirchen haben protestiert. Für Paula Schrode zeigt dieser Aufschrei der Religionsvertreter, dass es in unserem säkularen Staat ein Konfliktpotenzial zwischen den Interessen von Gemeinschaften und von Individuen gibt.
Anne Françoise Weber: Die Vorhautbeschneidung eines kleinen Jungen aus religiösen Gründen ist strafbar. So hat das Kölner Landgericht geurteilt. Seit das Urteil Ende Juni veröffentlicht wurde, tobt hier in Deutschland eine gewaltige Diskussion. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die dem Gericht in seinem Urteil folgen. Sie stellen das Recht auf körperliche Unversehrtheit höher als die Religionsfreiheit und das elterliche Erziehungsrecht. Auf der anderen Seite protestieren diejenigen, die in der Zirkumzision, wie die Beschneidung medizinisch heißt, ein ganz zentrales Ritual für Juden und Muslime sehen. Sie halten das Verbot dieser an minderjährigen, religionsunmündigen Jungen durchzuführen, für einen Angriff auf diese beiden religiösen Gemeinschaften, vielleicht sogar auf alle religiösen Gemeinschaften im Land.

Wir wollen hier in "Religionen" die juristischen und medizinischen Erwägungen einmal beiseite lassen. Und nachfragen, worum es eigentlich geht bei so einem Ritual. Vor der Sendung habe ich mit Paula Schrode gesprochen. Die Islamwissenschaftlerin ist Mitglied im Sonderforschungsbereich Ritualdynamik der Universität Heidelberg und hat besonders über muslimische Speiseregeln und deren Umsetzung in Deutschland geforscht. Zunächst habe ich Paula Schrode gefragt, was denn das Ritual der Beschneidung für Muslime in Deutschland bedeutet.

Paula Schrode: Generell hat die Markierung einer Gruppenidentität, oder hier auch die körperliche Markierung einer Gruppenidentität in einer pluralen Gesellschaft natürlich noch einmal eine andere Bedeutung als in einer eher homogenen Gesellschaft. Aber die Beschneidung ist ganz allgemein auch in traditionellen muslimischen Gesellschaften ein ganz standardmäßiges Übergangsritual, das also die allermeisten Jungen durchlaufen.

Weber: Sie sagen Übergangsritual, und es ist ja tatsächlich so, dass bei den Muslimen das schon oft bei etwas größeren Jungen durchgeführt wird, also zwischen dem dritten und dem achten Lebensjahr, und dass da auch – das ist oft mit einer Familienfeier verbunden, dann schon auch geguckt wird, wie geht der kleine Junge jetzt eigentlich mit diesem Schmerz und mit dieser Verletzung um. Hat das was mit Männlichkeit zu tun, und hat das mehr mit Männlichkeit zu tun als vielleicht im Judentum, wo das ja wirklich an acht Tage alten Säuglingen gemacht wird?

Schrode: Ja, das ist, denke ich, sehr schwierig so pauschal zu beurteilen, das sind Interpretationen, die ich mir jetzt nicht anmaßen würde, darüber zu geben. Da müsste man dann die Praktizierenden selbst fragen, wie sie das verstehen. Und da ich jetzt speziell dazu nicht geforscht habe, würde ich eher vorsichtig sein, da jetzt was zu projizieren. Es ist sicherlich diese Dimension mit drin, aber jetzt im Vergleich zum Judentum und in welcher Weise zu gewichten, kann ich so jetzt nicht sagen.

Weber: Trotzdem würde ich gern noch mal weitermachen bei diesem Vergleich mit dem Judentum, denn es gibt in der Debatte mittlerweile auch Menschen, die einen Unterschied machen und sagen, im Judentum ist das genau festgeschrieben, und zwar im Ersten Buch Mose, die Beschneidung muss am achten Tag nach der Geburt stattfinden und sie markiert den Bund mit Gott. Im Koran gibt es ja keinen Hinweis auf die Beschneidung. Es handelt sich um eine andere Überlieferung und der Zeitpunkt ist, wie gesagt, auch nicht genau festgelegt. Da hört man dann die Unterscheidung, ja, beim Judentum gehöre das zur Essenz der Religion, und beim Islam sei das irgendwie so Brauchtum, auf das man gegebenenfalls auch verzichten könnte oder zumindest das nach hinten verschieben könnte. Funktioniert denn so etwas bei so einem zentralen Ritual, einfach mal von außen zu sagen, ach, wir finden, das gehört jetzt hier nicht so zentral dazu, da könnt ihr doch mal was dran ändern.

Schrode: Also ich denke, das funktioniert nicht. Denn man muss natürlich in der Tat zwei Ebenen unterscheiden. Also dieses Beschneidungsritual ist im Islam, wie Sie ja auch schon sagten, ein zum Teil sehr groß gefeiertes Familien-, auch Nachbarschaftsfest und in der Hinsicht definitiv von sehr großer Bedeutung. Also die verschiedenen Rechtsschulen, die es im sunnitischen Islam gibt, die sehen zwar den Status dieses Rituals durchaus auch unterschiedlich und es gibt keine Einigkeit, ob das jetzt Pflicht ist oder nur empfohlen wird, aber in der Praxis findet man eben beispielsweise wesentlich mehr Muslime, die jetzt zum Beispiel gelegentlich Alkohol trinken, als Muslime, die auf die Beschneidung ihrer Söhne verzichten. Also insofern muss man eben sehen, es gibt verschiedene Ebenen, auf die man rekurrieren kann, wenn man von Bedeutung spricht oder von Zentralität.

Also ich kann natürlich verstehen, wenn jetzt auch im Zusammenhang mit Urteilen so argumentiert wird, weil es natürlich irgendwie darum geht, die Zumutung mit abzuwägen, vor die so ein Urteil dann die religiösen Eltern stellt und da irgendeinen Kompromiss zu finden, aber ich finde den Ansatz trotzdem falsch, also die Prinzipien der Rechtssprechung können natürlich nicht durch irgendwelche religiösen Auslegungen ergänzt werden. Und irgendwelche Orthodoxien, die ja auch keineswegs eindeutig festgelegt sind, also Sprecher der jeweiligen Religionsgemeinschaften können auch nicht von juristischer Seite dann die Deutungshoheit darüber zugewiesen bekommen, was für einzelne Praktizierende ganz individuell wichtig zu sein hat oder eben nicht. Und auch als Wissenschaftlerin würde ich da eher nicht so sehr nach der Textgrundlage gehen, sondern ich kann einfach nur konstatieren, es ist eben für die Menschen von einer derart großen Wichtigkeit, dass die Reaktionen nun auch entsprechend sind.

Weber: Und wie erklären Sie sich, dass diese Wichtigkeit so groß ist? Liegt das daran, dass man Alkohol auch mal versteckt trinken kann, aber eine Beschneidung oder Nicht-Beschneidung, zumindest wenn man sich im Hamam oder sonstwo nackt trifft, nicht so wirklich verstecken kann?

Schrode: Ja, das ist natürlich ganz sicherlich eine wesentliche soziale Bedeutung und hier geht es ja auch darum, die Identität durch so ein Ritual, die Gruppenidentität zu erhalten und zu markieren und fortzusetzen. Also, dieses Ritual ist für die Kontinuität einer Tradition wird das eben als zentral erachtet für die Kontinuität der Gruppenidentität. Insofern sind die Reaktionen auch nicht überraschend.

Weber: Bisher ist es ja nur ein Landgericht, das entschieden hat. Die Frage ist nun, wie der Gesetzgeber reagiert. Wenn es nun, was doch eher unwahrscheinlich ist, dazu käme, dass die Beschneidung kleinerer Jungen gesetzlich verboten würde. Womit würden Sie dann eigentlich rechnen? Mit einem Abdrängen dieser Praxis in die Illegalität oder ins Ausland? Oder dann tatsächlich mit einer Anpassung, dass man irgendwann auch unter Muslimen sagt, okay, wir machen das erst, wenn die Jungs religionsmündig sind? Oder dass dieses Ritual irgendwann verschwinden würde?

Schrode: Ja. Also, dass die Beschneidung von Jungen vollständig aufgegeben wird, kann ich mir nicht vorstellen. Aber was ich mir durchaus vorstellen kann, ist auf jeden Fall Wandel. Und den wird es ziemlich sicher geben, den gibt es auch, also unabhängig davon, ob das Urteil jetzt Gültigkeit behält. Denn allein die Debatte wird schon ihre Auswirkungen haben. Also, bei Muslimen wird es natürlich viele, sehr viele Eltern geben, die in dieser Frage keine Kompromisse eingehen und den Eingriff dann entweder im Ausland oder illegal durchführen lassen. Letzteres wäre natürlich eine negative Nebenwirkung des Urteils, das ja gerade das Kind ins Zentrum stellt.

Ich denke aber, dass es auch Stellungnahmen von islamischen Rechtsgelehrten geben wird, die es als zulässig betrachten, die Beschneidung aufzuschieben bis zur Mündigkeit, bis zu einem bestimmten Alter. Auf jeden Fall wird ein Bedarf an pragmatischen Fatwas, also pragmatischen Rechtsgutachten entstehen. Und es wird Eltern geben, die solche Auslegungen auch gerne aufnehmen, weil sie vielleicht auch selbst einen Konflikt sehen.

Und schließlich gibt es natürlich religionsferne Eltern, die eine Beschneidung ohnehin höchstens aus Traditionsgründen erwägen und dann im Zuge solcher Debatten auch dahin gelangen, von dem Vorhaben abzurücken, weil sie eben eigentlich selbst keine Notwendigkeit sehen.

Also ich denke, es ist auf jeden Fall denkbar, dass die Religionsgemeinschaften das Thema vielleicht in 50 Jahren ganz anders diskutieren als heute. Also, wir erleben immer wieder, dass sich im Zuge eines allgemeinen gesellschaftlichen Bewusstseinswandels auch die Auffassung von religiösem Recht oder von bestimmten Ritualen wandelt. Also zum Beispiel gibt es in der Türkei die Diskussion darüber, ob das Opfer zum Opferfest notwendigerweise ein Schlachtopfer sein muss. Also das sind zwar relativ überschaubare Diskurse, und unter dem Eindruck einer starken schriftlichen Tradition haben es solche Veränderungen immer etwas schwerer, aber an den Rändern ist eben doch vieles im Fluss.

Und zum Judentum kann ich jetzt nichts sehr Spezifisches sagen, aber es gibt ja in Israel zum Beispiel auch eine organisierte Bewegung gegen die Beschneidung. Und in dem Kontext wird dann auch die Idee vorgebracht, die Beschneidung durch eine symbolische Handlung zu ersetzen. Also die Idee des Rituals beizubehalten, aber die Praxis anzupassen. Also insofern rechne ich nicht mit einer kompletten Abschaffung des Rituals, aber mit Modifikationen gerade im Hinblick auf die Durchführung an Kindern würde ich durchaus rechnen, wenn die auch ganz bestimmt nicht in allen Milieus aufgenommen wird.

Weber: Wenn es die Idee gibt, das Ganze nur noch symbolisch zu machen, dann wäre ja, würde wegfallen diese körperliche Markierung. Ist das vielleicht auch in diesem Urteil oder in dieser ganzen Debatte so ein Unbehagen, körperlich jemanden auf irgendetwas festzulegen, selbst wenn es natürlich auch beschnittene christliche Männer gibt und beschnittene atheistische Männer. Aber diese Festlegung, die stammt aus einer Zeit, wo es keine Ausweispapiere und keine Urkunden gab. Ist das heutzutage sozusagen passé für manche Leute?

Schrode: Ja, also ich denke, dass hier in jedem Fall einfach, genau, eine andere Herangehensweise an das Individuum zu beobachten ist. Also gerade was den Konfliktinteressen eines Kollektivs, Interessen einer Tradition und Interessen eines Individuums betrifft, also, das ist ein echter Konflikt. Und bislang haben sich auch erst wenige religiös argumentierende Stimmen darauf eingelassen, diesen Konflikt auch wirklich einfach mal als einen solchen anzuerkennen und nicht nur als eine Laune eines vermeintlich religionsfeindlichen Richters abzutun.

Weber: Nun wird ja im Islam auch immer wieder die Umma zitiert, also die Gemeinschaft der Muslime, sowohl von innen als auch von außen wird ganz oft gesagt, das sei so die Orientierungsgröße. Ist das wirklich so, dass eben diese Zugehörigkeit zum Kollektiv da so wichtig ist, dass die Individualität, die in diesem Recht auf körperliche Unversehrtheit sich äußert, dass die dem überwiegt?

Schrode: Ja, ich würde es jetzt nicht unbedingt nur auf dieser Ebene Umma sehen, also ich denke, da wirft man dann doch zu sehr die Praktizierenden in einen Topf, denn sehr viele führen solche Rituale ja wirklich in erster Linie als Fortführung auch der Familientradition und so weiter fort. Also da muss jetzt nicht unbedingt immer dieser Umma-Gedanke im Zentrum stehen.

Weber: Dann wäre es ein kleineres Kollektiv, nämlich die Familie.

Schrode: Ja, genau, und da ist es auch die Tradition. Also es ist auch das, was man aus der Heimat mitgebracht hat, was man eben so macht.

Weber: Und sehen Sie da so einen grundsätzlichen Angriff, wie das manche tun, auf die Religionsgemeinschaften, die ja eigentlich alle danach streben, die Kinder eben möglichst früh in ihr Kollektiv reinzuholen, sei es durch die Taufe oder vielleicht den Religionsunterricht oder sonst etwas. Also ist das so ein Schritt dahin, dass wir hier wirklich säkularisiert und laizistisch sind und die Religion erst im Erwachsenenalter eigentlich eine Rolle spielen soll?

Schrode: Ja. Also man ist natürlich in der Debatte jetzt wirklich sehr schnell auch über die eigentliche Urteilsbegründung hinausgegangen und hat das ganze Thema in diesen Deutungsrahmen clash of civilizations im Grunde gestellt. Also das Urteil wurde dann so gelesen, dass Muslime und Juden hierzulande nicht erwünscht seien. Zum einen – also hier liegt offenbar auf jeden Fall also ein gefühlter Kulturkampf in der Luft, was man auf jeden Fall mal so zur Kenntnis nehmen muss, und zwar aber eben ein Kulturkampf je nach Wahrnehmung entweder zwischen Christentum einerseits versus Islam und Judentum andererseits oder eben auch säkularer Staat gegen die Religion insgesamt. Denn es haben sich ja eben auch Deutsche Bischofskonferenz und die evangelische Kirche in den Protest eingereiht.

Nur, man muss natürlich sehen, also, was ist da wirklich in diesem Urteil passiert, und manche Kommentatoren sehen jetzt eben auch schon ein Verbot der Taufe am Horizont und so weiter, aber es ging einfach nicht darum, religiöse Erziehung und religiöse Sozialisation prinzipiell zu kriminalisieren, auch wenn jetzt natürlich in den Debatten einige darauf aufspringen und das sogar noch begrüßen würden, aber es ging in dem Urteil nicht darum. Es wurde nicht verboten, Kinder in die Koranschule zu schicken, ihnen das Beten beizubringen, ihnen religiöse Namen zu geben et cetera.

Also fürs Urteil selbst waren solche Parameter wie Religion, Tradition und so weiter einfach nicht ausschlaggebend. Aber, natürlich, die gesellschaftliche Situation ist eine, in der momentan diese Debatten geführt werden und da das irgendwie in der Luft liegt, wird jetzt eben auch sehr viel ganz Allgemeines diskutiert. Und ich halte diese Diskussion aber auch für wichtig und hoffe, dass sie nicht allzu sehr abgleitet in Polemik auf beiden Seiten.

Weber: Na, wir werden sehen, was noch für Beiträge kommen in den nächsten Tagen und Wochen. Vielen Dank, Paula Schrode, Islamwissenschaftlerin und Mitglied im Sonderforschungsbereich Ritualdynamik der Universität Heidelberg. Zuletzt hat sie, zusammen mit Udo Simon, ein Buch herausgegeben mit dem Titel "Die Sunna leben. Zur Dynamik islamischer Religionspraxis in Deutschland", erschienen beim Ergon-Verlag. Es hat 250 Seiten und kostet 35 Euro.


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