Religiös unverschämt

Von Susanne Krahe · 29.10.2011
Nicht nur nach Ansicht von Karl Barth, dem Schweizer Theologen, ist Scham eine wichtige menschliche Eigenschaft. In einer individualisierten, selbstsüchtigen Gesellschaft scheint die Scham aber langsam verloren zu gehen. Kann die Religion helfen? Wie viel hat sie mit Scham zu tun?
"Wie konntest du nur?! Du solltest dich was schämen!"
Scham. Etwas, das besser verborgen geblieben wäre, wird aufgedeckt. Die Pulsfrequenz steigt.

"Ab in die Ecke mit Dir. Schäm Dich!"

Ob es die nasse Hose war oder ob man beim Abschreiben erwischt wurde, ob eine Lüge aufgedeckt oder ein Geheimnis verraten worden ist: Wer sich die Szenen ins Gedächtnis zurückruft, in denen er an den Pranger gestellt und beschämt wurde, fühlt sich von der ganzen Peinlichkeit der damaligen Situation eingeholt und zuckt innerlich zusammen.
Scham, jeder kennt sie. Sie ist ein universales, kultur-übergreifendes Gefühl und gehört zur emotionalen Grundausstattung des Menschen. Nur die Inhalte, also worüber die einen sich schämen und andere eben nicht, sind Kultur- und Zeit-bedingt. Sie werden nicht zuletzt von der persönlichen Geschichte geprägt. Wenn Adam und Eva sich ihrer Nacktheit schämten, wie es in der biblischen Urgeschichte heißt (vgl. Gen 3,7), so mag das durch eine gewisse prüde Einstellung bedingt gewesen sein, die im Israel der biblischen Zeit gang und gäbe war. Wie das ist, wenn man im wahrsten Sinne des Wortes bloßgestellt wird, wissen aber auch die Mitteleuropäer von heute. Der Psychologie-Professor Wolfgang Hantel-Quitmann von der Universität Hamburg erklärt, wie tief verwurzelt die Grundemotion Scham in unserer Kindheit angelegt ist:
"Man hat lange geglaubt, dass Scham erst mit der moralischen Entwicklung eines Kindes einsetzt, das ist aber nach neuen Erkenntnissen gar nicht so; das Kind lernt sehr genau, was muss ich zeigen, um von den Eltern Lob zu bekommen, was muss ich verdecken, verstecken, verhüllen, in der Scham – das sind Vorformen der Scham -, damit die Eltern auch nach wie vor mit mir zufrieden sind? Das heißt: Die Scham wird geboren aus dem Bedürfnis nach Liebe."
Jeder kennt die verräterischen, körperlichen Symptome: Wer sich schämt, errötet bis zu den Haarwurzeln, wird fahl, sie oder er senkt die Augen oder schaut weg, beginnt zu stottern, bekommt weiche Knie und zittert, will weglaufen oder gar in den Boden versinken. Man will aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit anderer fliehen, in das man unfreiwillig gerückt ist, zieht deren Blicke jedoch nur noch mehr auf sich. Schon die Bildsprache der Bibel vermittelt die Erfahrung der Unkontrollierbarkeit von Schamreaktionen.
Du machst uns zur Schmach bei unsern Nachbarn, zu Spott und Hohn bei denen, die um uns her sind. Du machst uns zum Sprichwort unter den Heiden, lässt die Völker das Haupt über uns schütteln. Täglich ist meine Schmach mir vor Augen, und mein Antlitz ist voller Scham, weil ich sie höhnen und lästern höre und muss die Feinde und Rachgierigen sehen. (Ps 44,14f)

Schmach, Schande, Gespött, Gerede: In dieses Begriffsfeld ordnet die Bibel die Scham ein und zeichnet damit einen heillosen Kreislauf von Scham, Beschämung und Schamreaktionen nach. Die moderne Schamforschung bestätigt: Diese Emotion ist Folge einer gestörten Beziehung. Sie erwächst erst aus dem Urteil anderer, die mich aus der Distanz und wie ein Objekt betrachten und einschätzen. Das macht einsam und angreifbar: Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Die Scham hat eine Schutzfunktion für die menschliche Seele. Sie schirmt sie ab gegen die Behauptungen des öffentlichen Geplappers. Sie verhindert den Übergriff auf unsere intimsten Bereiche. Für die Psalmdichter ist sie die subjektive Seite einer überpersonalen, sozialen Isolation. Diese Isolation kann auch den Glauben betreffen. Ein einzelner Mensch oder auch ein ganzes Volk sieht sich öffentlich dem abschätzigen Urteil von Außenstehenden ausgesetzt, die sich über seine Gottesbeziehung lustig machen.
Wie Mord ist's in meinen Gebeinen, wenn meine Gegner mich verhöhnen, da sie allezeit zu mir sagen: Wo ist dein Gott? (Ps 42,11; vgl. Ps 42, 4)
Wo ist denn nun dein Gott? Es könnte sein, dass diese ironische Frage einen Zweifel auf den Punkt bringt, von dem auch der Psalmbeter längst angenagt wird. Er traut sich bloß nicht, seine Skepsis offen auszusprechen. Vielleicht schämt er sich auch seines mangelnden Gottvertrauens. Umso wirkungsvoller wird die Frage, wenn die Gegner sie formulieren, als hätten sie es ja immer schon besser gewusst. Kann Israels Gott diese Schmähung etwa auf sich sitzen lassen? Mit dieser Strategie versuchen die Psalmdichter, Gott bei seiner Ehre zu packen. Er soll und will weder sich noch sein Volk im Zustand der Beschämung durch andere lassen. Ein alter Hut? Oder können auch heute noch Menschen durch die Frage nach ihrem Gott, ihrem Glauben, in Verlegenheit geraten? Ja! Meint der Theologe Dr. Konrad Fischer.
"Ich bin über eine Reihe von weiteren Beobachtungen zu der Überzeugung gekommen, dass religiöse Bindung zu den ganz intimen Affekten der Person gehört, jedenfalls unter unseren historischen, kulturellen Bedingungen. Das bedeutet: Religion verbirgt sich manchmal so sehr vor dem eigenen Bewusstsein, dass die Menschen selber von ihrer religiösen Bindung gar nichts mehr merken."
"Religiöse Scham, religiöse Verschämung": So nennt Konrad Fischer diesen Vorgang. Der badische Pfarrer im Ruhestand kam schon in seiner aktiven Zeit als Seelsorger dieser speziellen Form menschlicher Scham auf die Spur. Sie diente ihm als Schlüssel zur Einordnung vieler Beobachtungen, die – oberflächlich betrachtet – absurd erscheinen mögen, etwa wenn Theologiestudenten während ihrer Universitäts-Ausbildung sich kaum noch ihrer alten Frömmigkeitspraxis bedienen, oder wenn ein Paar sich erst nach 50 Jahren Ehe, im Amtszimmer des Pfarrers, gegenseitig offenbart, dass jeder für sich, Abend für Abend, ein Nachtgebet gesprochen hat. Wie die Bindung an die Eltern und wie der Bereich der Sexualität, sagt Fischer, ist auch der religiöse Bezirk im persönlichen Erleben immer noch weitgehend eine Tabuzone. Sobald andere dieses verbotene Terrain betreten, wird es peinlich.

"Wenn Sie auf die Straße gehen, treffen jemanden, sprechen ihn an und sagen: Können Sie mir mal die Uhrzeit sagen? Dann sagt Ihr Gegenüber ganz freundlich, jaja, es ist soundso spät. Wenn Sie aber sagen: "Sagen Sie mal! Glauben Sie eigentlich an Jesus?" dann wird Ihr Gegenüber Sie sehr verstört oder unverständig angucken, weil: Sie übertreten diesen Schutzraum des Religiösen. Sie nötigen, Sie dringen ein in den Intimraum der Person mit dieser Frage."

Fragen nach Glauben und Religion werden als unangemessen oder gar als unverschämt empfunden, wenn sie öffentlich verhandelt werden. Das macht zum Beispiel eine Straßenmission oder unverhoffte "Hausbesuche" von pfingstlich geprägten oder sektiererischen Gläubigen problematisch. Hat nicht schon Luther empfohlen, sich zum Beten ins stille Kämmerlein zurückzuziehen? Offenbar brauchen wir solche geschützten Räume, um unser Innerstes nach Außen stülpen zu können, ohne die Gefahr der Verletzung befürchten zu müssen.
"Diese Schutzfunktion der Scham hat ja eine doppelte Dimension: Es schützt auf der einen Seite den Intimraum der Person, aber es schützt natürlich auch, ich sag mal abgekürzt: Es schützt das Heilige vor der Profanierung und Trivialisierung, vor Banalisierung."
Das Heilige wie auch das Allerintimste suchen eine besondere, aber nicht aufdringliche Umgebung, um sich zu entfalten. In der Möglichkeit, schamfreie Räume zu bieten, darüber hinaus auch angemessene Sprache und angemessene, traditionelle Formen bereitzuhalten, darin liegt heute eine Herausforderung für die Kirchen, zugleich auch eine große Chance. Theologie und Kirchen müssen realisieren, dass sie für viele Menschen der letzte, aber lebenswichtige Ort sind, an dem Frömmigkeit kommuniziert werden darf, ohne dass jemand daran Anstoß nehmen würde.

Dem Theologen Konrad Fischer verhalf die Entdeckung der religiösen Scham zu einer neuen Einschätzung von Gemeindenähe und Kirchenmitgliedschaft. Es wäre voreilig, sagt er, so genannte Weihnachtschristen oder die "bloßen" Einzahler von Kirchensteuern für nichts als Karteileichen zu halten. In Wirklichkeit bleiben auch die fernstehenden Gemeindeglieder noch religiös ansprechbar; vorausgesetzt ihre Distanz wird als eine Einkleidung religiöser Verschämtheit begriffen und gewürdigt.
"Die Menschen möchten eigentlich beten – aber sie bringen es nicht über die Lippen."

Traditioneller Weise wird der Glaube in ein enges Verhältnis zum mutigen Bekenntnis gesetzt. Er schäme sich seines Evangeliums nicht, sagt Paulus im Römerbrief (Röm 1,16). In Zeiten der Anfeindung bekundet jeder, der, statt die Augen niederzuschlagen, den Blicken der Gegner standhält, gerne seine Furchtlosigkeit. Scham jedoch wird als Anzeichen von Feigheit und Glaubensschwäche gewertet. Bestätigt nicht jeder, der sich seines Glaubens schämt, die skeptische, ja boshafte Ironie seiner Gegner? In diesem Sinne wollte auch Jesus seine Zuhörer zur Treue ermutigen wenn er sie warnte:
Wer sich aber meiner und meiner Worte schämt unter diesem abtrünnigen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln. (Mk 8,38)

"Wo ist nun euer so genannter Gott? Wie kann er Euch helfen, Euer so genannter Messias mit seiner Dornenkrone?" Ähnliche Angriffe gegen den Glauben des frühen Christentums lassen sich leicht ausmalen. Offensichtlich gehörten Jesus-Anhänger immer schon zu denen, über deren Überzeugungen man sich lustig machte. Oder womöglich gehört es zur paradoxen Struktur des christlichen Glaubens überhaupt. Es geht immer um den Widerspruch zwischen Wollen und Tun, Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Schein und Sein. Wo diese Gegensätze aufgedeckt werden, entsteht Scham. Auch die Kirchen sehen sich heute oft genug diesem Widerspruch und seinen Wirkungen ausgesetzt. Ihre Basis schämt sich dann weniger des Evangeliums als vielmehr ihrer offiziellen Repräsentanten. Der Psychologe Wolfgang Hantel-Quitmann meint dazu:
"Es gibt Mitglieder der Kirche, die sich für andere Kirchenmitglieder schämen, weil die sich nicht schämen, oder sich gar nicht genug schämen, oder einfach nur, weil die etwas Fürchterliches getan haben – wenn wir an die Missbrauchs-Skandale zum Beispiel denken. Dann ist diese Art der religiösen Scham in der Weise berechtigt, dass sie sich für diese Menschen schämen sollten, aber ich denke, sie sollten sich niemals für ihre Religion schämen. Religion hat nichts mit Scham zu tun, sondern ist eine tiefe Glaubensüberzeugung, die ein menschliches Leben und ein menschliches Miteinander bereichert und niemals Grund für Scham sein sollte."
Nicht eine religiöse Bindung, sondern das, was die offiziellen Vertreter daraus machen, kann schmachvoll und schändlich sein. Der Fähigkeit, Scham zu empfinden, braucht der Mensch sich überhaupt nicht zu schämen, im Gegenteil, so Hantel-Quitmann:
"Aber die Scham sozusagen in einem kulturellen oder sozialen Sinne bedeutet, dass man auf andere Rücksicht nimmt. Die Scham ist das sozialste Gefühl des Menschen. Scham bedeutet, dass ich rücksichtsvoll bin, dass ich Mitgefühl habe, dass ich verantwortlich mich verhalte, dass ich sozusagen die anderen in mein Denken und Handeln mit einbeziehe und nicht einfach nur egoistisch mich verhalte."
Um diese kulturgeschichtliche Bedeutung der Grundemotion Scham zu unterstreichen, beruft sich der Psychologe auf die philosophische Tradition der griechischen Klassiker. Damit weitet er die Perspektive gegenüber einer individual-psychologischen Betrachtungsweise aus und folgt damit einem Pfad, den die Schamforschung erst in den letzten Jahren entdeckt hat. In der Folge der psychoanalytischen Betrachtungsweise wurde die Scham bis vor etwa 20 Jahren hauptsächlich in ihrer schädlichen, hemmenden, Neurosen fördernden Wirkung beschrieben.

Die Verdrängungsvorgänge, die aus dem unangenehmen Empfinden hervorgehen, können in der Tat groteske Züge annehmen. Das weiß natürlich auch Wolfgang Hantel-Quitmann. Den "schlechten Ruf" der Scham führt er auf eine Gleichsetzung dieser exklusiv menschlichen Fähigkeit mit den nachhaltigen, negativen Gefühlen zurück, die eine beschämende Erfahrung in der Persönlichkeit eines Menschen hinterlassen können. Scham und Beschämung sind aber nicht dasselbe und müssen unbedingt unterschieden werden.
"Von der anderen Seite her ist derjenige, der beschämt, jemand, der auch demütigen kann, erniedrigen kann, also wenn Sie an die schrecklichen Bilder von Abu Ghraib beispielsweise denken, wo eine Frau – Lindy England – da einen irakischen Gefangenen nackt an einer Hundeleine führt, dann ist das eine hochgradige Schamsituation aus der Sicht des irakischen Gefangenen, es ist aber eine Beschämung, eine Demütigung, eine Erniedrigung aus der Sicht dieser jungen, sehr dummen, sehr schrecklichen Soldatin."
Während Beschämungen Angst machen und sich destruktiv auf die Persönlichkeitsbildung eines Menschen auswirken, setzt die Scham kreative und pädagogisch wertvolle Impulse frei. Vor allem ist sie ein unverzichtbarer Motor der Humanität und Moralität einer Gesellschaft. Was die Menschen verlieren, wenn sie ihre Scham verlieren, ist nicht nur ein Schwachpunkt, der sie sehr angreifbar und verletzlich macht. Schamverlust und Schamvergessenheit bedeuten den Verlust ihrer Identität und eine Ignoranz gegenüber dem, was sie im positiven Sinne zu Menschen macht, und das ist nach der Ansicht Wolfgang Hantel-Quitmanns vor allem ihre soziale Fähigkeit.
"Ja, viele grundsätzliche, menschliche Werte. Also so etwas wie Mitgefühl. Oder auch: Mitleid. Achtung, Respekt, Rücksichtnahme, also alle menschlichen, sozialen Aspekte, die wir brauchen für ein halbwegs geordnetes Miteinander."

Dieses Miteinander ist in unserer modernen Gesellschaft immer stärker gefährdet. Der Grund: Wir verhalten uns "schamlos". So lautet der Titel der kultur- und zeitkritischen Analyse, die Wolfgang Hantel-Quitmann vorgelegt hat. Der Untertitel seines leidenschaftlichen Buches heißt: "Was wir verlieren, wenn alles erlaubt ist." Er spielt auf eine biblische Passage an.
Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf. Niemand suche das Seine, sondern was dem Andern dient. (1 Kor 10,23f)
So argumentierte der Apostel Paulus gegenüber den Christen in Korinth. In der Auseinandersetzung ging es darum, die grundsätzliche Freiheit, die das Evangelium den Christen zusagte, mit einer Ethik zusammenzubringen, die über die eigene Freiheit nicht den anderen und seine Bindungen missachtet. Diese Spannung bestimmt bis heute jede theologische Auseinandersetzung, die zwischen Wahrheiten und Richtigkeiten, zwischen Verzichtbarem und Unaufgebbarem zu unterscheiden sucht.
In der Menschheitsgeschichte hat es immer wieder schamlose Perioden gegeben. Das Ausmaß dieser Störung, das von Hantel-Quitmann mit Beispielen belegt wird, ist allerdings neu. Die so genannte Banken- und Wirtschaftskrise, die nicht nur die Ökonomie der Weltwirtschaft als rücksichtslos entlarvt hat, ist ein sprechendes Beispiel. Schamloses Verhalten schlägt sich aber vor allem nieder in der rücksichtslosen Ausschlachtung von Menschen und ihren Schicksalen in manchen Medien.

Unser Denken und Handeln ist von einem narzisstischen, egoistischen Zeitgeist bestimmt. Dieser führt zu einem moralischen Verfall, der sich weder um die traditionellen sozialen Werte, noch um die menschlichen Gefühle kümmert, die zu einem Miteinander befähigen. An deren Stelle treten nun Werte, die um das Individuum, seine Selbstverwirklichung und seine Autonomie kreisen. Der heilsame, aufklärerische Impuls, der noch vor wenigen Jahrzehnten zur Befreiung des Einzelnen und seiner quälenden Schamgefühle verhalf, ist völlig umgekippt. Der berechtigte Wunsch nach Freiheit führte zur völligen Vereinsamung, ja zum sozialen Autismus.
"So dass wir letztlich eine moralische Situation haben, in der es nur noch darum geht, dass jeder seine eigenen Geschichten macht, nicht mehr auf die anderen Rücksicht nimmt."

Scham kann also als Merkmal von Moral, ihr Verlust als Mangel von ethischen Wertvorstellungen gewertet werden. Hier wäre eine Diskussion über moralische Standards unserer modernen Gesellschaft fällig.

"Nicht mit einem erhobenen Zeigefinger, sondern wirklich als eine offene Diskussion. So, wie wir es die ganzen Jahre jetzt diskutiert haben: Wie geht Wirtschaft mit Ökologie?"

Der Psychologe Wolfgang Hantel-Quitmann beklagt, dass die Kirchen ihre Glaubwürdigkeit als Hort der Moral verloren haben. Aber ist die Rolle der Moralhüterin wirklich ihre Aufgabe? Religion ist mehr als Moral, Glaube mehr als Moralität.
"Ich glaube, dass die Religion etwas grundsätzlich Gutes ist und der Ausdruck sozusagen einer menschlichen Spiritualität, auch einer menschlichen Sinnfindung. Und das ist etwas sehr, sehr Gutes."
Die Sinn und Gemeinschaft stiftenden Angebote des Glaubens können eine wertvolle Alternative sein zu einer narzisstischen Konsum-Orientierung. Es kommt nur darauf an, dass die Kirchen ihre eigentlichen Zuständigkeiten wieder entdecken und der Versuchung der allgemeinen Schamvergessenheit nicht unterliegen. Tun sie das doch, so besteht die Gefahr, dass der religiöse Affekt, der ohnehin nur noch verschämt geäußert werden kann, durch den völligen Verlust an Werten und sozialen Bindungen womöglich abgetötet wird.