Reisendes Pflegepersonal in den USA

Der Traum der Travel Nurses

22:19 Minuten
Ein lächelnder junger Mann, Oscar Garza, mit Brille sitzt im Auto. Neben ihm eine weiße Hündin auf dem Beifahrersitz.
Oscar Garza und seine Hündin Leia Rose auf dem Weg von Kalifornien nach Colorado, wo er seine nächste Stelle als Travel Nurse antreten wird. © Oscar Garza
Von Nicole Markwald · 01.02.2021
Audio herunterladen
Das Konzept der Travel Nurses ist in den USA ein Riesengeschäft. Es gibt Agenturen mit Anwerbern und Vermittlern. Etwa 50.000 mobile Krankenpflegerinnen und -pfleger sind derzeit im Einsatz. Eine große Hilfe für Krankenhäuser in der Coronakrise.
Wenn man so will, ist Jessica Ybarra eine Anfängerin. Zumindest was ihren Weg als Travel Nurse, als reisende Krankenschwester, angeht. Erst im November hat sie ihre erste Stelle angetreten, am University of Maryland Medical Center in Baltimore.

"Ich wollte das schon immer machen"

Jessica ist Krankenschwester für Intensivpflege und stammt aus der texanischen Hauptstadt Austin.
Als Reisekrankenschwester zu arbeiten war schon immer ihr Traum, erzählt sie: "Ich wollte das schon immer machen, habe mich aber lange dagegen und für meine Familie entschieden. Meine Großmutter ist 89 und ich habe mich lange um sie gekümmert. Ich war einfach die, die immer da war."
Eine junge Frau steht im Gang eines Krankenhauses mit einem gelben Kunstoffkittel, Maske sowie Visier.
Mehrere von Jessicas Familienmitgliedern sind an Corona erkrankt: Eine Tante schwer, ein Onkel starb. Sie selbst wurde im Dezember positiv getestet, hatte aber einen milden Verlauf. © Jessica Ybarra
Doch alles änderte sich mit Covid, denn plötzlich setzt Jessica ihre Familie einem großen Risiko aus. Als die ersten Fälle in dem Krankenhaus in Austin auftauchen, in dem sie arbeitet, zieht sie von zu Hause aus, um ihre Großmutter nicht zu gefährden. Die 35-Jährige sucht sich eine kleine Wohnung in der Nähe und verzichtet schweren Herzens darauf, ihre Familie zu sehen.

Die Pandemie als Chance

Als klar wird, dass die Pandemie nicht in wenigen Wochen oder Monaten ausgestanden sein wird, dämmert ihr, dass nun vielleicht genau der richtige Zeitpunkt gekommen ist, den Schritt zu wagen.
"Ich musste diese Situation zu meinem Vorteil nutzen", sagt sie. "Jetzt oder nie sozusagen. Und hier bin ich!"
Auch finanzielle Gründe spielen eine große Rolle: "Mir war klar, mit dem Job kann ich nicht genug ansparen, um mich an der Uni weiterzubilden, irgendwann ein Haus zu kaufen und zudem noch die Schulden abzubezahlen, die sich angehäuft haben."

Travel Nurses – ein unüberschaubarer Markt

Und dann tut Jessica das, was nahe liegt: Sie fragt ehemalige Kollegen, die sich für diesen Karriereschritt entschieden haben, taucht auf Facebook-Seiten für Travel Nurses ein, hört sich um und sammelt Empfehlungen.
Der Markt für diese Art von Krankenschwestern, die zeitweise in Krankenhäusern aushelfen, ist riesig in den USA und auf den ersten Blick unüberschaubar. Krankenhäuser beauftragen Agenturen, die wiederum haben Anwerber, die sich um Interessierte kümmern und im besten Fall anheuern. Sie heißen Travel Nurse Across America, Triage Staffing oder Advantis Medical.
AYA Healthcare ist eine der bekanntesten Agenturen, in diesem Spot des Unternehmens wird erklärt, wie einfach es ist, Travel Nurse, also eine reisende Krankenschwester, zu werden.
Zwei Krankenschwestern in Arbeitskleidung umarmen sich auf dem Gang eines Krankenhauses.
Jessica und ihre Kollegin Brittney: Nach einem besonders anstrengenden Tag weinen beide Frauen zum Schichtende. Ein an Covid-19 erkrankter Patient war kurz zuvor gestorben.© Jessica Ybarra
Jessica hatte bei ihrer Suche zwei Bedingungen: Sie wollte in die Nähe von Baltimore, weil ihre Schwester dort lebt, und sie wollte in ein größeres Krankenhaus. Den Kontakt zwischen Krankenhaus und Krankenschwester stellt dann die Agentur her, kümmert sich um den bürokratischen Teil.
Vier Wochen nach ihrem Vorstellungsgespräch tritt Jessica ihren ersten Job an, befristet auf 13 Wochen. Das ist eine normale Vertragslaufzeit, die nach Bedarf verlängert werden kann. Sie packt ihre Sachen ins Auto und macht sich auf den 2400-Kilometer langen Weg an die Ostküste der USA.

"Mir war klar, dass es schwer wird"

An ihre ersten Tage in der neuen Klinik erinnert sich Jessica mit Grauen. Demütigend sei es gewesen: "Ich war es gewohnt, diejenige zu sein, zu der man kommt und die Kollegen hilft. Mir war klar, dass es schwer wird, dass es anders wird - aber ich war nicht auf das vorbereitet."
Travel Nurses durchlaufen zwar eine Orientierungssitzung im Krankenhaus, aber von der ersten Schicht an müssen sie anpacken, als wären sie nie woanders gewesen.
Auch Travis Pierce hat lange als Travel Nurse gearbeitet und gleich bei seinem ersten Einsatz die wichtigste Lektion gelernt.
"Sie mochten mich dort nicht besonders", erzählt er. "Und ich habe sofort gelernt: In deiner ersten Woche niemals hinsetzen. Niemand darf dich sitzen sehen. Stell sicher, dass du immer was zu tun hast. Braucht eine andere Krankenschwester Hilfe, übernimmst du. Deshalb bist du da."

Unterschiedliche Bezahlung führt zu Konflikten

Zwischen dem regulär angestellten Personal und den Reisekrankenschwestern, die nur für eine gewisse Zeit dazukommen, kann es aus mehreren Gründen schwierig werden. Der Hauptgrund: die Bezahlung.
Travel Nurses erhalten wesentlich mehr Geld, im Durchschnitt 25 Prozent mehr. Jetzt während der Pandemie können sie schon mal das Doppelte verdienen. Dazu kommen - je nach Vertrag - eine Krankenversicherung, Zuschüsse für Behausung, Mahlzeiten, selbst Parkplatzgebühren.
In dem Krankenhaus in Austin, wo Jessica sieben Jahre lang angestellt war, hat sie nur die Hälfte verdient von dem, was sie jetzt monatlich erhält. Für Krankenhäuser ist die Beschäftigung von Travel Nurses mit hohen Kosten verbunden, sie kosten doppelt so viel wie reguläre Angestellte.
Dazu kommen Gebühren an die Agentur für die Vermittlung. Zudem gibt es unsichtbare Kosten wie die Einweisung, sei sie auch noch so kurz, oder die fehlende Beständigkeit innerhalb des Hauses.

"Das kann unglaublich frustrierend sein"

Rebecca Givan unterrichtet an der School of Management and Labor Relations der Rutgers Universität.
Sie sagte dem Radiosender NPR: "Wir haben die Festangestellten, die gerade jetzt während der Pandemie ihr Bestes unter wirklich schwierigen Bedingungen leisten. Und sie mussten damit leben, dass ihre Krankenhausleitung Lohnerhöhungen oder die Zahlung einer Gefahrenzulage ablehnt. Und dann sehen sie diese Travel Nurses, Reisekrankenschwestern, die ein Mehrfaches ihres Gehalts verdienen und das kann unglaublich frustrierend sein."
Jessica, die noch bis vor Kurzem festangestellt war und nun als Travel Nurse arbeitet, bestätigt das:
"Wir arbeiten zusammen, aber es gibt schon Kommentare wie 'Na du verdienst doch mehr.' Und ich sagte dann: 'Hey, ich war noch vor zwei Monaten in der gleichen Situation wie du. Auch ich war meinem Arbeitgeber gegenüber sehr loyal. Es tut mir leid, dass das System nicht besser ist.'"
Zwei Männer bringen einen Kranken auf einer fahrbaren Liege in ein Krankenhaus in New York.
US-Gesundheitssystem an der Belastungsgrenze: Ein Covid-Patient wird in ein New Yorker Krankenhaus eingeliefert. © Wang Ying/XinHua/dpa
"The system, das System"- dieser Begriff taucht beim Thema Travel Nurses immer wieder auf. Ein Mitarbeiter eines Krankenhauses in Washington D.C., der anonym bleiben möchte, beklagt: Wenn eine Einrichtung eine Travel Nurse anheuern muss, ist das ein Zeichen von "Versagen", von "schlechtem Management".
Wegen der hohen Kosten würde jedes Krankenhaus gern darauf verzichten. Stattdessen sollten seiner Meinung nach Krankenhäuser mehr Krankenschwestern fest anstellen, höhere Gehälter zahlen, die Zahl der Stunden drosseln, mehr Urlaubstage anbieten.
Travis Pierce, der selbst jahrelang als Travel Nurse gearbeitet hat, lacht: "Er hat Recht, es haut so nicht hin", sagt er. "Statistiken zeigen, dass Krankenschwestern in der Notaufnahme nach drei Jahren erste Anzeichen eines Burn-outs zeigen. Und dann steigen sie nach ein paar Jahren ganz aus. Wenn es so weitergeht, wird man Travel Nurses auch in Zukunft brauchen."

"Es hat Vorteile für die Zukunftsplanung"

"Es ist unglaublich anstrengend gerade" erzählt Oscar Garza. "Aber es hat auch Vorteile für die Zukunftsplanung, weil ich gerade so viel Geld ansparen kann für meine Familie oder mein späteres Zuhause."
Er ist 31 Jahre alt und seinen Schilderungen nach zu urteilen lebt er den Traum als Travel Nurse.
"Meine erste Station war in Houston, Texas, dann war ich für ein ganzes Jahr am Universitätsklinikum Stanford in Kalifornien, danach in Denver, Colorado, dann in Seattle im Nordwesten. Dann habe ich einen Monat freigemacht und war in Thailand und danach habe ich in Palm Springs weitergearbeitet und ging als Nächstes nach San Diego."
Ein junger Mann mit Ganzkörperkunststoffbedeckung, Maske, Visier und Kopfbedeckung inclusive.
Oscar Garza in Arbeitskleidung. Trotz aller Belastungen möchte er noch zwei bis drei weitere Jahre als Travel Nurse arbeiten. © Oscar Garza
Seit dreieinhalb Jahren ist er unterwegs. Für seinen ersten Einsatz hat er sich noch einen kleinen Transporter gemietet, um ein paar Möbel mitzubringen. Einmal und nie wieder. Inzwischen kommt nur noch das mit an den nächsten Ort, was in sein Auto passt.
"Es ist ein tolles Abenteuer", erzählt er. "Ich sehe, wie es sich im pazifischen Nordwesten lebt, in den Rocky Mountains oder in Nord- und Südkalifornien. Ich liebe es, dass ich das alles ausprobieren kann, was man sonst nur in der Werbung sieht: Die Wanderwege, Geländewagen fahren, die Rucksacktouren - es ist eine großartige Chance."

Neue Freunde an jedem Ort

Inzwischen hat er sich daran gewöhnt, immer mal wieder "der Neue" zu sein. Aber bislang habe er an jedem Ort neue Freunde und freundliche Kollegen kennengelernt. Doch die Arbeit während der Coronakrise hat auch bei ihm Spuren hinterlassen.
"Viele Menschen sterben, wohin man sieht", sagt er. "Ich hatte ein paar Patienten, die gestorben sind, ihre Familie am anderen Ende der Telefonleitung."
Eine Hündin genießt die Aussicht von einer erhöhten Plattform aus.
Außerhalb der Klinik Oscar Garzas ständige Begleiterin: Hündin Leia Rose.© Oscar Garza
Oscar sagt, er komme damit klar. Hilfsangebote vonseiten des Krankenhauses hat er bislang noch nicht Anspruch genommen. Doch er entschied sich vor Kurzem einen Hund zu adoptieren.
Sein Sibirischer Husky Leia Rose trägt ein pinkes Halsband und ist nun außerhalb des Krankenhauses seine ständige Begleiterin. Der erste Schritt in Richtung Wurzeln schlagen?

Die Flexibilität des Jobs genießen

Langfristig, denkt Oscar, möchte er schon irgendwo "ankommen", eine Familie gründen. Aber momentan genießt er die Flexibilität des Jobs noch sehr. Gerade ist er auf dem Weg, seinen nächsten Job in Colorado anzutreten und plant, den Sommer in Alaska zu verbringen. Insgesamt sind in den USA vier Millionen Krankenschwestern tätig.
Es sind schon jetzt zu wenige und die Situation wird in Zukunft noch schwieriger, erklärt Anne Dabrow Woods. Sie ist Leitende Krankenschwester beim Informationsportal für Berufe im Gesundheitswesen Wolters Kluwer Health.
"Ein Grund für die Knappheit ist, dass wir immer älter werden", erläutert sie. "Es gibt einfach nicht genug Krankenschwestern, die sich um all die Menschen kümmern können. Anders als noch vor ein paar Jahrzehnten, werden die Menschen heute häufiger 90 oder 100 Jahre alt. Das ist ein wesentlicher Faktor."

Viele Bewerber, zu wenige Ausbilder

Dazu kommt der fehlende Nachschub. Bewerber gibt es, aber zu wenige Ausbildungsplätze. Laut des Verbandes American Association of Colleges of Nursing kamen 2019 80.000 qualifizierte Bewerber nicht zum Zug, weil es zu wenige Ausbilder, klinische Plätze und Klassenräume gab.
Gut acht Prozent aller Stellen für Lehrkräfte sind derzeit nicht besetzt. Die bedenklichste Zahl: Nach Schätzungen des Verbandes wird in den kommenden fünf Jahren gut ein Drittel aller Lehrkräfte in Rente gehen.
Ein junger Mann mit gelbem Mundschutz, Brille und einem blauen Kittel.
Passionierte Travel Nurses wie Oscar sind wichtig für das Gesundheitssystem in den USA. © Oscar Garza
Und nicht zu vergessen: Pflege ist harte Arbeit, die Belastung enorm, sagt Lisa Bonsall. Sie ist unter anderem für das Portal Nursingcenter.com tätig.
"Es ist körperlich anstrengend", erzählt sie. "Es ist emotional fordernd. Es laugt uns aus. Krankenschwestern erkranken häufiger an Depressionen als der Rest der Bevölkerung und auch die Suizidrate ist unter weiblichen Pflegekräften höher als im Durchschnitt. Wir müssen also genau schauen, wie wir uns besser um Pflegepersonal kümmern können. Es ist einfach ein schwerer Job."

Kollegen auf Zeit und für den Notfall

Deshalb werden in den USA Travel Nurses weiterhin ein fester Bestandteil des Gesundheitssystems sein. Ein Traum für die, die gern reisen, die Flexibilität und Ungebundenheit schätzen - und eine Erleichterung für jene, die Hilfe auf ihrer jeweiligen Station benötigen. Kollegen auf Zeit, die im Notfall gemeinsam helfen.
Mehr zum Thema