Reise ins Tiefkühlfach der Erde

Rezensiert von von Susanne Billig · 20.09.2005
Ende 2004 macht sich das deutsche Forschungsschiff "Polarstern" auf den Weg in die Antarktis, wo sie an eine riesige Eisscholle andocken soll. Mit an Bord sind der Fotograf Ingo Arndt und der Reporter Claus-Peter Lieckfeld, die nun mit dem Text-Bild-Band "Logbuch Polarstern" ihre Reiseeindrücke schildern.
"Mein erster großer ist aus der Nähe ein Charakterdarsteller, ein Gigant, Wiedergänger aus meinen Kindheitsträumen. Wo er eintaucht, schimmert das Wasser ultramarinblau. Seine Stirnseite trägt ein blendend weißes Dach, darunter einen weit vorragenden Erker. Fliegende Wolkenschatten lassen seine Flanke vibrieren. "

Jubelnd begrüßen die Reisenden den ersten Eisberg auf dem Weg zum Südpol – das gehört zu den Ritualen an Bord. "Logbuch Polarstern" lädt seine Leserinnen und Leser mit lebendigen Schilderungen und prächtigen Farbfotografien auf eine Reise in die Antarktis ein, ins Tiefkühlfach der Erde.

Im Bauch des Forschungsschiffes warten Labore, Aquarien und Kühlräume auf Proben, die mit schweren Winden aus zehntausend Metern Tiefe gezogen werden können. Sogar Hubschrauber für Aufklärungsmissionen trägt das Schiff zum Südpol.

Schon achtundachtzig Antarktisfahrten hat die "Polarstern" hinter sich, als der Fotograf Ingo Arndt und der Reporter Claus-Peter Lieckfeld an Bord gehen, um die Abenteuer einer modernen Südpol-Expedition zu dokumentieren. Das Schiff wird an einer Eisscholle im Südpolarmeer festgemacht, um den fünfzig Wissenschaftlern Ausflüge in die einzigartige Natur der Antarktis zu ermöglichen.

Ungefährlich ist das nicht: So müssen Tauchgänge unter das Eis abgebrochen werden, weil die Meeresströmung nicht einschätzbar ist. Das alles und mehr im Dienste der Wissenschaft: Grundlagen– und Klimaforschung heißt der Auftrag. Dazu gehört die Lebensweise von Tieren und Pflanzen in und unter den Eisschollen ebenso wie das Messen von Gezeiten und Strömungen, die Bewegungen der Eisberge, oder die Bedeutung von Eis- und Meeresalgen für das globale Klima im größten Reinluftgebiet der Welt. An Bord wollen die Wissenschaftler sich gegenseitig mit Daten versorgen und so ihr Wissen zusammentragen.

Claus-Peter Lieckfeld, lange Redakteur der Zeitschrift Natur, schreibt kraftvoll, stilsicher und sehr persönlich. Wer einen nüchternen Wissenschaftsreport sucht, wird hier nicht fündig - der Autor bringt seine Erlebnisse ins Spiel, interessiert sich auch für die amüsanten Details am Rande.

"Ich habe viel gelernt in den vergangenen Wochen. Ich verirre mich nicht mehr in den Schiffsdecks und den Auf- und Abgängen; ich verwechsle nicht mehr die Shop-Öffnungszeiten (Dienstag: Spirituosen, Donnerstag: Bier und alkoholfreie Getränke), ich setze mich nicht mehr versehentlich auf den Kapitänsstuhl; ich kenne über fünfzig Wissenschaftler mit Vornamen. Und – gewaltiger innerer Umbruch – ich, der größte mir bekannte Computer-Ignorant zwischen den beiden Polarkreisen, kann das bordeigene Intranet nutzen, frei nach der Devise: Nur die Not gebiert Großes."

In einer Bucht des Südlichen Ozeans bildet sich im Winter eine riesige Eisdecke, halb so groß wie Nordamerika. Jeden Sommer taut sie auf, um im nächsten Winter wieder zu gefrieren. Enorme Licht- und Temperaturschwankungen sind die Folge – ein extremer Lebensraum für bislang kaum erforschte Tiere und Mikroorganismen. Der Autor ist meeresbiologischer Laie – sein Staunen und seine Begeisterung stecken an. Selbst komplizierte Sachverhalte verwandelt er mit leichter Hand in spannende Lektüre.

"Foraminiferen, zu Deutsch Kammerlinge, sind vermutlich die vielseitigsten Einzeller, die die Evolution hervorgebracht hat; sie sind so unfassbar differenziert in ihren Lebensäußerungen, dass die übliche Zuordnung in den Bereich des "primitiven" Lebens völlig unpassend erscheint. Kammerlinge umgeben sich mit Kalk-, Sand- oder Silikatgehäusen. In den Gehäusen von Arten, die vor hunderten von Millionen Jahren lebten, kann man noch den Salzgehalt, die Temperatur und den Nährstoffgehalt des damaligen Meeres ablesen."

Auf großem Format und an die zweihundert Seiten präsentiert "Logbuch Polarstern" die farbigen Fotografien von Ingo Arndt, vielfach preisgekrönt für seine Naturaufnahmen. Mit Arndts Blick die Antarktis zu bereisen, ist ein großartiges Erlebnis: Da lehnt man oben auf Deck an der Reling, unruhig wirft sich das Schiff in die nächste Woge, Himmel und Horizont verschwimmen hinter der Gischt.

Da zwängt man sich unten im Bauch des Schiffes durch den froschgrünen Maschinenraum, fast hört man den Lärm der Motoren, riecht das Maschinenöl. Zum Anfassen nah scheint die junge Robbe, die sich vertrauensvoll auf der Eisscholle räkelt und herzhaft in die Kamera gähnt. Sturmvögel gleiten durch die glasklare Luft, und unten im Meer verschluckt durchsichtig die Qualle den Krill. Präzision und Transparenz der hundertfünfzig Bilder – manche erstrecken sich über zwei Seiten - sind atemberaubend.

"Logbuch Polarstern" ist liebevoll und aufwändig fotografiert, geschrieben und gestaltet - ein wunderschönes und besonderes Buch. Und wer das alles auf der Stelle mit eigenen Augen sehen möchte, kann bequem mit Ingo Arndt und Claus-Peter Lieckfeld auf die Reise gehen.

Ingo Arndt und Claus-Peter Lieckfeld: "Logbuch Polarstern"
Verlag Frederking & Thaler, Reihe "GEO"
39,90 Euro, 200 Seiten, 140 Farbfotos, 5 Karten/Skizzen
Im Sommer ist das Polarmeer in der Arktis von Eisschollen bedeckt.
Im Sommer ist das Polarmeer in der Arktis nur von Eisschollen bedeckt.© AWI