Reise in die Sprachlosigkeit

Rezensiert von Edelgard Abenstein · 06.04.2006
Die chinesische Autorin Xinran erzählt in "Himmelsbegräbnis" die Geschichte von Shu Wen, die auf der Suche nach ihrem Mann nach Tibet reist. Es wird eine Reise in ein unbekanntes Land und in eine fremde Kultur. "Himmelsbegräbnis" ist nun auch als Hörbuch erschienen.
"Wie lange sind Sie in Tibet gewesen? - Mehr als dreißig Jahre, erwiderte sie leise. – Dreißig Jahre? Aber warum sind Sie dorthin gegangen, aus welchem Grund? - Aus Liebe, antwortete Shu Wen leise und starrte unentwegt in den leeren Himmel, der hinter meinem Rücken lag."

Xinran ist eine berühmte Journalistin, die im Radio vielen Frauen die Chance bietet, ihre Geschichten zu erzählen, als sie Mitte der 90er Jahre die ehemalige Ärztin Shu Wen trifft. Deren Bericht wird zum phantastisch anmutenden Stoff, aus dem Xinran ihren Roman über eine einzigartige Liebe und ein Leben voller Abenteuer auf dem Dach der Welt gestaltet. Shu Wens Ehe war gerade 100 Tage alt, als ihr Mann zu einem Militäreinsatz nach Tibet eingezogen wird und dabei umkommt. Da sie an seinen Tod nicht glauben mag, beschließt sie China zu verlassen, um ihn zu suchen. Es wird eine Reise voller Gefahren, denn Tibet ist ein feindliches Land, seit Maos Revolutionstruppen es besetzt halten. Und es wird für viele Jahre eine Reise in die Sprachlosigkeit.

"Aber was immer auch geschieht, denken Sie an das eine. Am Leben zu bleiben, ist bereits ein Sieg … Wan Lang gab ihr einen Kugelschreiber und ein Tagebuch: Schreiben kann die Quelle von Stärke sein."

Shu Wen überlebt nur, weil eine tibetische Nomadenfamilie sie bei sich aufnimmt. Zunächst von der traditionellen Lebensweise abgeschreckt, beginnt sie deren Bräuche allmählich zu verstehen, teilt deren harten Alltag und erkennt die spirituelle Macht eines Lebens im Einklang mit der Natur.

"Der älteste Sohn Hom war kein Kind mehr ... Er konnte nicht lesen, aber er konnte wunderschön auf der tibetischen Laute spielen und er sang sehr gut. Jeden Tag in der Abenddämmerung, wenn die Familie mit persönlichen Dingen beschäftigt war, hörte Wen ihn vor dem Zelt singen. Sie wusste nicht, was er sang, weil es für sie vollkommen unmöglich war, sich mit Hom zu verständigen, aber sie spürte, dass es um die Gefühle eines Mannes für eine Frau ging. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie ein 18-jähriger Junge, der in solcher Isolation aufgewachsen war, so eindringliche Melodien erfinden konnte."

Immer ist die Fremde aufs Neue erstaunt über die Unterschiede zwischen den chinesischen und tibetischen Sitten. Bevor sie auch die für sie hermetische Sprache lernen muss, begegnet ihr wie durch ein Wunder die junge Tibeterin Zhouoma (Dschouoma), die einige Zeit in China verbracht hat.

"Als sie zum ersten Mal sah, dass Geer ein Gewand nähte, konnte sie es kaum glauben. Zhouoma, rief sie, komm doch mal her, was treibt denn Geer da. Seilbao, die in der Nähe stand, verstand Wens Reaktion nicht. Was war daran so seltsam, dass die Männer der Familie die Näharbeiten erledigten. Zhouoma belehrte sie, dass chinesische Männer kaum jemals eine Nadel anrühren und das Nähen und Flicken in China ausschließlich Frauensache seien. Ni fing an zu lachen: Die Frauen und nähen - das kann doch nicht sein. Seilbao schüttelte den Kopf und teilte die Zweifel ihrer Tochter angesichts einer so absurden Idee."

Manche Bücher gewinnen, wenn sie gekürzt werden. So auch Xinrans "Himmelsbegräbnis". Die Lesefassung konzentriert sich auf die farbigen Schilderungen von Lebensweisen, Festen und aufregenden Geschehnissen, spart gekonnt die allzu plakativen, schwärmerischen Betrachtungen über die Religion aus. Dafür nehmen poetische Landschaftsbilder einen größeren Raum ein und immer wieder die eindrucksvollen Passagen zum Vergehen der Zeit.

So wie Xinran die ihr anvertraute Geschichte erzählt, behutsam und voller Respekt, so sachlich und schnörkellos liest Ursula Illert die unglaublichen Begebenheiten. Was wie eine Legende anmutet, voller Wunder und glücklicher Fügungen, beruht doch ganz und gar auf Tatsachen. Glücklicherweise widersteht Ursula Illert der Versuchung, die leicht kitschgefährdeten Stellen, in denen es um das Spirituelle geht, mit Bedeutung aufzuladen. Ebenfalls unterlässt sie es, den Stoff episch zu stilisieren. Manchmal freilich gerät ihre Stimme allzu naiv.

Doch der Roman über dreißig Jahre zwischen Seen und heiligen Bergen, Nomadentum und Buddhismus, Hoffnung und Erinnerung ist ein eindrucksvolles Zeugnis über Chinas Geschichte und darüber, wie fremd einem Heimat werden kann.

Denn als Shu Wen das Rätsel um den Tod ihres Mannes gelöst hat, kehrt sie als eine zutiefst andere nach Hause zurück.

"Das Haus ihrer Schwester mit seinem Innenhof, seinen Mondtoren, seinen Garten am Fluss war verschwunden. An seiner Stelle ragten unzählige Hochhäuser auf. Sie stand verwirrt da, und wusste nicht, was sie tun oder wen sie um Hilfe bitten sollte ... Man fragte sie nach ihrem Personalausweis, aber sie verstand nicht, was das war."

Xinran: Himmelsbegräbnis. Ein Buch für Shu Wen
Aus dem Chinesischen von Sigrid Langhäusser
Gelesen von Ursula Illert
steinbach sprechende bücher. 2006
3 CDs 246 Minuten, 19,90 Euro
Rezensiert von Edelgard Abenstein