Reihe: Schöne Bescherung

Wo Tessenow und Gropius verstaubten

Die Sonderausstellung "Neue Baukunst! Architektur der Moderne in Bild und Buch" des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte in Oldenburg
Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Oldenburg © picture alliance / dpa / Ingo Wagner
Von Jochen Stöckmann · 16.12.2013
Unmengen von Briefen und Fotos zur Architektur der 20er-Jahre lagerten im Keller – daraus machten zwei Forscher die Ausstellung "Neue Baukunst!" im Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Oldenburg.
Blaue Mappen mit handschriftlichen Vermerken wie "Tessenow", "Mendelsohn" oder "Gropius" fand Rainer Stamm bei seinem Amtsantritt als Leiter des Landesmuseums Oldenburg vor. Der Kunsthistoriker wusste sofort, was da auf Stahlschränken im Keller verstaubte: Die Korrespondenz eines seiner Vorgänger, des Gründungsdirektors Walter Müller-Wulckow. Der hatte in den 20er-Jahren in der populären Reihe der "Blauen Bücher" vier Bände über zeitgenössisches, modernes Bauen herausgegeben und dafür mit den Architekten in regem Austausch gestanden. Zumindest Fachleute waren der Meinung, dies alles sei längst bekannt – aus dem Archiv des Verlegers Langewiesche in Wien.
Andreas Rothaus: "Der Großteil, der zu sehen ist, sind Sachen, die nicht in den 'Blauen Büchern' publiziert worden sind. Hier ist zum Beispiel ein Fabrikgebäude von Carl Zeiss in Jena, von Fahrenkamp 1931 gebaut worden. Das war irre schwierig, das herauszufinden. Weil Fahrenkamp – man denkt da an das Shell-Haus in Berlin. Also habe ich bei Zeiss angerufen, aber die mussten auch erst einmal wühlen: Aha, das ist von Fahrenkamp!"
Andreas Rothaus konnte als Gastkurator mit seiner Kollegin Claudia Quiring den Oldenburger Architekturfund aufarbeiten. Für die Finanzierung des Projekts gab es Mittel aus dem Fonds "Pro Niedersachsen". Erst dadurch wurde die jetzt präsentierte Ausstellung möglich, anschaulich ergänzt durch Architekturmodelle und begleitet von einem bis in spannende Details recherchierten Katalogbuch.
Andreas Rothaus: "Diese riesige Korrespondenz ist komplett ungeordnet gewesen. Über 3.000 Blatt mit über 380 Architekten beziehungsweise Architekturbüros."
Nicht allein für die Ausstellung hat Rothaus Ordnung in das bislang kaum beachtete Konvolut gebracht. Über das Kulturportal "Europeana" sollen die Ergebnisse der detaillierten Bestandsaufnahme demnächst als Bibliografie oder digitales Findbuch im Internet verfügbar sein. Eine umfassende Präsentation im Netz stößt allerdings auf Hindernisse, das hat mit einer ganz besonderen Bescherung zu tun: Es fanden sich auch Fotografien, und da sind die Urheberrechte meist ungeklärt.
Andreas Rothaus: "Das lag in Zeitungsbündelnzusammengeschnürt, ein Bindfaden darum. Und in dieser Korrespondenz lagen Fotoabzüge. Das wusste man, dass da was war. Aber was genau, wie viel, woher das kam, war vollkommen unbekannt. Also, es gibt da eine Bibliothek, sie schlagen ein Buch auf – und es fällt Ihnen ein Foto entgegen, das vor 80 Jahren darin verschwunden ist."
Wohl an die 6.000 Fotos, so schätzt Rothaus heute, gingen durch die Hände des Herausgebers Müller-Wulckow. Alles Originalabzüge, authentische und zumindest kulturgeschichtlich wertvolle Quellen, die in jedem Einzelfall von den beiden Kuratoren entsprechend pfleglich behandelt und aufgearbeitet werden mussten.
Andreas Rothaus: "Es hieß: Das sind wahrscheinlich so an die 100. Und man fängt an: 100, 200, dann waren wir bei 500. Da haben wir schon gedacht: Das ist jetzt echt schon sehr viel. Aber es ging immer weiter, man hat überall etwas gefunden, das ist wirklich Wahnsinn gewesen."
Niedersachsen hat kein Museum, das auf Baugeschichte spezialisiert ist
Es wäre hilfreich gewesen, in dieser glücklichen, aber eben auch unvorhergesehenen Situation auf bestehende Archiv- oder Museumsstrukturen zurückgreifen zu können. Aber weder Niedersachsen noch die angrenzenden Bundesländer verfügen über Museumseinrichtungen, die auf Architektur oder Baugeschichte spezialisiert sind. Am Ende jedoch ist es in nicht einmal zwei Jahren gelungen, Fotos zuzuordnen und neue Zusammenhänge zu erschließen.
Andreas Rothaus: "Also Renger-Patzsch ist nicht dabei, das ist wahrscheinlich dann doch mal veräußert worden in den 60er- oder 70er-Jahren. Aber Architekturfotografen wie Hugo Schmölz oder Ernst Scheel aus Hamburg, Max Krajewsky, Arthur Köster, das sind im Prinzip die bekannten Architekturfotografen aus der Zeit. Die sind mit vintage prints dann hier im Bestand vertreten."
Aber nicht nur, weil es sich um Originale handelt, kann Oldenburg jetzt mit seinem Pfund wuchern: Müller-Wulckows Archiv ist nicht nur für die Region von Bedeutung, in seinem Nachlass spiegelt sich die gesamte deutsche Architektur- und Baugeschichte der 20er- und frühen 30er-Jahre.
Andreas Rothaus: "Er war sehr bemüht, zu den Objekten, zu den Gebäuden auch selbst hinzureisen. Vor allem im Jahr 1928 hat Müller-Wulckow sehr viel angeschaut und persönlich die Architekten besucht. Es waren nicht nur reine Korrespondenzbekanntschaften, sondern er ist dann nach Berlin gefahren und zusammen mit Taut zu den Siedlungen rausgefahren oder nach Magdeburg gefahren und hat sich von Carl Krayl durch Magdeburg führen lassen."
Mit Bernhard Hoetger findet sich auch ein Künstler unter Müller-Wulckows Briefpartnern. Als Architekt wurde der Bildhauer erst mit seinem eigenen Haus in der Künstlerkolonie Worpswede bekannt – und wegen seiner recht eigenartigen Baumethode.
Andreas Rothaus: "Es gibt dann das Gerücht, dass Hoetger nicht nach Plänen gebaut hat, sondern ad hoc morgens auf der Baustelle stand und dann gesagt hat: 'Nee, das bauen wir jetzt so!' Und das hat Müller-Wulckow sehr intensiv begleitet."
Bis in diese Einzelheiten lässt sich Architekturgeschichte wieder rekonstruieren mit dem endlich gehobenen Archivschatz. Natürlich nicht per Internet, sondern nur an Ort und Stelle: im Landesmuseum in Oldenburg.

Ausstellung "Neue Baukunst! Architektur der Moderne in Bild und Buch" im Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg bis 23.2.2014
Ausstellungskatalog herausgegeben von Claudia Quiring, Andreas Rothaus und Rainer Stamm
Kerber Verlag Bielefeld, 288 Seiten, Museumspreis 24,80 Euro

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