Reihe "Kunst im Augenblick"

Kunstwerke als Hilfe in extremen Zeiten

Collage: links eine Geige, in der Mitte ein Bücherstapel und rechts eine alte Fotokamera.
Was kann uns helfen, die extreme Situation der Coronakrise zu verstehen und zu überstehen: Musik, Bücher, Fotografie? © Unsplash / Dominik Scythe / All Bong / Hai Phung
06.04.2020
Kann Kunst helfen, besser durch diese außergewöhnliche Coronazeit zu kommen? In der Reihe „Kunst im Augenblick“ erzählen Kritikerinnen und Kritiker, in welchem Kunstwerk, Buch, Theater- oder Musikstück sie eine neue Perspektive auf heute sehen.
Es ist eine extreme Zeit, in der wir gerade leben. Vielleicht hilft die Kunst, sie etwas besser zu verstehen?
Wir haben unsere Kritikerinnen und Kritiker gebeten, einen Moment innezuhalten und sich an das Kunstwerk, das Buch, das Theaterstück zu erinnern, das gerade jetzt neue Blicke auf diese ungeahnte Realität erlaubt. In insgesamt acht Teilen erzählen sie uns davon.
Die Werke, die sie ausgewählt haben, kommen aus allen Epochen, aus allen Genres. Sie haben eines gemeinsam: Sie helfen uns ein wenig über die Zeit der Coronakrise.

Die Fazit-Reihe "Kunst im Augenblick"

Anette Schneider über das Foto "Ich möchte hier raus!"
Anette Schneider denkt in der jetzigen Situation häufig an das Foto "Ich möchte hier raus!" von Birgit Jürgenssen aus dem Jahr 1976. Das Foto mit der jungen Frau, die sich mit dem Gesicht an eine Fensterscheibe presst, wirke wie ein Hilfeschrei einer Gefangenen und erinnere in unserer Situation an Isolation und Quarantäne.
Carsten Probst über "Raw Material: Washing Hands"
Das Kunstwerk der Stunde ist für Carsten Probst die Videoinstallation "Raw Material: Washing Hands" von Bruce Naumann aus dem Jahr 1996. Fast eine Stunde ist da zu sehen, wie sich der Künstler die Hände wäscht. Je länger das dauert, desto gespenstischer und obsessiver wirkt die Handlung. Aber Händewaschen schützt vor Viren.
Elisabeth Nehring über "Reflection" von Isabelle Schad
Unsere Tanzkritikerin Elisabeth Nehring sagt, die Peformance "Reflection" von Isabelle Schad könne man als Sinnbild für unsere Demokratie sehen. Sie zeige, was wir gerade nicht haben, nämlich Gemeinschaft in Bewegung. "Körper, die zusammenkommen, gemeinschaftliche Bewegung herstellen, und zwar auf eine sehr ungezwungene Art und Weise. Und damit ist dieses Stück genau das Gegenbild von dem, was wir gerade mit der sozialen Distanzierung erleben."
Janis El-Bira über "Ein Volksfeind" von Henrik Ibsen
Theaterkritiker Janis El-Bira findet, dass "Ein Volksfeind" von Henrik Ibsen aus dem Jahr 1882 immer ein großartiges Stück ist, zur Zeit aber besonders aktuell. Die Geschichte über ein verseuchtes Kurbad zeigt, wie dünn die Fundamente unserer Gesellschaft sind. Jetzt in der Krise können wir zeigen, dass sie trotzdem halten.
Tobias Wenzel über Yuri Herreras "Körperwanderung"
Für Tobias Wenzel ist der Roman "Körperwanderung" von Yuri Herrera das Kunstwerk der Stunde. In diesem geht es um eine Epidemie: Man soll sich nicht umarmen und zuhause bleiben. Doch die Hauptfigur muss raus, um Streit zu schlichten und Kondome zu kaufen.
Anne Kohlick über Niccolò Ammanitis "Anna"

Für Anne Kohlick ist Niccolò Ammanitis Roman "Anna" das Buch der Stunde. Darin geht es um die 13-jährige Anna, die auf Sizilien lebt. Doch dieses Sizilien unterscheidet sich sehr stark von dem, wie wir es heute kennen. Alle Erwachsenen sind einem Virus zum Opfer gefallen. Und alle Heranwachsenden trifft das gleiche Schicksal, sobald sie geschlechtsreif werden. Anna versucht aufs Festland zu flüchten, wo sie auf überlebende Erwachsene mit einem Gegenmittel hofft.
Uwe Friedrich über "Il diluvio universale" von Gaetano Donizetti

Bei unserem Kritiker Uwe Friedrich läuft gerade eher zufällig "Die Sintflut" von Gaetano Donizetti. Dieser stammt aus Bergamo, dem Epizentrum der Coronakrise in Italien. "Ein Schreckensszenario entwirft auch Donizetti in seinem Oratorium, das doch sehr nach einer Belcanto-Oper klingt, da weiß man nämlich auch nie, ob es sich gerade um eine Komödie oder eine Tragödie handelt, und das hat etwas ungemein Tröstliches."
Rudolf Schmitz über "Plight von Joseph Beuys
Unser Kritiker Rudolf Schmitz erinnert sich an das Begehen der Installation "Plight" von Joseph Beuys. Der Raum sei für ihn großartig und beklemmend zugleich gewesen, weil man in dem dort hergestellten Schweigen und Stillstand seinen eigenen Herzschlag habe hören können. "Insofern ist 'Plight' für mich das Bild der Situation, das Bild der Krise." Beuys habe oft "aus diesem Zustand nach der Katastrophe" gearbeitet. "Und wenn man heute durch die Städte geht, hat man dieses Gefühl von 'The day after', aber es könnte bei all dem Schrecken auch eine Chance sein, um zu überlegen: Was sind dei Dinge, auf die es wirklich ankommt?"
Ingo Arend über "Handschuh" von Meret Oppenheim
Das Kunstwerk der Stunde ist für Ingo Arend die Installation "Handschuh" von Meret Oppenheim aus dem Jahr 1985. Auch wenn die Künstlerin bei den beiden Handschuhen aus grauem Ziegenleder, auf denen sie im roten Siebdruck die Adern ihrer eigenen Hände aufgebracht hat, kaum an die Schutzhandschuhe gedacht hat, die wir in der Coronakrise benutzen, so zeigen sie für unseren Kritiker doch die offenen Adern unserer Zivilisation.
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