Reiche wollen raus aus China

Von Markus Rimmele · 25.09.2012
Während ein Teil der Chinesen in Armut lebt, führen andere einen ausschweifenden Lebensstil in einer Welt der Privatjets und Präsidentensuiten. Doch viele Reiche sitzen auf gepackten Koffern: Der Standard in ihrem Land reicht ihnen nicht mehr aus.
Amerika soll ja ein Paradies sein, sagt Frau Zhu und wühlt sich energisch durch das Gedränge. Es ist voll hier. 2000 Besucher kommen pro Tag zur Investorenmesse ins Shanghaier Hotel Ritz-Carlton. Hier werben US-amerikanische Firmen um chinesisches Kapital. Für die Investition gibt es dann eine Green Card, eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung für die ganze Familie. Wer hier herkommt, ist reich, so wie Frau Zhu, die Shanghaier Unternehmerin, die nicht sagen will, womit genau sie ihr Vermögen gemacht hat. Frau Zhu hat jedenfalls genug von China. Sie will eine Million US-Dollar in den USA investieren und dann umziehen. Ihr Sohn ist schon dort zum Studium. Und dort soll er auch bleiben können.

Sie macht das alles für ihren Sohn, sagt Frau Zhu und guckt ernst. Der liebe die USA. Die Leute dort seien nett, die Umwelt besser. Und das mache die Leute glücklicher als in China. Frau Zhu will nicht, dass der Junge zurück nach Shanghai kommen muss. Amerika ist einfach besser als China, sagt sie.

Frau Zhu zupft sich ihre Pelzjacke zurecht. Nein, Englisch kann sie überhaupt nicht. Sie war auch noch nie in Amerika und weiß gar nicht, was auf sie zukommt. Doch das ist alles nebensächlich.

Um das Bildungswesen geht es ihr, die Wirtschaft, die Menschen, die Luft und die Natur, zählt sie auf. Die öffentliche Wohlfahrt sei ja auch besser als in China. Irgendwo in die Nähe von New York. Da will sie hin. New York ist ein bisschen wie Shanghai, glaubt sie.

Messen und Info-Veranstaltungen für auswanderungswillige Investoren finden in Chinas Metropolen regelmäßig und immer öfter statt. Vor allem von amerikanischer Seite. Denn die US-Regierung erteilt Green Cards für Investoren, die mindestens zehn Arbeitsplätze in den Vereinigten Staaten schaffen. Das ist das sogenannte EB5-Einwanderungs-Programm. Der Amerikaner Joseph McCarthy arbeitet für die Firma American Dream Fund. Das Unternehmen sucht auf der ganzen Welt Investoren für bestimmte EB5-Projekte in den USA zusammen und hilft den Kunden dann bei der Abwicklung der Investition und dem Green-Card-Antrag bei den US-Behörden. Die Nachfrage in China steigt und steigt.

Vier bis sieben Info-Veranstaltungen pro Woche führt er mit seinen Kollegen durch. Im ganzen Land. Meistens an den Wochenenden. Während der Woche folgen dann Einzelgespräche mit Investoren. Nicht nur in Peking, Shanghai, Guangzhou. Sondern auch in Harbin, Chongqing, Qingdao. Er hat das Gefühl, jeden Tag in einer anderen Stadt aufzuwachen.

Zehn bis 20 US-Firmen, schätzt McCarthy, machen in China das Gleiche wie sein American Dream Fund. Im Jahr 2006 kamen gerade einmal 63 Chinesen über das EB5-Programm in die USA. Im vergangenen Jahr waren es schon 2500. 75 Prozent der Investment-Immigranten in den Vereinigten Staaten sind mittlerweile Chinesen. Andere Staaten mit Einwanderungsprogrammen melden ähnliche Zahlen und einen sprunghaften Anstieg der chinesischen Bewerbungen.

In China leben heute rund eine Million Euro-Millionäre. Einer Umfrage zufolge denken rund 60 Prozent davon übers Auswandern nach oder haben bereits entsprechende Schritte eingeleitet.

Die meisten Investor-Immigranten sind Eltern, sagt Joseph McCarthy. Chinesen schicken ihre Kindern gern an amerikanische Universitäten. Und als Green-Card-Besitzer müssen sie nicht die Studiengebühren für Ausländer bezahlen, sondern die amerikanischen. Pro Jahr und Student ist das ein Unterschied von 20.000 bis 40.000 Dollar.

Eine amerikanische Ausbildung gilt im bildungsbeflissenen China als das Nonplusultra. Doch es geht den reichen Chinesen nicht nur um den Zugang zu amerikanischen Unis. Den können sich viele Familien auch ohne Green Card leisten. Die Auswanderung hat noch mehr Vorteile. Auf die Green Card folgt oft der US-Reisepass, mit dem die ganze Welt offen steht. Das Gleiche gilt für die Pässe anderer westlicher Länder. Mit einem chinesischen Pass hingegen geht ohne langwierige Visumsanträge fast gar nichts.

Jean-Francois Harvey arbeitet als Immigrations-Anwalt in Hongkong. Seine Klienten, zu 70 Prozent Festland-Chinesen, kommen zu ihm mit dem Wunsch nach einem ausländischen Pass. Harvey berät sie. Er kennt die Einwanderungsprogramme der verschiedenen Länder genau.

Die USA sind eine gute Option, sagt er. Auch Irland hat ein neues Investoren-Programm. Bulgarien sei auch eine gute Wahl, weil bald Mitglied im Schengen-Raum. Der große Star aber ist der karibische Inselstaat St. Kitts und Nevis. Ein wunderbarer Reisepass, findet Harvey, weil er Reisen nach Europa oder Kanada ohne Visa erlaube. Auch Zypern wird derzeit populär.

Neben Bildung und Reisepass stellt Harvey bei den Chinesen noch ein weiteres Auswanderungsmotiv fest: Stabilität. Bei vielen ist es in den vergangenen Jahren in China gut gelaufen. Aber sie glauben nicht, dass es so weiter geht, sagt Harvey. Sie wollen eine Exitstrategie, einen Notausgang, falls etwas schiefgeht. Genauso wie seine Kunden aus Pakistan.

In den letzten zehn Jahren haben wir uns alle nur darum gekümmert, Geld zu machen. Jetzt geht es darum, den erworbenen Wohlstand zu schützen, sagt ein chinesischer Agent bei der Shanghaier Investment-Messe.

Und dann sind da natürlich noch die Fragen der allgemeinen Lebensqualität: Umweltverschmutzung, allgegenwärtige Korruption, Fake-Produkte, Lebensmittelskandale, das Wohnen in Hochhausapartments anstatt in Häusern mit Garten. Chinas Reiche haben genauso viel Geld wie die Reichen in Europa oder den USA. Jetzt wollen sie auch den gleichen Lebensstandard. Doch der ist in China auch mit viel Geld nicht zu kaufen.

Viele Auswanderer planen allerdings keinen endgültigen Abschied aus China. Sie behalten meist eine Wohnung dort, sind oft im Lande, betreiben nach wie vor ihre Geschäfte. In vielen Fällen zieht auch nur die Frau mit den Kindern um, und der Mann bleibt zunächst zurück und arbeitet.

Ein kurzes Treffen am Flughafen in Shanghai mit drei Damen auf dem Sprung. Sie wollen ihre Namen lieber nicht preisgeben. Chinas Reiche sind scheu. Alle drei stammen vom chinesischen Festland, und alle drei haben mittlerweile einen neuen Pass oder stehen kurz davor, einen zu haben. Die eine - in der Lebensmittelbranche tätig - lebt nach wie vor auf dem Festland, reist aber mit ihrem Hongkonger Pass.

Sie und ihre Familie haben jetzt alle eine Hongkonger Aufenthaltsgenehmigung, erzählt sie. Mit dem Hongkonger Pass kann sie visumsfrei in 140 Staaten der Welt reisen und leichter Immobilien in Hongkong kaufen.

Die zweite Dame arbeitet im Kosmetikgeschäft und wartet gerade darauf, dass ihre Immigration nach Kanada durchgeht. Sie zieht wegen der Ausbildung des Sohnes um. Viele ihrer Freunde seien auch weggegangen. Einer hat sogar sein ganzes Kapital aus China abgezogen aus Angst vor politischen Veränderungen.

Die dritte im Bunde ist eine eingebürgerte Singapurerin, arbeitet in der Finanzbranche. In den nächsten drei bis fünf Jahren kann sie sich eine Rückkehr nach China nicht vorstellen. Wegen der niedrigen Lebensqualität, der Umweltverschmutzung. Selbst das Wasser schmecke komisch. Singapur oder Hongkong seien einfach kosmopolitischer als das Festland.

Wer es sich leisten kann, zieht weg oder baut sich zumindest ein zweites Standbein im Ausland auf. Das gilt gerade und umso mehr auch für Chinas Beamte und Parteikader. "Nackte Beamte" nennt man in China solche Staatsvertreter, deren Familien schon im Ausland leben, deren meist durch Korruption erlangtes Kapital ebenfalls schon weggeschafft wurde, die also nur noch darauf warten, am Ende selbst den Absprung zu wagen. In den vergangenen 20 Jahren, so schätzt ein chinesischer Think Tank, haben sich bis zu 18.000 Beamte ins Ausland abgesetzt. Mit sich nahmen sie umgerechnet 15 Milliarden Euro.

Bis in höchste Regierungskreise reicht der Trend zum Auswandern. Chinas wahrscheinlich nächster Staatspräsident Xi Jinping hat Gerüchten zufolge eine Tochter in den USA, einen Bruder in Australien und eine Schwester in Kanada. Auch in Chinas Showbusiness sind nicht-chinesische Pässe weit verbreitet. Gong Li, die Grande Dame des chinesischen Kinos, hat einen Pass aus Singapur, ebenso der Kampfkunst-Schauspieler Jet Li. Und die schöne Zhang Ziyi ist Hongkongerin geworden.

Sonntagnachmittag in Shanghai, in der Englisch-Schule "English First". Hier erhalten Kinder ehrgeiziger Eltern Englisch-Zusatzunterricht. Oder Kinder von Eltern, die vorhaben auszuwandern. Eltern wie Wang Baozhong. Er schickt seine zehnjährige Tochter hierher, um sie für ein Leben außerhalb Chinas zu rüsten.

Er bereitet sich mit seiner Familie auf die Auswanderung vor, erzählt er. Fast die Hälfte seiner Freunde, rund 20 Familien, leben schon im Ausland. Vor allem in Kanada, Australien und in den USA.

Wang Baozhong gehört nicht zur chinesischen Ober-, sondern eher zur Mittelschicht. Der Wunsch nach einem Leben im Ausland ist auch dort immer häufiger anzutreffen. Wang arbeitet als technischer Leiter bei einem internationalen Telekommunikationskonzern und hofft, darüber ins Ausland zu kommen.

Die ganze Familie hätte neue Chancen. Die nächste Generation würde in einer guten Umgebung leben. Mit besseren Arbeitsmöglichkeiten. In China, speziell in Shanghai seien Wohnungen nicht mehr günstig. Fürs gleiche Geld gibt's in Australien ein Haus mit Garten.

Wang Baozhong will nicht den Kontakt nach China verlieren. Ihm schwebt vor, wie seine Freunde regelmäßig zurückzukommen. Die Familie soll am besten an zwei Orten gleichzeitig leben.

In der Sprachschule hier in Shanghai-Pudong sind derzeit 1400 Kinder eingeschrieben. In ganz Shanghai betreibt English First 15 solcher Sprachzentren. Das Geschäft boomt, nicht zuletzt wegen der Auswanderungswilligen, sagt die Managerin der Schule, Bai Jiaoyu.

Chinesische Kinder haben es schwer, sagt sie. Schon vom Kindergarten an müssen sie sich auf die Uni-Aufnahmeprüfung vorbereiten und extrem hart lernen. Die junge Elterngeneration will nicht, dass ihre Kinder so leiden und dann trotzdem keine guten Aussichten haben. Seit 2010, sagt Bai, melden sich immer mehr Eltern in der Schule, die ihre Kinder ins Ausland schicken wollen. Sie suchen die gezielte Vorbereitung auf internationale Sprachexamina. Ihre Zahl wird sehr schnell größer.

Reiche wollen China verlassen, Eltern aus der Mittelschicht ebenfalls. Und dann ist da noch die Gruppe der jungen Berufstätigen. Leute wie Du Chen. Die 35-Jährige ist alleinstehend, erfolgreich, arbeitet für eine französische Kosmetikfirma. Sie hat in Europa studiert, kennt den Westen, weiß, wie die Welt außerhalb Chinas funktioniert. Du Chen hat im kanadischen Québec einen Antrag auf Einwanderung gestellt.

Das materielle Leben in China hat sich verbessert, sagt sie. Man kann mehr kaufen. Doch die Leute verstehen wenig, sind oberflächlich. Politik und Kultur machen sogar Rückschritte, findet sie. Du Chen hält Chinas Gesellschaft für unreif, instabil. Sie fühlt sich unsicher.

Wenn es klappt mit der Emigration nach Kanada, will sie trotzdem zunächst in China bleiben, so lange die Wirtschaft noch gut läuft, sagt Du Chen. Doch sie könnte dann jederzeit weggehen, falls etwas in China schiefgeht. Immer mehr Leute scheinen davor Angst zu haben. Die Reichen haben Zweifel, dass ihr Geld in China sicher ist. Die Mittelschicht blickt mit Sorge auf die immer größere Spaltung der Gesellschaft in arm und reich, auf ein reformunfähiges politisches System, in dem die Korruption blüht. Viele Chinesen trauen Chinas Zukunft nicht.

Das ist eine schlechte Entwicklung für das Land. Die Regierung sollte gewarnt sein, sagt Du Chen. Das ist ein gesellschaftliches Problem, um das sich die Regierung kümmern muss. Sie will sich nicht für die Gesellschaft opfern. Sie will nicht die zweite Hälfte ihres Lebens verschwenden.


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