Regisseur Schwochow über "Deutschstunde"-Verfilmung

"Die Sprache von Lenz ist so bildgewaltig"

09:51 Minuten
Filmszene aus "Deutschstunde" von Christian Schwochow mit Ulrich Nöthen und Levi Eisenblätter
"Deutschstunde" von Christian Schwochow: Jens Ole Jepsen (Ulrich Nöthen) und sein Sohn Siggi (Levi Eisenblätter) im Watt. © Network Movie / Wild Bunch Germany 2019 / Georges Pauly
Christian Schwochow im Gespräch mit Patrick Wellinski · 28.09.2019
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Ein Roman, der ihn umgehauen hat: Christian Schwochow verfilmte "Deutschstunde" von Siegfried Lenz, weil er das Leid des Krieges so poetisch und fantasievoll vermittelt. Lenz' zeitlose Geschichte habe ihn eingeladen, neue eigene Bilder zu finden.
Patrick Wellinski: Knapp 600 Seiten in gut zwei Stunden zu kondensieren, ist eine wahre Herausforderung – besonders dann, wenn es sich bei der literarischen Vorlage um einen so essenziellen Klassiker wie Siegfried Lenz' "Deutschstunde" handelt. Christian Schwochow hat es jetzt gewagt: In seiner Kinoversion spielt Ulrich Noethen den pflichtbewussten Nazi Jepsen und Tobias Moretti den Maler Nansen, die während des Zweiten Weltkrieges regelmäßig aneinandergeraten.
Ich konnte vor der Sendung mit Regisseur Christian Schwochow über seine Version der "Deutschstunde" sprechen und wollte zunächst von ihm wissen, wann er denn das erste Mal das Buch gelesen hat.

"Das Ding hat mich echt umgehauen"

Christian Schwochow: Ich hab die "Deutschstunde" vor etwas über zehn Jahren gelesen. Ich hatte den Roman bei mir im Regal stehen, wie auch andere Romane von Lenz, weil ich nämlich, seit ich Schüler bin, Bücher kaufe – in Buchhandlungen, Antiquariaten, auf Flohmärkten, oder auch wenn Leute die am Straßenrand zu verschenken haben, komme ich daran nicht vorbei.
Das führt dazu, dass ich viele Bücher nicht gelesen habe, die ich zu Hause habe, aber mit Lenz hab ich irgendwann angefangen. Die Reihenfolge war, glaube ich, "Heimatmuseum", die "Schweigeminute" und dann die "Deutschstunde", und die beiden anderen Bücher haben mir schon sehr gefallen, und das Ding hat mich aber echt umgehauen. Und das ist etwas über zehn Jahre her.
Wellinski: Aber das war der Blick des Lesers, des interessierten Lesers. Was ist es denn genau an der "Deutschstunde", das Sie als Filmregisseur interessiert, also was ist an der Geschichte filmisch interessant?
Schwochow: Ganz profan: Ich hab eine unheimliche Nähe zu dieser Geschichte erstmal verspürt, obwohl sie im Zweiten Weltkrieg angesiedelt ist. Ich komme aus dem Norden, ich bin auf der Insel Rügen geboren – die raue Natur, die Wichtigkeit der Natur, aber auch das Spröde der Menschen, das kam mir erst mal sehr vertraut vor. Ich finde, die Sprache von Lenz ist so bildgewaltig, ist so poetisch und fantasievoll und wie er es mit dieser Sprache schafft, eine Geschichte zu schreiben, die mir das Leiden von Krieg auf eine völlig neue Art und Weise geschenkt hat.
Ich muss gestehen, so viele Filme haben wir schon gesehen, mit immer gleichen Aufmärschen, mit den Hakenkreuzfahnen, mit Adolf Hitler, mit Goebbels-Reden. Es ist hart, das zuzugeben, es berührt mich nicht mehr. Ich habe Widerstände aufgebaut, und ich hab auch das Gefühl, dass Geschichten, die wirklich in die Zwischenräume gehen, oftmals gar keine Chance haben, hinter diesen ganzen Zeichen und Symbolen auch irgendwie verschwinden.
Und hier erzählt jemand von einem Ort, wo der Krieg gar nicht stattfindet, der nördlichste Punkt Deutschlands, auf eine so subtile Art, wie Psychologien wirken, wie Beziehungen, Freundschaften, Familien an diesem Gift des Faschismus zerbrechen – und das durch eine Geschichte von einem Jungen, der zwischen zwei Vaterfiguren steckt und von beiden im Prinzip instrumentalisiert wird, weil sie sind Freunde gewesen, aber heute durch den Krieg erbitterte Feinde.

"Die Geschichte endet ja nicht mit der Kapitulation"

Das hat mich so emotional gekriegt und so umgetrieben, vor allem weil es in diesem Roman auf sehr gewaltige, bildhafte und psychologisch feine Art und Weise nicht nur um den Zweiten Weltkrieg, sondern um die Wiederholung von Geschichte geht. Die Geschichte endet ja nicht mit der Kapitulation, sondern sie geht weiter und sie ist da. Das ist aber erst im Laufe dieser letzten Jahre, als wir wirklich entschieden haben, wir machen den Film – das ist etwa fünf Jahre her –, da waren wir in diesem Land schon an einem anderen Punkt, und da hatte ich das Gefühl, dieser Roman fordert mich eigentlich auf, eine Geschichte zu erzählen, die ins Heute hineinreicht.
Jetzt hab ich lang geredet, aber es ist eine Geschichte, die nicht auch fünf Jahre nach Kriegsende aufhört, sondern es geht ja darum, dass der Vater von Siggi Jepsen, der einzige Polizeiposten in dieser Region, das Malverbot überbringen muss an den Maler und das auch überwachen muss. Dort ist eigentlich niemand anders sonst, der das kontrolliert. Da kommen zwar ab und zu mal Männer in Mänteln, aber irgendwie denke ich mir, hier am Ende Deutschlands – ich hab's im Film so ein bisschen als das Ende der Welt inszeniert – ein apokalyptischer, ja, wie ein eigener Planet hab ich das Gefühl, wo kaum Menschen sind, das war für mich so ein Bild, wie absurd eigentlich so ein Krieg ist, dass sie sich bekriegen, obwohl der Krieg dort gar nicht wirklich stattfindet.
Wir haben jetzt wieder eine Zeit, wo innerhalb von wenigen Jahren total totalitäre Ansichten, radikale Positionen wahnsinnig laut übers Land geblasen werden, und heute, vier, fünf Jahre später, sind wir total daran gewöhnt. Also das, was ich noch vor einigen Jahren als total radikal hätte, beziehungsweise würde ich das immer noch als radikal bezeichnen, ist längst Mainstream.
Ich hab das Gefühl, wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass es jetzt diese Trumps und Johnsons dieser Welt gibt und die Gaulands und die Höckes dieses Landes, dass ich das Gefühl habe, wir müssen jetzt auch mal wieder Geschichten erzählen, die natürlich ihren Ursprung in der Vergangenheit haben, aber wirklich dafür sorgen, dass die auch als heutig verstanden werden. Und da finde ich den Roman wirklich zeitlos.

"Es gibt Möwen, die so schreien wie ein Goebbels"

Wellinski: Welche Bedeutung hat für Sie das große Wort Werktreue, oder anders gefragt: Wie groß war die Ehrfurcht dann letztendlich vor so einem großen Klassiker der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts?
Schwochow: Wenn ich so einen Roman wie "Deutschstunde" nehme, dann weiß ich, dass ich da eine Verantwortung habe. Die Radikalität von Lenz, die Erzählabsicht dieser Auseinandersetzung mit der Väter-Generation, das war uns von vornherein klar, dass wir das immer bewahren werden, aber natürlich muss man sich auch frei machen. Der Roman hat über 500 Seiten, ich hab zwei Stunden im Film.
Und es gibt eine ganze Menge Figuren und Arme, die auch total toll und opulent sind und ausschweifend und auch verrückt – da sind wirklich verrückte Szenen drin –, die man im Laufe der Zeit immer weiter verliert oder verlieren muss, um wirklich bei dem Kern anzulangen.
Und wir, Heide und ich, meine Mutter, die das Drehbuch geschrieben hat, wir haben uns überlegt: Uns interessiert das Modellhafte an dieser Geschichte. Das hat dazu geführt, wirklich auch Figuren zu entfernen. Ich hab den Roman, der so viele Bildmetaphern für den Krieg kreiert – also das Hakenkreuz gibt es nicht, Goebbels gibt es nicht, aber es gibt Möwen, die so schreien wie ein Goebbels und die so eine Gefahr irgendwie ausstrahlen wie ein Goebbels oder wie eine aufmarschierende Armee oder wie Flugzeuggeschwader. Und ich hatte immer das Gefühl, der Lenz lädt mich als Filmemacher mehr oder weniger ein: Finde weitere Bilder, finde neue Bilder.

"Wir wissen natürlich auch heute viel mehr"

Ich hab irgendwann gar nicht mehr infrage gestellt, ob ich das darf oder nicht, weil er arbeitet mit bildhaften Metaphern, und wir haben noch 20, 30, 50 neue hinzugefügt. Ich finde das aber trotzdem irgendwie noch werkgetreu, auch wenn sich vieles verändert hat. Ganz wichtig – und das war uns früh wichtig – ist, wie wir die Figuren führen. Und da war schnell klar, die Aufteilung bei Lenz, die ich im Jahre 68 total nachvollziehe, in Täter und Opfer, die stimmt für uns so nicht und die finden wir auch nicht mehr interessant.
Christian Schwochow bei einem Interview anlässlich seines Films "Deutschstunde", der am 3. Oktober ins Kino kommt.
"Der Roman hat über 500 Seiten, ich habe zwei Stunden im Film", beschreibt Christian Schwochow die Herausforderung, vor der er stand.© picture alliance / dpa / Annette Riedl
Einen Nazi nur als Nazi und als einen Roboter Hitlers zu erzählen, finde ich uninteressant. Ein Opfer, was nur Opfer ist, finde ich nicht interessant. Vor allem die Figur von Siggi, der im Roman ja rückblickend erzählt wird, ist mit einer unheimlichen Milde ausgestattet. Er guckt sehr sanft auf das Ganze, und damit wird er auch als Teenager, finde ich, fast so ein bisschen der schon gereifte Lenz persönlich. Und da habe ich ganz früh zu Heide gesagt, der muss anders sein, der muss schärfer sein, er muss radikaler sein, er muss traumatisierter sein, wir müssen die Narben spüren, die Wunden, die er in sich trägt, weil wir wissen natürlich auch heute viel mehr.
Deswegen verletzt der sich am Anfang des Films auch selber, der sticht sich in die Hand, weil er diesen Schmerz irgendwie umlenken muss, den er in sich trägt. Und wir haben immer so das Gefühl gehabt, das Bild, dieser Siggi ist eigentlich so ein Vorläufer der späteren RAF, das ist jemand, der gegen den eigenen Vater auch Steine werfen würde, der zumindest diese Art von Wut mit sich nehmen muss, und somit, glaube ich, ist er auch eine modernere Figur geworden. Wir haben vieles behalten, aber haben trotzdem versucht, jede Figur mit eigenen Ambivalenzen auszustatten.

"Alle Figuren in diesem Film sind Täter und Opfer"

Wellinski: Wenn Sie sagen, das Modellhafte hat sie beide letztendlich bei der Entwicklung des Drehbuches interessiert und dann auch später beim Inszenieren – also wir haben den Dorfpolizisten Jepsen, Nazi aus pervertiertem Pflichtbewusstsein, dann den Maler Max Nansen, der in so eine Art introvertierten Widerstand gegangen ist –, wie Sie schon sagen, Sie inszenieren diese beiden Männer etwas überhöhter, das zeigen Sie auch mit Ihrer Kameraarbeit sehr interessant. Sie bekommen etwas Archaisches, aber was bekommen die beiden denn?
Schwochow: Das sind jetzt keine Stellvertreterfiguren geworden, ich wollte schon eine Psychologisierung. Modellhaft ist für mich, wie Menschen und wie Psychen zermalmt werden in einer Diktatur, ohne ganz eindeutige Schuldzuweisungen zu betreiben oder dass man sagt irgendwie, der Faschismus wirkt so, dass ein Mensch nur böse ist.
Der Jepsen – natürlich kann man sich fragen, hätte der sich auch anders entscheiden können, das ist eine Frage, die ich mir heute sehr stark stelle. Ich würde heute niemanden mehr in Schutz nehmen, dass er Befehlsempfänger ist, sondern ich glaube, der Mensch hat Mittel, sich auch zur Wehr zu setzen und sich anders zu entscheiden. Wobei, über den Zweiten Weltkrieg muss man das sehr vorsichtig sagen, weil das war doch sehr, sehr kompliziert und hätte ganz große Konsequenzen gehabt.
Aber das, was er tut, auch im Umgang mit seinem Sohn, das tut er aus Liebe. Und da steht er für etwas, für einen deutschen Typus des Täters, und der Maler steht für einen Typus des Opfers, sondern sie sind beide auch beides letztlich. Und das finde ich so interessant: Alle Figuren in diesem Film sind Täter und Opfer, auf sehr unterschiedliche Art und Weise, und das Perverse und die große Tragik ist vor allem in der Figur des Siggi erzählt, der eine Obsession bekommt: Er muss die Kunst retten, er muss die Kunst und somit auch den Künstler retten, und er wird am Ende dafür kriminalisiert von beiden Männern.
Tragischer kann ein Held eigentlich gar nicht sein. Und das meine ich an dem Modellhaften, dass es im Prinzip fast was Griechisches, was Antikes bekommt, dieser Junge zwischen den zwei Männern.

Entscheidung zwischen der Kunstfigur und dem realen Emil Nolde

Wellinski: Eine der vielen Debatten, die um die "Deutschstunde" von Lenz geführt wurden, betraf die Figur des Malers Max Nansen, den Lenz nach Emil Nolde gestaltet hat. Wie sehr hat er damit den glühenden Nazi Nolde eigentlich reingewaschen? Wie kann man heute von einem Malerschicksal in der NS-Zeit erzählen, wenn Bundeskanzlerin Merkel Nolde-Gemälde abhängt? Ich hatte Regisseur Schwochow auch danach gefragt, wie er während der Dreharbeiten sich mit der Nolde-Debatte auseinandergesetzt hat.
Schwochow: Ich muss sagen, als ich den Roman gelesen habe, hab ich die Geschichte gelesen. Ich hatte keine Ahnung, wie Lenz zu seinen Figuren gekommen ist. Insofern, diese Anfangsfantasie, die hab ich mir immer bewahrt. Und natürlich, wenn man anfängt, sich damit zu beschäftigen – das ist ja einige Jahre später erst gewesen, dass wir begannen mit der Drehbucharbeit –, dann stellten sich diese Bezüge her.
Und wir wussten auch sehr früh, weil es auch schon 2014 eine Ausstellung gab, dass Nolde dieser wahnsinnige Antisemit war und wirklich ein Verehrer Hitlers und wirklich schrecklichste Dinge geliebt und verehrt und befürwortet hat. Dennoch hatte ich immer das Gefühl, selbst wenn Lenz sehr viele Bausteine von diesem realen Nolde übernommen hat, bis hin in die Gemälde, hat er keine Geschichte über Emil Nolde erzählt. Und deswegen haben wir nicht lange darüber nachgedacht, ob wir jetzt diesen Nolde noch mal wieder konkretisieren müssen, wo Lenz ja trotzdem auch schon eine Kunstfigur erschaffen hatte.
Im Film ist das viel schwieriger, weil da musst du entscheiden, welche Bilder zeigst du – nehmen wir jetzt Nolde-Bilder. Und dann haben wir entschieden, das würde den Film für mich ganz klein machen, und das ist auch gar nicht mit dieser Vorlage zu leisten. Also wenn, dann müsste man – und das wäre interessant – einen Film über Emil Nolde machen, eine Art Biopic, aber in dieser Konstellation, ein Kind zwischen zwei Vätern, und der eine vertritt den Staat und der andere vertritt die Kunst, was soll daraus werden? Ein Kind, was zwischen zwei Nazis steht? Das würde die Geschichte auflösen.

"Es ist nicht die Geschichte, die ich erzählen will"

Es ist natürlich ganz toll, dass diese Nolde-Debatte gerade entsteht, und ich glaube, dass wir auch eine klare Position beziehen, ihn explizit nicht zu zeigen, und trotzdem ist was drin. Der Lenz, der hat natürlich an diesem Mythos, den Nolde gebaut hat, unbewusst mitgeholfen, wir – aber gar nicht wegen Nolde, sondern weil das unser Figurenverständnis ist – haben aber auch den Maler, glaube ich, viel ambivalenter gezeigt, als er im Buch angelegt ist. Das ist jemand, der den Jungen auch missbraucht, der durch ihn malt, das gibt es bei Lenz gar nicht.
Und dann gibt es eine Geschichte, die gibt es im Roman auch nicht: Da gibt es ein verlassenes Haus, und natürlich, die Assoziation deportierte Landjuden, die, glaube ich, erzähle ich da sehr explizit, und auch Siggi fragt alle, aber auch den Maler, wo sind die Leute hin. Der sagt, ich weiß nicht, also er leugnet eigentlich, dass dort ein Verbrechen begangen wurde. Er sagt, sind die an einem Ort, leben die noch, sind die tot, und der Maler sagt, bestimmt nicht, also auch der verdrängt die Leiden der anderen und bleibt bei sich, und das finde ich ganz wichtig.
Ich glaube, jetzt den realen Nolde irgendwie im Film stärker zu konkretisieren, das wäre eine Geschichte gewesen, die mich eben in dieser Konstellation gar nicht interessiert hätte. Ich glaube auch ehrlich gesagt, das wäre gar nicht gegangen. Insofern, ja, als die Drehbucharbeit – weil die dauert drei, vier Jahre ... Wir haben darüber nachgedacht und vor allem nämlich an dem Punkt, wo ich meiner Chefmalerin Gabriele sagen musste, welche Bilder malen wir, lass uns eine Kunstrichtung erfinden, lass uns recherchieren, was gab es in der Zeit.
Für mich war das wichtigste Bild in dem Film die "Lachmöwen im Dienst", und das ist ja auch schon bei Lenz drin, und das ist ganz klar kein Nolde, sondern das kommt aus der Karikatur, das kommt aus der neuen Sachlichkeit. Da war Lenz letztlich auch ein Stück weit ungenau, weil jemand, der diese Landschaften wie von Nolde gemalt hat, da sind die "Lachmöwen im Dienst" irgendwie ... Wir haben das nicht in einen Zusammenhang bringen können und haben da, glaube ich, extrem selbstbewusst gesagt, ja, man wird das wahrscheinlich von uns erwarten, aber es ist nicht die Geschichte, die ich erzählen will.

"Nansen ist vor allem ein besessener Künstler"

Wellinski: Es stimmt schon, dass Sie sagen, dass der Nansen wesentlich widersprüchlicher angelegt ist, die Frage ist aber, wo ist er eigentlich. Ist er in einer Art innerer Migration, ist er im inneren Widerstand, ist er der Widerstand, ist er ein Mitläufer, ein Wegducker – weil man das bei Jepsen ja schon durchaus ziemlich konkret verorten kann, jedenfalls seine Weltsicht wird relativ klar. Wie ist das bei Nansen?
Schwochow: Nansen ist vor allem ein besessener Künstler, und der muss malen. Und natürlich ist er damit in dem Moment ein Widerständler, indem er sich dem Malverbot widersetzt, beziehungsweise es ist ja erst anders: Der nimmt das erst mal gar nicht ernst, weil er glaubt – und das finde ich auch so nachvollziehbar. Ich meine, wir erzählen diesen Ort als ein Nirgendwo, wo keine Panzer rollen, wo keine SA ist, wo keine Wehrmacht ist, und deswegen ist der Krieg irgendwo anders. Deswegen nimmt er dieses Malverbot gar nicht ernst, und in dem Moment, wo er merkt, es wird ernst, es ist doch ernst genommen, widersetzt er sich trotzdem und in einer gewissen Art und Weise provoziert er auch, aber er ist natürlich jetzt kein klassischer Antifaschist. Das fände ich auch irgendwie falsch, aber er ist jemand, der trotzdem seiner Obsession mit Haltung weiter nachgeht.
Insofern, ein Wegducker ist er auf keinen Fall. Er ist ein mutiger Mann, der sich dazu bekennt, dass er seinen Beruf und seine Leidenschaft weiter ausüben wird, weil er es gar nicht anders kann. Das ist sein Mittel, sich zu äußern. Aber natürlich ist er auch einer, der in Kauf nimmt, dass seine Frau dabei draufgeht, dass seine Frau eine ist, die sich verkämpft an dieser Stelle und die mehr und mehr trinkt und die er alleine lässt.
Er ist auch jemand, der – wie soll ich das sagen – ich würde ihn gar nicht nur so in diesem Systemzusammenhang betrachten wollen, sondern er ist jemand, der obsessiv ist, der dabei in gewisser Art und Weise auch über Leichen geht - und auch seinen geliebten Siggi auf eine gewisse Art und Weise missbraucht.

Volle Punktzahl von der Jugendjury

Wellinski: Für mich war die "Deutschstunde" noch Schullektüre, ich frag mich jetzt, weil der Film auch so wuchtig daherkommt, auch so gut besetzt ist und das Kino ja so stark noch dominiert, auch im populären Diskurs, und ich hab gesehen, dass die "Deutschstunde" auch durchaus mit Lehrmaterialen beworben wird. Ist das auch so eine Art Idee des Projektes, weitreichende Idee, dass man durch den Film wieder ans Buch kommt, oder besteht nicht die Gefahr, dass durch den Film das Buch wiederum etwas verdrängt wird?
Schwochow: Das Buch, glaube ich, wird nach wie vor gut verkauft. Schullektüre ist es, glaube ich, nicht mehr, und das liegt vor allem daran, dass in Schulen – ich finde das total krass – gar keine ganzen Romane mehr gelesen werden, höre ich immer wieder. Selbst in Deutsch-Leistungskursen liest man Ausschnitte, und dann ist so ein 500-Seiten-Buch natürlich irgendwie schwierig.
Aber ich hoffe das sehr, weil ich glaube wirklich, dass das ein Buch ist, was eine eigene Art hat zu erzählen, auch von den Schrecken von Kriegen, und gerade die Leiden von einem Kind. Ich glaube, da gibt es unheimlich viel Identifikation, auch mit Jugendlichen über eine Situation in Syrien zu sprechen oder in Libyen oder im Iran. Insofern wünsche ich mir das sehr. Das ist natürlich so was, was erst im Laufe der Herausbringung, wenn ein Verleih an Bord kommt ... Den Film, wenn ich ihn konzipiere, drehe, schneide, dann erarbeitet man noch kein Schulmaterial, sondern wenn der Film dann daliegt, liegt das dann irgendwann nahe.
Man glaubt an den Film, und der hat das Potenzial, über das Bildungsbürgertum hinaus zu wirken. Deswegen versuchen wir, mal zu testen, wie interessiert sind Lehrer. Und da ist was Tolles bei dem Medium Film, dass Lehrer natürlich mittlerweile unheimlich dankbar sind. Also ich weiß zum Beispiel, bei meinem Film über Beate Zschäpe und den NSU, der ist sehr oft in Schulen eingesetzt worden. Und wenn das passiert, dann sag ich, Gott sei Dank, weil es ist doch schlimm, wenn man nur für die Leute Filme macht, die es ohnehin schon wissen und die meiner Meinung sind. Von daher, je mehr, desto besser, und je jünger die Leute, desto besser.
Es gibt bei der Filmbewertungsstelle in Wiesbaden eine Jugendjury, die uns jetzt volle Punktzahl gegeben hat. Da hab ich so gedacht, yes, das finde ich total toll, weil da gehe ich erst mal nicht davon aus, dass wenn 15-Jährige diesen Film sehen, dass der sofort zu ihnen spricht. Und das ist dort offenbar passiert, und was Besseres kann ich mir gar nicht wünschen für den Film.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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