Regisseur Peter Palitzsch vor 100 Jahren geboren

Mit Theater die Wirklichkeit verändern

Der Theaterregisseur Peter Palitzsch, aufgenommen im Jahr 1984
"Der Tod Brechts war natürlich menschlich ein tiefer Schmerz, aber gleichzeitig ein Sprung sozusagen in das Ungewisse", sagte Peter Palitzsch. © picture-alliance / dpa / Wilhlem Leuschner
Von Cornelie Ueding · 11.09.2018
Wie sein Lehrer Brecht wollte Regisseur Peter Palitzsch mit dem Theater in die Wirklichkeit hineinwirken. Zusammen mit Schauspielern und Publikum begab er sich auf kollektive Entdeckungstour – und feierte große Erfolge nicht nur auf deutschen Bühnen.
"Ich hatte das Glück, in einem Kreis von antifaschistischen Künstlern zu leben durch meinen Bruder und war sehr nachdenklich, und diese lange Zeit des Krieges – und man dachte, man kann nicht irgendeinen Beruf ergreifen. Man muss etwas tun, ja, etwas Politisches tun. Und das Zusammentreffen mit Brecht hat das vertieft und verstärkt."
Peter Palitzsch, geboren am 11. September 1918 in Deutmannsdorf in Schlesien, war 15 Jahre alt, als Hitler an die Macht kam. 27, als der Krieg zu Ende war. Und es gab nach diesen dunklen Jahren der Zerstörung nichts Wichtigeres für ihn als endlich etwas Sinnvolles aus seinem Leben zu machen. In dieser Situation wurde die Begegnung mit Theaterleuten und ganz besonders die mit Bertolt Brecht zum Schlüsselerlebnis – und Palitzsch entdeckte das Theater als seinen zentralen Wirkungsraum.

Sieben Jahre an der Seite Brechts

Zunächst als Dramaturg, wenig später als Regisseur. Sieben Jahre an der Seite Brechts – als dessen Schüler und Mitstreiter im neu gegründeten Berliner Ensemble. Ein Ort, in dem politisches Theater wie in einem Experimentierraum gleichsam neu erfunden wurde: Denn Brecht wollte mit seinem Theater in die Wirklichkeit hinein wirken und Palitzsch folgte dem Auftrag, Theater als Medium der Wirklichkeitsveränderung zu begreifen, auch nach dem Tod Brechts 1956 mit großer Intensität, gleichsam als sein theatralischer Nachlassverwalter.
"Natürlich war man beim Berliner Ensemble sehr aufgehoben, man arbeitete sozusagen mit Netz – und der Tod Brechts war natürlich ein menschlich ein tiefer Schmerz, aber gleichzeitig ein Sprung sozusagen in das Ungewisse."

Theaterarbeit als kollektiver Entdeckungsvorgang

Nicht nur der Tod des Lehrers Brecht war in dieser Phase des Umbruchs zu verarbeiten. Wenige Jahre später folgte nach dem Mauerbau der Bruch mit dem DDR-System und der Neuanfang im Westen, wo Palitzsch zunächst als Repräsentant "authentischer" Brecht-Interpretation gesehen wurde. Doch ob als Gastregisseur im In- und Ausland oder als Schauspieldirektor wie in Stuttgart – für Palitzsch blieb Theaterarbeit immer ein kollektiver Entdeckungsvorgang zusammen mit den Schauspielern und dem Publikum:
"Ich denke schon, dass es eine Zeit braucht, bis Theaterleute ein Empfinden dafür entwickeln, wie man auf ein Publikum reagiert. Man muss ein feeling entwickeln. Und ich denke, das tut man nicht intellektuell, sondern das geschieht, indem man in der Stadt lebt, mit den Menschen einen Wein trinkt oder einkauft usw."

Kreative Experimente statt routinierte Theaterarbeit

Routinierter Theaterbetrieb war Palitzsch unerträglich. Und so machte er in den 70er-Jahren das Frankfurter Schauspiel für acht Jahre zum Labor eines theatralischen Mitbestimmungsmodells.
"Der Regisseur wünscht sich, dass die humanistischen Anliegen der Schriftsteller auch in der Probenarbeit, in der Arbeit mit dem Stück auf die Schauspieler übergreifen. Und das geschieht oft nicht in dem mir ausreichend erscheinenden Maße."
Doch schon viel früher, 1965, bei seiner wohl umstrittensten Arbeit, der Uraufführung von Peter Weiss' Stück über die Frankfurter Auschwitzprozesse "Die Ermittlung", entschloss sich der oft als zu "verkopft" verschriene Kämpfer gegen Klischees und Typisierungen zu einer ganz und gar ungewöhnlichen Besetzung: jeder Schauspieler hatte wechselweise die Rollen der Täter und auch die der Zeugen zu übernehmen. Und keiner sollte eine Rolle spielen – sondern berichten, was da in dem Frankfurter Auschwitzprozess zutage getreten ist:

"Es gab nicht ein Schwarz-Weiß"

"Ich wüsste kein Argument, einem meiner Schauspieler zu sagen, du sollst den Burger spielen und du sollst den Zeugen spielen... Es schien mir unappetitlich der Gedanke, dass ein bestimmter Schauspieler immer einen Zeugen spielt, der von der Lagerleitung korrumpiert ist...
Peter Weiss zeigt ja eben, – was wir auch noch gern meinen –, dass es nicht ein Schwarz-Weiß gab. Es war eben ein Schwarz mit allen Grautönen bis zum Weiß. Das ist eine ganz ungeheure Erkenntnis für mich des Stückes."
Ein kreatives, verfremdendes und bewusst irritierendes Experiment, das eine nachhaltige Diskussion auslöste. Und das er später in gesteigerter Form noch einmal aufnehmen sollte: in Harold Pinters Stück über Folter "One for the Road", zu Deutsch: "Noch einen letzten" zu Beginn der Neunzigerjahre in Zürich.
Palitzsch ließ dasselbe Stück zweimal hintereinander spielen – mit vertauschten Rollen von Opfer und Täter. Und wer wollte dann entscheiden, wer schlimmer war: der grobschlächtige Täter-Typ oder der hundsgemeine, freundlich-sanfte Sadist. Peter Palitzsch starb 2004, 86-jährig – der vielleicht letzte Vertreter eines Stils, in dem Ensemblearbeit und Individualismus keine Gegensätze waren.
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