Regenwald im Amazonas

Ein Ökosystem droht zu kippen

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Ein kleiner See im Morgenlicht im Amazonas-Regenwald im brasilianischen Bundesstaat Pará.
Ein kleiner See im Morgenlicht im Amazonas-Regenwald im brasilianischen Bundesstaat Pará. © imago/Westend61/imageBROKER Florian Kopp
Von Michael Stang · 29.08.2019
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Der Regenwald in Brasilien ist nicht nur Sauerstoffspender, sondern er setzt auch Kohlendioxid frei. Wie genau das Ökosystem funktioniert, wissen die Forscher noch nicht. Was sie wissen: Leichte Änderungen im System könnten negative Folgen haben.
Der brasilianische Regenwald wird oft als Herberge oder Ursprung der Biodiversität angesehen. Niederschlag und Nährstoffe liefert er reichlich, so dass Tiere und Pflanzen in allen Formen und Farben nebeneinander leben können. Doch paradiesische Zustände herrschen dort nur auf den ersten Blick. Die Wälder sind fragile Systeme, die zunehmend Gefahren ausgesetzt sind. Neben dem Klimawandel setzen vor allem Abholzungen den zum Teil Jahrtausendealten Waldlandschaften zu.
Der Park des Nationalen Instituts für Amazonasforschung, kurz INPA, in Manaus. Neben Kautschukbäumen stehen hier Palmen mit fünf Meter langen Blättern, Mangobäume tragen zuckersüße Früchte, es gibt Papayas, Sternfrüchte und Bananen. Seit 1998 forscht Jochen Schöngart hier, in der Hauptstadt Amazoniens, auch wenn sein Arbeitgeber, das Max-Planck-Institut für Chemie, in Mainz sitzt. Jochen Schöngart ist auf dem Weg in sein Labor. Sein Spezialgebiet sind die Jahresringe von Bäumen.
Im Flur des Instituts lehnen an der Wand zahlreiche Baumscheiben, einige so groß, dass selbst der mit 1,90 Metern hoch gewachsene Forscher Mühe hätte, sie zu stemmen. Viele Exemplare stammen aus den eher trockenen Waldstandorten, andere aus den Überschwemmungswäldern. Die Scheiben unterscheiden sich deutlich in der Struktur der Rinde, aber auch in Farbe, Größe und Anzahl der Jahresringe.
"Wenn man dann Bäume hat, die auch sehr alt werden, 200, 300, 400 Jahre, kann man natürlich auch anhand dieser Beziehungen das Klima rekonstruieren."

Auch Tropenbäume können Jahresringe bilden

In der wissenschaftlichen Literatur war lange Zeit ignoriert worden, dass auch Tropenbäume Jahresringe bilden. In gemäßigten Breiten führen saisonale Temperaturschwankungen zu einem jährlichen Wachstumsrhythmus und damit zur Bildung von Jahresringen. Hier in den tropischen Tiefländern gibt es derartige Temperaturschwankungen nicht. Aber wiederkehrende Rhythmen existieren dennoch, etwa die Niederschlagsmenge. Einer ausgeprägten Trockenzeit folgt einmal im Jahr eine Regenzeit.
"Diese Regenfälle führen dazu, dass die Flüsse ja jährlich eine Überschwemmung haben und eine Niedrigwasserperiode und auch das kann zur Bildung von Jahresringen bei Tropenbäumen führen."
Die Anzahl und die Ausprägung der Ringe ermöglichen den Blick in die Vergangenheit. Erstmals können die Forscher anhand solcher Daten die Klimageschichte der Bäume im brasilianischen Regenwald beleuchten. Dieses Wissen ist die Voraussetzung für Entscheidungen auf ökologischer, wirtschaftlicher und politischer Ebene.
"Dann müssen sie natürlich wissen, wie lange braucht ein Baum, um solche Dimensionen zu haben; die ich möchte. Braucht der 100 Jahre, braucht der 1000 Jahre? Das macht natürlich, wenn wir langfristig denken, einen riesigen Unterschied, und da sind das Baumalter und die Zuwachsraten eine ganz wichtige und entscheidende Kenngröße."
Letzten Endes dreht sich alles um zwei Fragen. Wie funktioniert das System Regenwald und wie stabil ist es? Alles hängt davon ab, welche Kreisläufe den Regenwald prägen. Um sie zu verstehen, müssen die Forscher die Atmung des Waldes messen.

Auf einer Lehmpiste durch den Regenwald

Nur eine einzige Straße führt aus der Metropole Amazoniens heraus. Fährt man drei Tage weiter Richtung Norden, kommt man nach Caracas, der Hauptstadt Venezuelas. Nach einer Stunde Fahrtzeit warten zwei Jeeps am Waldrand. Für den Busfahrer, der das Team vom INPA hierher gebracht hat, ist hier Endstation. Denn die 34 Kilometer lange Lehmpiste in den Regenwald lässt sich nur mit Allradfahrzeugen meistern. Nach einer weiteren Stunde Fahrt erreichen wir das Camp.
Eine zweistöckige Hütte mit Küche dient als Lager, Forschungsstation und Lehranstalt. Wenn alle ausgepackt haben, soll es zu einem der Messtürme gehen.
"An den Türmen werden verschiedene Parameter erhoben, erstmal die ganzen meteorologischen Parameter wie Windgeschwindigkeit, Windrichtung, Niederschlag, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Sonneneinstrahlung."
Die Gruppe macht sich auf den Weg zum Messturm. Teil des Forscherteams ist auch Carlos Alberta Quesada, der sich mit langer Hose und Gummistiefeln durch den Urwald kämpft. Seit zehn Jahren kommt er regelmäßig hierher, manchmal bleibt er drei Wochen am Stück.
"In diesem Projekt arbeiten mehr als 100 Wissenschaftler, die verschiedenen Fragestellungen nachgehen. Die Hauptfrage ist aber: Wie funktioniert der Wald? Wie wachsen Bäume und wie schnell und wie alt werden sie überhaupt? Alle Parameter haben großen Einfluss auf die Struktur des Regenwaldes, ebenso die Frage, ob es Nährstoffe gibt, die das Wachstum beschleunigen oder verlangsamen und wie das alles zusammen mit dem Klimawandel reagiert."
Kurz vor dem Turm weist der Forscher zu einem kleinen zugewachsenem Seitenweg. Nach 20 Metern zeigt sich ein tiefes Loch:
"In dieser Grube können wir den Boden untersuchen. Hier sieht man, dass die Wände mit Folien abgedeckt sind, um eine Verdunstung zu verhindern. Alle anderthalb Meter haben wir Sensoren befestigt, die den Feuchtigkeitsgehalt konstant bis in 15 Metern Tiefe messen."


Der Feuchtigkeitsgehalt gibt den Forschern an, wie viel Wasser den Bäumen zum Leben und Wachsen zur Verfügung steht. Beim Blick in die Tiefe sieht man neben Wurzeln, die ins Freie ragen, auch das Grundwasser.
"Der Boden wirkt ja als Filter, so dass man das Wasser locker trinken kann, kein Problem, das ist gut und frisch."
Mit 325 Metern ist der Klimamessturm der höchste Turm Südamerikas. Die Forscher des Max-Planck-Institutes erhoffen sich von Treibhausgas- und Partikelmessungen wichtige Erkenntnisse über den Klimawandel.
Mit 325 Metern ist der Klimamessturm der höchste Turm Südamerikas. © picture alliance / dpa / Georg Ismar
Um die benötigten Daten zu gewinnen, nehmen Quesada und seine Kollegen aber nicht nur Bodenproben und analysieren das Grundwasser.
"Wir messen auf einem Hektar Waldfläche alle Bäume und begleiten sie über viele Jahre hinweg. Wir kehren regelmäßig zurück und schauen, wie sie gewachsen sind, was sich verändert hat, messen also den ganzen Bestand und notieren auch, wann und wo Bäume gestorben sind."
Quesada geht es nicht um das Alter einzelner Bäume, sondern um den Gesamtbestand. Und leichte Änderungen im System könnten das System kippen lassen. Denn: Wird an großen Flächen gerodet, wird der Regenwald schnell zu einer Kohlendioxidquelle. Diese Erkenntnisse hätten ein Umdenken bei ihm und seinen Kollegen ausgelöst. Der Urwald sei so instabil wie nie.

Der Ausblick ist atemberaubend

Nach insgesamt einer Stunde Fußmarsch ist die Gruppe am Ziel. Vor uns erhebt sich ein Metallgerüst. Der Messturm ist 54 Meter hoch. Er liefert Tag und Nacht Daten. Um auf die Spitze zu gelangen, muss man viele Leitern erklimmen. Nicht allen ist die Höhe geheuer. Oben angekommen weht ein leichtes Lüftchen und der Ausblick ist atemberaubend. Auf der Plattform, gut 15 Meter oberhalb der höchsten Bäume, wartet Klimaforscher Antonio Manzi, der die Messungen hier leitet.
Trotz jahrzehntelanger Forschung erscheine ihm der ganze Regenwald immer noch wie ein einziges Paradoxon. Erst langsam bekomme er eine Ahnung davon, wie der Dschungel funktioniert.
"Während der Trockenzeit ist die Verdunstungsrate höher als in der Regenzeit. Denn in der Trockenphase gibt es weniger Wolken, die das System blockieren. Die Wurzeln saugen das Wasser aus dem Boden und versorgen so den Baum, und das Ganze geht mit weniger hydrologischem Stress einher, als wenn die Bäume von den Wolken abhängig sind. Daher kann der ganze Wald viel Wasser verdunsten."


Eigentlich hätte er bei den Messungen höhere Photosyntheseraten erwartet.
"Während der Regenzeit ist die Atmosphäre hier äußerst sauber, da gibt es nur wenige Aerosole, also Partikel, die die Kondensation in Gang bringen. Die Wälder produzieren diese Aerosole mithilfe von Pollen, Sporen und Bakterien, diese reagieren und oxidieren in der Atmosphäre und bilden das Gerüst für Kristalle, die die Transpiration wieder ankurbeln."
Das würde bedeuten, dass der Regenwald seinen eigenen Niederschlag produzieren kann. Jedoch sei diese Erkenntnis im Prinzip auch nur ein winziges Detail, so Antonio Manzi.
"Dieser ganze Austausch von Material, Gas und Energie in den tieferen Ebenen des Regenwaldes und der unteren Atmosphäre ist unglaublich komplex, meiner Meinung nach das letzte ungelöste Rätsel in Physik."
Mit 325 Metern ist der Klimamessturm der höchste Turm Südamerikas. Die Forscher des Max-Planck-Institutes erhoffen sich von Treibhausgas- und Partikelmessungen wichtige Erkenntnisse über den den Klimawandel.
Blick auf den 325 Meter hohen Klimamessturm.© picture alliance / dpa / Georg Ismar
Gleichmäßige Messungen über Jahre hinweg erst können wirklich Aussagen darüber erlauben, wie das System Regenwald funktioniert.
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