Reflektierender Melancholiker

Von Carolin Pirich · 07.10.2010
Die Wurzlen des argentinischen Schriftstellers Alan Pauls liegen in Berlin. Zum ersten Mal ist er in der Stadt, aus der seine Familie 1939 fliehen musste. Und auch ein Interview auf einem Friedhof hat er zuvor nie gegeben.
Die Parkbank unter den Birken ist kleiner als die anderen, außerdem aus hellem Holz und etwas zu dick lackiert. Als hätte sie jemand aus dem Garten mitgebracht, um etwas Vertrautes zu haben beim Besuch auf dem Friedhof. Alan Pauls hat diese Bank zielstrebig angesteuert. Er saß kürzlich erst hier:

"Ich habe jemanden beobachtet, der allein vor einem Grab stand und eigenartige, langsame Tai-Chi-Bewegungen mit seinen Händen machte. Er trat offensichtlich in einen Dialog mit einem geliebten Toten. Das berührte mich."

Alan Pauls sieht ernst aus, trägt einen Wollschal, obwohl es noch warm ist. Er kneift beim Sprechen die Augen zusammen, auf seinen Wangen steht ein stoppeliger Mehrtagebart, er wirkt müde. Es ist eine intensive Zeit für ihn, sagt er. Er, der bei Lesungen kontrolliert und routiniert wirkt und der im gefühlsbetonten Argentinien seine eigenen Gefühle zügelt, ist im coolen Berlin zwei Mal öffentlich in Tränen ausgebrochen. Das eine Mal, als ein Musiker im Theater davon erzählte, wie er blind wurde:

"Ich weinte und weinte. Jeder starrte mich an, als ob ich verrückt sei."

Das andere Mal hier auf dem Alten Sankt Matthäus-Kirchhof in Berlin, als er auf eben dieser Bank saß:

"Als ich diesen Mann mit seinen Tai-Chi-Bewegungen sah, hatte ich eine Art Neidattacke. Ich musste weinen. Er kann seine geliebte, tote Person besuchen, wann immer er will, und ich kann es nicht."

Nach dem Tod seines Vaters verstreute die Familie die Asche am Strand, wie es dessen Wunsch war. Deshalb gibt es keinen Ort mehr, den Alan Pauls besuchen könnte, kein Ritual. Niemals hätte er gedacht, dass ein solcher Ort wichtig werden könnte. Vielleicht ist er auch deshalb in Berlin, weil er Spuren sucht, nach denen er seinen Vater nicht mehr fragen kann.

"Ich habe eine starke emotionale Beziehung zu dieser Stadt. Das ist seltsam, denn ich war nie hier. Aber ich fühle mich aufgehoben, als wäre es eine Art Heimat, verloren, aber wiederentdeckt."

Alan Pauls Vater stammt aus Berlin. Die Großmutter ist Jüdin, 1939 flieht die Familie nach Argentinien, der Vater ist damals sechs. Später wird er Reiseveranstalter in Buenos Aires, Deutschland ist kein großes Thema in der Familie. Sie sprechen auch kein Deutsch, obwohl Alan Pauls es zweimal mit der Sprache versucht, einmal in der Schule und später an der Universität; freiwillig:

"Jedes Mal, als Deutsch natürlich für mich wurde, hab ich sofort damit aufgehört. Vielleicht hab ich ein psychisches Problem damit. Bestimmt habe ich das, und nicht nur eins.

Aber ich mag den Rhythmus des Deutschen, dieses Offensive, diese Gewalt, die Musikalität. Deshalb gefällt mir auch elektronische Musik aus Deutschland. Einerseits lehne ich Deutsch ab, die platte Bedeutungsebene, andererseits mag ich die Musik. Komisch ist das schon."

Die Sprache von Alan Pauls ist rhythmisch wie ein strenger Tanz. Die Sätze entwickeln sich, treiben, finden kaum zu einem Ende. Es geht gar nicht so sehr um die vordergründige Handlung in dem schmalen Band "Die Geschichte der Tränen". Es geht um Zwischentöne. Ein glühender Sozialist, der gern und viel mit anderen weint, sitzt am 11. September 1973 vor dem Fernseher und verfolgt den Putsch der Militärjunta in Chile. Aber da gelingt es ihm nicht mehr, zu weinen.

"Ich will in meinem Buch Distanz vermitteln. Distanz ist für mich die wichtigste Tugend. Wenn Sie keine Distanz haben, können Sie nichts erkennen und nicht reflektieren. Die Argentinier pflegen und lieben ihre Unmittelbarkeit, die Spontaneität, das ist ein Mythos geworden. Ich will diesen Mythos dekonstruieren. Wir brauchen etwas zwischen den Dingen, um den Dingen wirklich nahe zu kommen."

Alles Melancholische, das Alan Pauls auf der Friedhofsbank umgeben hat, verfliegt. Er hat wieder die Ausstrahlung eines leicht gelangweilten Intellektuellen; der reflektierende Alan Pauls.

Die Glocken kündigen eine Beerdigung an. Alan Pauls steht auf, sieht auf die Gräber unter den alten Bäumen. Er zögert. Es ist das erste Mal, dass er sich zum Interview auf einem Friedhof verabredet habe, sagt er. Als schäme er sich dafür. Als wolle er klarstellen, dass er sich ein bisschen über sich wundert.
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