"Redlining" in den USA

Wie Wohnungspolitik rassistische Diskriminierung verschärft hat

10:16 Minuten
Eine historische Aufnahme: Einige African Americans protestieren vor einem Supermarkt in Oakland gegen rassistische Diskriminierung, 1968.
Der "National Housing Act" von 1934 klassifizierte Nachbarschaften nach der Bevölkerung. Nur rein weiße Gebiete erhielten Top-Label A. © Getty / Corbis Historical / Ted Streshinsky
Von Arndt Peltner · 22.07.2020
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Bis in die 1970er-Jahre genügte bereits der Zuzug einer schwarzen Familie in ein weißes Wohnviertel, damit dieses Viertel von A auf B heruntergestuft wurde. Die Folgen dieses rassistischen Stadtplanungsprinzips sind bis heute spürbar, gerade in der Coronakrise.
East Oakland. Der Stadtteil im Süden von Oakland reicht vom Flughafen im Südwesten bis nach Downtown. Zwei Autobahnen durchschneiden das Stadtgebiet. Ein problembeladenes Viertel in der San Francisco Bay Area mit Gang-Kriminalität, Straßenprostituion und alltäglicher Gewalt. Hier ist das Oakland Coliseum, lange Zeit Heimstätte für das Basketballteam der Golden State Warriors und für die Footballmannschaft der Raiders. Nicht weit davon liegt die U-Bahn-Haltestelle "Fruitvale Station". Dort an der Wand prangt das Konterfei von Oscar Grant. Der 22-Jährige wurde in der Silvesternacht 2009 von einem Polizisten erschossen. Grant lag auf dem Bauch, Polizisten hielten ihn fest, einer zog eine Waffe und schoss dem unbewaffneten Schwarzen in den Rücken. Ganz Downtown Oakland war damals außer Kontrolle. Grants Bild erinnert an die Polizeigewalt.
Genau hier hatte die Ärztin Noha Aboelata knapp ein Jahr zuvor die "Roots Clinic" gegründet, direkt am International Boulevard. An der Ecke ein Fast-Food-Restaurant, gegenüber ein Tätowierladen. Dr. Noha, wie sie hier alle nennen, wartet am Rande des Parkplatzes, der in diesen Tagen für "Walk-up"-Coronatests genutzt wird.
Anfangs richteten die Stadt und der Bezirk Alameda Testmöglichkeiten für Autofahrer:innen ein, man konnte im Wagen sitzen bleiben, bekam dort einen Abstrich. Doch Aboelata merkte schnell, dass ihre Klientel damit nicht erreicht wird. In East Oakland haben viele keinen Wagen, ihnen fehlt das Geld dafür, sie konnten sich deshalb nicht testen lassen. Also reagierte die Roots Clinic, Zelte wurden auf dem Parkplatz aufgestellt, nun kann man zu Fuß zum Test kommen. Das Ergebnis war schockierend, wie die Ärztin und Aktivistin erklärt:
"Wir waren von den Ergebnissen überrascht. Wir haben bislang 1400 Menschen getestet und davon waren zwölf Prozent positiv. Das ist viel höher, als wir erwartet haben, denn wir testen jeden, egal ob er Symptome hat oder einer Risikogruppe angehört. Im gesamten Bezirk Alameda liegt die Infektionsrate bei fünf Prozent und zumeist werden nur Leute mit Symptomen getestet. Das zeigt uns, dass wir überproportional betroffen sind."

Ein imaginärer Stacheldraht durch Städte und Gemeinden

25 Prozent der Corona-Todesfälle im Bezirk Alameda sind Schwarze. Die Gesundheitsprobleme in East Oakland seien groß, erzählt Noha Aboelata: Viele Bewohner:innen hätten hohen Blutdruck, Diabetes, Herzerkrankungen, Asthma, chronische Lungenkrankheiten. Patienten, deren Risiko für eine tödliche Covid-19-Erkrankung deutlich höher liegt als bei Menschen ohne chronische Vorerkrankung.
"Diese Bedingungen, die durch das Redlining geschaffen wurden, sind genau die gleichen Bedingungen, die für die Armut verantwortlich sind und die dazu führten, dass unsere Community anfälliger ist. Und wenn man eine ansteckende Krankheit hat, die durch die Luft verbreitet wird, dann wird das in einem Maße verstärkt, wie wir es noch nie gesehen haben."
Redlining - der Begriff steht für eine imaginäre Stacheldrahtziehung in den US-amerikanischen Städten und Gemeinden, die über Jahrzehnte vor allem für Afroamerikaner zur gefühlten Realität wurde. Die Regierung in Washington hatte durch den sogenannten "National Housing Act" von 1934 Nachbarschaften in unterschiedliche Bereiche unterteilt. Der Buchstabe "A" stand für eine rein weiße Nachbarschaft, erstrebenswert für die Mittelklasse.
Schon eine farbige Familie in der Gegend drückte den Grad von A auf B. Und das hatte dramatische Folgen, denn die Stadtteile unterhalb von A wurden gezielt benachteiligt. Afroamerikaner wurden somit in Stadtteile gedrängt, in denen es schwieriger war, Hypotheken zu bekommen, Versicherungen zu kriegen, wo weniger geschäftliche und städtebauliche Investitionen getätigt wurden. Diese Nachbarschaften fielen im Vergleich zu den weißen Stadtteilen und Vorstädten zurück. Bis in die 1970er-Jahre noch blieb diese Form der urbanen Diskriminierung gängige Praxis. Mit Folgen bis heute.

Erhöhte Luftbelastung in den Redlining-Zonen

"I can’t breathe" hat in Gegenden wie hier in East Oakland, wo die Roots Clinic steht, daher nicht nur metaphorische Bedeutung. Die Luftbelastung durch Feinstaub oder Stickoxide ist offenbar viel höher als in den weißen Nachbarschaften nur wenige Kilometer entfernt. Zumindest haben Forscher der University of California in San Francisco und Berkeley einen direkten Zusammenhang zwischen den ehemaligen Redlining-Zonen und erhöhten Asthma-Erkrankungen nachgewiesen. Seit Generationen wachsen Afroamerikaner in diesen Stadtteilen auf. Die hohen Zahlen der Black-and-Brown-Personen in den Coronastatistiken drückten genau diese Folgen des strukturellen Rassismus aus, meint der Soziologe Howard Pinderhughes von der University of California in San Francisco.
"All diese Aspekte ergeben das, was wir aufgrund von Redlining nun sehen: die unverhältnismäßig hohen Zahlen von Covid-19-Infektionen und Covid-19-Toten in der schwarzen und Latino-Bevölkerung in Alameda County."
Schwarze und weiße Amerikaner betrachten ein Wandgemälde an einer U-Bahnstation, das einen jungen Afroamerikaner zeigt.
Seit Oscar Grant 2009 durch Polizeigewalt ums Leben kam, prangt sein Konterfei an der Fruitvale Station (Aufnahme von 2009)© imago / ZUMA Press
Schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie konnte statistisch nachgewiesen werden, dass ein schwarzes Kind in East Oakland eine um fünfzehn Jahre kürzere Lebenserwartung hat als ein weißes Kind, das nur wenige Kilometer entfernt in den Oakland Hills groß wird.
Redlining beförderte über Jahrzehnte die Gettoisierung in den US-amerikanischen Großstädten und traf vor allem die Afroamerikaner. Nach dem Zweiten Weltkrieg und mit Hilfe der GI Bill, einer Fördermaßnahme für rückkehrende Soldaten, zogen viele Weiße in die Vorstädte. Damit wurde die Rassentrennung noch einmal zementiert, wie Dr. Anthony Iton, Senior Vice President of Healthy Communities der California Endowment, schildert. Er hat sich intensiv mit dem Phänomen des Redlining beschäftigt:
"Die Vorstädte wurden zum Inbegriff des amerikanischen Lebens. Die Menschen verließen die Innenstädte, um draußen zu wohnen, mit ihrem weißen Zaun, dem kleinen Garten, dem Einfamilienhaus. Zurück ließen sie die Afroamerikaner."

"Wir brauchen eine Wahrheits- und Versöhnungskommission"

In den afroamerikanischen Communitys im ganzen Land wird nun offen ein "New Black Deal" eingefordert. Jamaal Smith ist der Koordinator für Gewaltprävention im Gesundheitsamt von Milwaukee im Bundesstaat Wisconsin. Auch dort hat Covid-19 die schwarze Bevölkerung hart getroffen.
Er sieht enge Zusammenhänge zwischen dem Redlining, der Polizeigewalt und den hohen Coronazahlen in seiner Community. Der Rassismus sei nie weg gewesen, sagt er im Gespräch, auch wenn die USA Gesetze wie den "Civil Rights Act" von 1964, der die Rassentrennung beendete, das Wahlgesetz von 1965, das Gleichberechtigung bei Wahlen festschrieb, oder die Wohngesetze Ende der 1960er- und in den 1970er-Jahren, die das "Redlining" beendeten, verabschiedet hätten.
"Das alles bedeutete nicht, dass der Rassismus auf einmal verschwunden und ausgemerzt war. Ich glaube, es braucht nun so etwas wie eine Wahrheits- und Versöhnungskommission, wie sie 1994 am Ende des Apartheid-Regimes in Südafrika eingerichtet wurde. Aber derzeit glaube ich nicht, dass Amerika bereit ist, die Folgen des Rassismus anzuerkennen. Es gibt noch immer genügend Menschen in diesem Land, die diesen Zusammenhang bestreiten. Ich meine, wenn wir uns 'Black Lives Matter' ansehen, niemand, der das unterstützt, hat jemals gesagt, andere Leben zählen nicht. Wir machen nur 13 Prozent der Bevölkerung aus und wollen nur die Bestätigung, dass afroamerikanische Leben eben auch zählen. Aber wenn das noch immer viele Leute nicht akzeptieren, dann zeigt dies, dass es weiterhin in diesem Land rassistische Tyrannei gibt."

Ein gerechtes und faires Amerika gab es nie

Die tiefen Spuren, Narben und Wunden, die der Rassismus in der US-amerikanischen Gesellschaft hinterlassen hat, sind in diesen Wochen mehr als offensichtlich. Tiefgreifende Veränderungen müssen her, nicht nur in Fragen der Polizeigewalt.
Und das alles in einem Wahljahr, in dem Präsident Trump noch immer davon redet: "Make America Great Again". Von welchem Amerika, von welcher Zeit er dabei spricht, ist unklar, denn ein gerechtes und faires Amerika für alle hat es bislang noch nicht in der Geschichte dieses Landes gegeben. Auf die Vereinigten Staaten kommen wohl noch schwierige und schmerzvolle Wochen zu.
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