Rechtfertigung von Sklaverei und Gewalt

Die dunkle Seite der Philosophie

40:28 Minuten
Ein Schwarzer Mann zeigt seinen von Peitschenhieben vernarbten Rücken.
Prägende Denker der Aufklärung wie John Locke, Thomas Hobbes oder Immanuel Kant hießen die Sklaverei gut und rechtfertigten sie philosophisch. © Getty Images / Gado / Smith Collection
Iris Därmann im Gespräch mit Simone Miller · 02.08.2020
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Aristoteles war Sklavenhalter. Thomas Hobbes hielt Aktien am Kolonialismus. Heidegger bekannte sich zu Hitler. Doch die Philosophie war lange blind für ihre eigene Verstrickung in Gewalt, sagt die Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann.
Die Ächtung der Sklaverei und der universelle Anspruch, dass alle Menschen von Geburt frei und gleich an Rechten sind, gelten als zentrale Errungenschaften der europäischen Philosophie der Aufklärung. Die Staaten Europas und westlich geprägte Demokratien bekennen sich bis heute dazu und begründen damit ihre Politik.
Darüber sei jedoch lange aus dem Blick geraten, dass prägende Denker der Aufklärung wie John Locke, Thomas Hobbes oder Immanuel Kant die gewaltsame Unterwerfung und Entrechtung von Menschen durch europäische Mächte gutgeheißen und philosophisch gerechtfertigt haben, erklärt die Berliner Kulturwissenschaftlerin und Philosophin Iris Därmann.

Freiheit und Gleichheit - aber nicht für alle

Locke und Hobbes etwa seien Mitglieder der Royal African Company und der Virginia Company gewesen: Handels- und Aktiengesellschaften, die aus der Versklavung und Verschleppung von Menschen aus Afrika in die sogenannte "Neue Welt" Profit schlugen und zum Aufbau britischer Kolonien in Nordamerika beitragen sollten. Indem sie Freiheit und Gleichheit der Menschen von Natur aus propagierten, zeigten sich die beiden Philosophen als moderne Denker, auf die wir uns auch heute noch berufen könnten, so Därmann. Gleichzeitig hätten sie in anderen Schriften Konzepte der Kolonisierung entworfen und den transatlantischen Sklavenhandel für gerecht erklärt.
In einer umfangreichen Studie mit dem Titel "Undienlichkeit - Gewaltgeschichte und politische Philosophie" zeichnet Iris Därmann nun en détail nach, in welchem Verhältnis die abendländische Philosophie zur Geschichte der Gewalt und des Widerstands steht. Sie führt eine dunkle Seite der Philosophie vor Augen, die von der Antike bis in unsere Gegenwart hehre Werte vertreten und für manche Menschen durchgefochten hat, dabei aber immer wieder hinnahm oder schlicht für richtig hielt, dass ein Großteil der Menschheit davon ausgeschlossen blieb.
Die Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann schaut ernst in die Kamera.
Kein Denken im luftleeren Raum: Politische Philosophie sei in die Machtinteressen ihrer jeweiligen Zeit verstrickt, sagt die Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann.© privat
Denker wie Aristoteles und Platon, denen wir die Grundbegriffe unserer Demokratie verdanken, verfassten zugleich Ratgeber über die "Dressur dienstfertiger Körper", in denen sie Empfehlungen für die Behandlung von Sklaven gaben, so Därmann.
Wie bringt man eigentlich Menschen dazu, Dienstleistungen und Arbeiten zu verrichten, die sie in Freiheit und Freiwilligkeit niemals tun würden? Da die Philosophen selbst Sklavenhalter gewesen seien, hätten sie Erfahrungen damit gesammelt, wie es gelingt, "die Dressur der Sklaven möglichst reibungslos ins Werk zu setzen, also die schmutzige Gewaltarbeit zu minimieren", konstatiert die Wissenschaftlerin.

Effizienz der Ausbeutung: Sklaverei und Fabrikarbeit

Angefangen bei der antiken Demokratie, dokumentiert Därmann in ihrem Buch weitreichende Kontinuitäten der Unterdrückung, Ausbeutung und Tötung. So macht sie deutlich, dass die Behandlung schwarzer Sklaven in Amerika ihre Vorgeschichte im Mittelmeerraum hat, wo Plantagen während des Mittelalters von Sklaven bewirtschaftet wurden. Dort entwickelte Methoden, die Arbeitskraft der Entrechteten bis zum Letzten auszuschöpfen, seien in den USA weiterentwickelt und radikalisiert worden – und dienten schließlich als Inspiration für die effiziente Organisation von Fabrikarbeit im Industriezeitalter, so Därmann.
Besonders ausführlich widmet sich Iris Därmann in ihrer Studie dem Sklavenhandel der Kolonialzeit und den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus. Dabei liegt ihr einerseits daran zu zeigen, dass wirkmächtige Theorien der politischen Philosophie keineswegs im luftleeren Raum entstanden, sondern tief in die Machtverhältnisse und -interessen ihrer jeweiligen Zeit verstrickt gewesen seien. Besonders verheerend habe sich das auch am Beispiel Martin Heideggers gezeigt, der sich offen zur Vernichtungs-Ideologie des Nationalsozialismus bekannte.

Vergessene Akte eines leisen Widerstands

Zugleich möchte Därmann aber auch auf Praktiken des Widerstands aufmerksam machen, die ihrer Ansicht nach bisher zu wenig Beachtung fanden – ja, häufig nicht einmal als widerständige Handlungen wahrgenommen wurden. Solche Akte des Widerstands erkennt sie etwa, wo Menschen in Unfreiheit sich selbst verletzt, verstümmelt oder getötet haben, weil sie darin die letzte Möglichkeit sahen, noch eigenständig über ihr Leben und ihren Körper zu entscheiden. Aber auch Gesänge, das Umgestalten von Brandmalen und die unterschiedlichsten Fluchterfahrungen gehören für Därmann zur bisher ungeschriebenen Chronik eines leisen Widerstands gegen Gewaltregime, der unter dem Radar der großen historischen Ereignisse stattfand.
40 Millionen Menschen leben heute noch in moderner Sklaverei, so ist es bei Därmann nachzulesen, allen Forderungen nach Freiheitsrechten und der Gleichheit der Menschen zum Trotz. Diese Ideale aus der Epoche der Aufklärung seien bei der Bevölkerung schon damals nur als "halbierte Aufklärung" angekommen, die für Frauen und Kinder keine Gültigkeit hatte - und für die versklavten Menschen in den Kolonien ebenfalls nicht, sagt Därmann. Und sie fügt hinzu: "Die Universalisierung dieser Rechte ist bis heute im praktischen Sinne nicht vollzogen."

Europa sollte Außenperspektiven wertschätzen

Für die politische Philosophie sollte das Grund genug sein, der Geschichte von Gewalt und Unterdrückung mehr Aufmerksamkeit zu schenken und die Rolle, die Angehörige ihres eigenen Fachs dabei spielten, zu hinterfragen. Dafür wäre es sehr hilfreich, Europa stärker einem Blick von außen auszusetzen, betont Iris Därmann: "Als Philosophen oder Kulturwissenschaftlerinnen sind wir gut beraten, uns von kritischen Fremderfahrungen irritieren zu lassen."
Das gelte etwa für afrikanische Denker und Denkerinnen, die sich in Diskussionen von Kolonialismus und Holocaust einmischen und ganz andere Perspektiven auf uns haben, so Därmann. Auch im Hinblick auf Antisemitismus-Vorwürfe gegen den in Südafrika lebenden Historiker und Postkolonialismus-Forscher Achille Mbembe unterstreicht sie: "Diese fremden Perspektiven sollten wir nicht marginalisieren oder unter Diskurspolizei stellen, sondern ganz besonders ernst nehmen."
(fka)

Iris Därmann: Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Philosophie
erscheint voraussichtlich am 2. September 2020
Matthes & Seitz, Berlin
550 Seiten, 38 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

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