Recht auf Bewegungsfreiheit

Einwanderung ist kein Heiratsantrag

Ein Wegweiser mit der Aufschrift "Zuwanderung"
Wie sollte ein zukünftiges Einwanderungsgesetz aussehen? © imago / Christian Ohde
Von Andreas Cassee · 05.11.2017
Lasst mich rein, ich bin eine gute Partie! Eine solche Ausrichtung eines Einwanderungsgesetzes sei moralisch problematisch, kommentiert Andreas Cassee: Die Freiheit, über den eigenen Aufenthaltsort zu entscheiden, darf nicht an Landesgrenzen enden.
Aller Wahrscheinlichkeit nach wird Deutschland also ein neues Einwanderungsgesetz bekommen. Die Details sind komplex und umstritten, doch die Stoßrichtung ist klar: Nachdem im Zuge der Flüchtlingskrise vor allem Menschen ins Land gekommen sind, die auf Schutz angewiesen sind, sollen mit dem neuen Gesetz in erster Linie Menschen einwandern, die der deutschen Wirtschaft einen Nutzen bringen.
Im Hintergrund steht dabei eine Sichtweise, die Richard von Weizsäcker auf den Punkt brachte: "Das Asylrecht richtet sich an die, die uns brauchen – und das Einwanderungsrecht an die, die wir brauchen."
Einwanderungsbegehren sind diesem Credo zufolge mit Heiratsanträgen vergleichbar: Einwanderungswillige können darlegen, dass sie eine "gute Partie" sind, beispielsweise weil sie eine Ausbildung haben, die im Zielland besonders gefragt ist. Einen Anspruch, dass ihrem Antrag stattgegeben wird, haben sie jedoch ebenso wenig wie Heiratswillige.

Rein rechtlich einwandfrei

Rein rechtlich ist nichts gegen diese Ansicht einzuwenden. Das geltende Völkerrecht erlaubt es den Staaten, die Einwanderung im Sinne der Vorstellungen und Interessen ihrer Bürgerinnen zu beschränken. Doch lässt sich dieser rechtliche Status quo auch mit guten Gründen rechtfertigen? Gibt es eine überzeugende philosophische Begründung für ein "Recht auf Ausschluss" gegenüber Menschen, die einwandern möchten? Immerhin, so ließe sich mit Immanuel Kant einwenden, hat ursprünglich doch "niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht [...] als der Andere".
Als Kronzeuge für ein Recht auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit lässt sich Kant nur bedingt heranziehen. Aus dem "gemeinschaftlichen Besitz der Erdoberfläche" leitete er zwar ein Besuchsrecht ab, nicht aber ein Recht, sich in einem anderen Land niederzulassen.
Aus heutiger Sicht fragt sich jedoch, ob eine Beschränkung der Einwanderung moralisch überhaupt zu vertreten ist. Denn ein "Recht auf Ausschluss" ist schwerlich mit der Freiheit und Gleichheit aller Menschen zu vereinbaren, über die sich doch – zumindest rhetorisch – fast alle einig sind.

Selbstbestimmte Wahl des Aufenthaltsortes

Die Freiheit, über den eigenen Aufenthaltsort zu entscheiden, ist für ein selbstbestimmtes Leben zentral. Wenn es um Mobilität im Innern eines Landes geht, ist diese Einsicht unumstritten. Wer beispielsweise von Berlin nach München ziehen möchte, muss den Münchnern nicht darlegen, dass er eine "gute Partie" ist. Würde uns der Staat einen Umzug verbieten, so wären wir empört über die Verletzung unseres Selbstbestimmungsrechts. Weshalb sollte dieser Anspruch auf Selbstbestimmung an der Landesgrenze abrupt enden?
Darüber hinaus tragen Einwanderungsbeschränkungen wesentlich zur Zementierung globaler Ungleichheiten bei. Der Ort, an dem eine Person ihr Einkommen erzielt, ist heute der wichtigste Indikator für die Höhe dieses Einkommens. Rund zwei Drittel der globalen Einkommensunterschiede lassen sich mit diesem einen Faktor erklären.

Staatsbürgerschaft als Privileg

Der Philosoph Joseph Carens beschreibt die Staatsbürgerschaft in einem wohlhabenden Land vor diesem Hintergrund als "modernes Äquivalent feudaler Privilegien". Immerhin handelt es sich dabei um einen mit der Geburt zugeschriebenen Status, der wesentlichen Einfluss auf die Lebensaussichten eines Menschen hat. Ein Einwanderungsgesetz, das Deutschland einzig für die Privilegierten öffnet, wird kaum dazu beitragen, diese Ungerechtigkeit abzubauen.
Es ist ein bekanntes Phänomen, dass Angehörige der Oberschicht oft Menschen heiraten, die ihrerseits zu den Privilegierten zählen. Das trägt zur Stabilisierung sozialer Ungleichheiten bei, ist aber natürlich kaum zu vermeiden. Wenn Einwanderungsbegehren jedoch wie Heiratsanträge behandelt werden, wird ein ganz ähnlicher Mechanismus auf globaler Ebene geschaffen. Und zwar einer, der durchaus zu vermeiden wäre – indem Bewegungsfreiheit nicht als Privileg der Reichen und Gebildeten, sondern als allgemeines Recht verstanden wird.

Literaturhinweis
Andreas Cassee: Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
286 Seiten, 17 Euro

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