Rechavia in Jerusalem

Eine Gartenstadt aus dem Geist des 19. Jahrhunderts

Die Rehavia-Windmühle in Jerusalem - Wahrzeichen des Viertels.
Die Rechavia-Windmühle ist das Wahrzeichen des Jerusalemer Viertels. © imago/imagebroker
Thomas Sparr im Gespräch mit Christian Rabhansl · 10.02.2018
Das Viertel Rechavia in Jerusalem wird auch als "Grunewald im Orient" bezeichnet, nach der gediegenen Gartenstadt im Westen Berlins. Wie es dazu gekommen ist, erklärt der Literaturwissenschaftler Thomas Sparr. Er hat über Rechavia ein Buch geschrieben.
Christian Rabhansl: Grunewald ist eine gediegene Gartenstadt, ein vornehmer grüner Vorort Berlins. In Jerusalem wiederum gibt es das Viertel Rechavia, von deutschen Juden vor fast 100 Jahren geprägt, das den Beinamen "Grunewald im Orient" trägt, und wieso, das weiß Thomas Sparr genau. Er hat unter anderem in Jerusalem studiert, ist Literaturwissenschaftler und Editor-at-large beim Suhrkamp Verlag. Guten Tag!
Thomas Sparr: Guten Tag, Herr Rabhansl!
Rabhansl: Der Grunewald – da denke ich ja eigentlich an Gartenstadt. Jerusalem – völlig anderes Klima, eher trocken, die Straßen staubig, da denke ich eben nicht an Gartenstadt. Wieso "Grunewald im Orient"?

Die Idee der Gartenstadt

Sparr: Es ist nach einem Berliner Vorort gebaut worden, entwickelt worden von einem Architekten aus Frankfurt am Main, nämlich Richard Kauffmann. Er hat die Idee der Gartenstadt, die um die Jahrhundertwende entstand, in Deutschland und in England, nämlich, dass man gesunde Städte anlegen wollte mit Parks, mit Gärten, Bäumen, voller Blumen. Die hat er verpflanzt, nämlich aus Europa in den Nahen Osten, nach Palästina. Er hat sie quasi im Gepäck mitgenommen und dort einen Stadtteil nach diesem Vorbild erst entworfen und dann in den 20er-Jahren und in den 30er-Jahren gebaut.
Der Literaturwissenschaftler Thomas Sparr bei der Literaturwerkstatt Berlin im Haus der Poesie
Der Literaturwissenschaftler Thomas Sparr© imago/gezett
Rabhansl: Sie schreiben, Rechavia ist wie ein Gitternetz angelegt, aber symmetrisch und in geraden Linien lässt sich seine Geschichte nicht erzählen. Dementsprechend machen Sie das auch nicht so, sondern Sie nähern sich diesem Ort im Grunde zweigeteilt: einmal als Ortsbeschreibung und dann als Beschreibung der Lebensläufe. Einen Lebenslauf haben Sie gerade schon angedeutet. Wer waren denn diese Bewohner, diese deutschen Juden, die dort hinkamen in den 20ern, 30ern?

Erst kamen Pioniere, dann Vertriebene

Sparr: In den 20er-Jahren waren es überwiegend Zionisten, die das Land Israel aufbauen wollten, die eine neue Heimat suchten. Ganz überwiegend junge Menschen, beflügelt von den Ideen von Theodor Herzl, nach einer eigenen Heimstadt, jüdischen Heimstadt suchten, vertrieben, teilweise auch vom Antisemitismus. In den 30er-Jahren muss man sagen, das waren Einwanderer, die vor Hitler und vor dem aufkommenden Nationalsozialismus geflohen waren.
Rabhansl: Das ist ja sehr unterschiedlich, also einmal der Pioniergeist, der einen wo hinzieht, und das andere Mal die erzwungene Flucht, die einen forttreibt. Wie kamen diese Menschen miteinander zurecht?
Sparr: Die kamen miteinander ganz gut zurecht, weil man damals immer gefragt hat: Kommen Sie aus eigenem Entschluss oder kommen Sie gegen Ihren Willen, aber sie haben dennoch …, sind sie eine Synthese eingegangen, eine Synthese im Zusammenleben und im Fortentwickeln. Es wird auch eine sehr solidarische Gesellschaft damals gewesen sein.

Wertschätzung der Kultur

Rabhansl: Sie beschreiben Rechavia auch gar nicht nur als Stadtviertel von Jerusalem, sondern als geistige Lebensform, so formulieren Sie das, glaube ich. Was für eine geistige Lebensform prägte dieses Grunewald im Orient?

Sparr: Das war eine Lebensform, die ganz stark geprägt war von der Wertschätzung der Literatur, der Musik, der bildenden Künste, der sich entwickelnden, entstehenden Hebräischen Universität, alles das waren natürlich Bildungsideale, Kulturideale der deutschen Juden, die sie mitbrachten aus ihrer Heimat, und ich finde Grunewald im Orient ist ganz wesentlich definiert durch diese Prinzipien einer geistigen Lebensform.

Grunewald - nur ein geistiges Vorbild

Rabhansl: Ich habe vorhin kühn behauptet, Grunewald in Berlin sei das Vorbild gewesen. Stimmt das überhaupt oder ist Rechavia eigentlich …, sollte es eigentlich das werden, was Grunewald in Deutschland nie sein konnte?
Sparr: Also sagen wir mal, in geistiger Hinsicht sollte es das werden, denn der Grunewald in Berlin hatte alle Ideale verspielt, spätestens in den 30er-Jahren, durch den Nationalsozialismus, und der Grunewald, der ursprüngliche Grunewald ist etwas zu herrschaftlich angelegt für das, was sich dort entwickelt hat. Das waren Etagenwohnungen, das waren schmalere Häuser.
Rabhansl: Sie selbst haben in den 80er-Jahren dann in Jerusalem gelebt und studiert. Gab es da noch manche dieser Menschen, die Sie beschreiben in Ihrem Buch? Haben Sie noch jemanden kennenlernen können?
Sparr: Ja, ich habe zum Beispiel unvergesslich Kitty Steinschneider kennengelernt, Anna-Maria Jokel, Werner Kraft, alles Bewohner vom Grunewald im Orient.
Rabhansl: Diese Menschen, diese geistige Lebensform, die Sie da in diesem Ort quasi manifestiert finden, gibt es etwas, was die verbindet geistig?
Sparr: Also ich glaube, es ist ein Humanismus, es ist eine Gesittetheit in der Auseinandersetzung und Präzision, also sehr jeckische, sehr deutsche Ideale von Pünktlichkeit, Genauigkeit und Vervollkommnung.

Überlieferung in Büchern

Rabhansl: Das alles beschreiben Sie in einem Buch, das ich gelesen habe als ein leises Buch, ein sehnsuchtsvolles Buch. Letztlich beschreiben Sie ja ein Leben, ein intellektuelles Leben, um das sich Deutschland in seinem mörderischen Judenhass selbst gebracht hat. Dann waren Sie in den 80er-Jahren dort. Was ist von diesem Zeitreiseviertel, von diesem Sehnsuchtsort noch übrig?
Sparr: Es ist sehr viel in Büchern erhalten, in Briefen, in Gedichten von Else Lasker-Schüler, von Mascha Kaleko. Also ich glaube, das, was diesen Ort groß gemacht hat, Bücher, das ist auch dort geblieben, nämlich in Büchern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Thomas Sparr: "Grunewald im Orient: Das deutsch-jüdische Jerusalem"
Berenberg Verlag,
184 Seiten, 22 Euro


Bereits im Dezember 2017 sprach auch Joachim Scholl mit Thomas Sparr. Das Gespräch hören Sie hier:
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