Realsatire

Frankreich spielt den Euro-Ausstieg

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Demonstration von Pariser Studenten gegen den Front National (FN) nach der Wahl zum Europäischen Parlament - die FN-Vorsitzende, Marine Le Pen, spielt eine Hauptrolle in "Anarchy" © dpa / picture alliance / MAXPPP
Von Kathrin Hondl · 10.12.2014
Frankreich verlässt die Eurozone und führt den Franc wieder ein - das ist der Ausgangspunkt des Multimedia-Projektes "Anarchy". Eine TV-Serie und eine Webseite zeigen, was nach dem Euro-Ausstieg passieren könnte. Die Zuschauer und User schreiben mit.
"Anarchy" Teil vier, Tag 22 nach dem Euro-Ausstieg. Die Nachrichten melden Schreckliches: Das Flugzeug, in dem sich Präsident Hollande und der Premierminister Sarkozy befanden, ist spurlos verschwunden. Alles deutet auf einen tragischen Unfall hin.
"Sensationell" findet das ein ergrauter Herr von der belgischen Hilfsorganisation "Leopold II". Die Belgier haben sich in einem Schlösschen in der französischen Provinz eingerichtet. Offizielle Mission: Nahrungsmittel-Nothilfe für die armen Franzosen. Vor allem aber geht es der belgischen Stiftung darum, selbst wieder zu alter Größe und vor allem Geld zu kommen – wie zur Zeit des Königs Leopold, des Zweiten...
Mehr als tausend Mitschreiber
Jeden Donnerstagabend gibt es im Fernsehsender France 4 eine neue Folge von "Anarchy", geschrieben und produziert nach Ideen von Leuten, die dem Aufruf von Drehbuchautor Olivier Szulzynger auf der gleichnamigen Website gefolgt sind:
"'Anarchy' ist eine Geschichte, die wir nicht allein schreiben wollen. Wir wollen sie mit Ihnen schreiben, den Fernsehzuschauern. (...) Wir werden alle zusammen 50 Tage lang das Schicksal unserer Helden in die Hand nehmen."
Mehr als tausend Mitschreiber tummeln sich mittlerweile auf der Internetseite. Sie posten Nachrichten, schreiben Geschichten oder erfinden Personen und unterfüttern so die Episoden der Fernsehserie "Anarchy" vom Leben auf dem Landsitz der humanitären Helfer aus Belgien, die das französische Post-Euro-Chaos je nach Persönlichkeit irritiert, mitfühlend oder schadenfroh begleiten.
Liveticker und tägliche Nachrichtensendungen
Schon nach den ersten Folgen der realsatirischen Fernsehserie zeigte sich allerdings: Nicht in der Glotze, sondern im Netz offenbart sich das wahre dramatische Potenzial der französischen Chaos-Fiktion. Über einen Liveticker und täglich neue Nachrichtensendungen lässt sich hier der virtuelle Überlebenskampf der Grande Nation mitverfolgen.
Am 36. Tag nach dem Euro-Ausstieg ist das Topthema der Wiederaufbau "einer stolzen und starken Nation". Nach dem tragischen Unfalltod von Hollande und Sarkozy, verspricht Stéphane Vallois, Hauptmann der französischen Armee und - wie es heißt – "der starke Mann aus dem Süd-Osten des Landes", "die Unordnung zu beenden". Gemeint ist die Bürgerbewegung "Nouvelle Résistance", die seit ein paar Tagen den Elysée-Palast besetzt hält. (...) Die Institutionen der Republik müssten respektiert werden, fordert unterdessen Interims-Präsident Gérard Larcher...
Auch France Inter und Le Monde dabei
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind alles andere als zufällig: Der neue Staatspräsident in der Welt von "Anarchy", der konservative Politiker Gérard Larcher, ist im nicht-virtuellen Frankreich Präsident des Senats.
Auch die wohl seriösesten Medien Frankreichs – der Radiosender France Inter und die Tageszeitung "Le Monde" beteiligen sich an der "Opération Anarchy".
Le Monde widmet der Chaos-Fiktion jede Woche eine komplette Seite und befragt realexistierende Experten – Soziologen, Historiker oder Wirtschaftswissenschaftler – zum "Anarchy"- Geschehen: zur Radikalisierung der Jugend etwa oder über den in französischen Krisenzeiten populären Ruf nach einem starken Staat.
Nie weit von der Realität entfernt
Und wie nicht anders zu erwarten spielt im fiktiven nationalen Chaos nach Frankreichs Euro-Ausstieg auch jene Politikerin eine Hauptrolle, die diesen Euro-Ausstieg tatsächlich fordert: Marine Le Pen, melden die "Anarchy"-Nachrichten, erklärt sich bereit, die Führung einer "Regierung der nationalen Einheit" zu übernehmen.
"Anarchy.fr" ist ein sehr französisches Spiel mit dem Feuer. Eine Chaos-Fiktion, die nie weit von der Realität entfernt ist. Mit einem Unterschied: Das Multimediaprojekt endet kurz vor Weihnachten – die ganze reale Krise aber ist noch lange nicht vorbei.
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