Reaktion auf Klimawandel

Berlin soll nasser werden

Stadtansicht von Berlin
Erst kommt die Hitze, dann die Regenmassen. © imago/Dirk Sattler
Von Jürgen Stratmann · 19.07.2018
Berlin ist im Frühsommer häufig so vertrocknet, als läge es im äußersten Süden Europas. Wenn es dann sturzflutartig regnet, steht die Stadt erst unter Wasser, ehe der Niederschlag in der Kanalisation davon rauscht. Die Hauptstadt setzt nun auf ein "Schwammstadt-Konzept".
Wie ein Wasserfall rauschten die Regenfluten die Treppe einer Berliner U-Bahnstation herunter. Das war vor gut einem Jahr bei sintflutartigen Wolkenbrüchen. Autos soffen in Sekundenschnelle auf Autobahnen ab, Menschen in unterspülten Häusern mussten evakuiert werden, Kinder badeten in vollgelaufenen Mulden öffentlicher Plätze.
Es war zu erwarten, dass im Zuge der Klima-Erwärmung solche Regenfluten die Stadt heimsuchen würden. Der Berliner Senat hat darum schon vor Jahren das AFOK-Programm ins Leben gerufen: AFOK ist die Abkürzung für "Anpassung an die Folgen des Klimawandels" – und das Schwammstadt-Konzept ist ein Teil dieser Maßnahmen.
Der Plan: Regenwasser nicht mehr – wie bisher – möglichst schnell aus der Stadt auszuleiten, sondern Berlin in einen saugfähigen Riesenschwamm zu verwandeln. Im letzten Sommer: Sintflut! Und dieses Jahr?

Rückhaltebecken am Rande des Tempelhofer Felds

Am Rande des Tempelhofer Felds. Auf dem Grund des acht Meter tiefen, Fußballplatz-großen Regenrückhaltebeckens trocknen am Boden des leeren Bassins faulige Algenmatten, es riecht nach Verwesung, in der flirrenden Ödnis mimen Tänzerinnen mit Vogelmasken umher-staksende-Krähen.
Die Vogeltanz-Improvisation gehört zum Kultur-Programm der Berliner "Floating University". Eine Art temporäre Hochschule für den Kiez, gedacht als:
"Bildungsort. Wir versuchen, Studenten und Lehrende von unterschiedlichen Fachbereichen zusammen zu bringen und sich Gedanken zu machen über die Stadt."


Das sagt Benjamin Förster Baldenius, einer der Floating-University-Organisatoren. Gedanken machen über die Stadt? Heißt auch: Nachdenken über so etwas wie das "Schwammstadt-Konzept", denn:
"Der Standort von der Floating University ist ja ein Regenwasserrückhaltebecken – und das ist hier, weil – als in den 30er Jahren der Flughafen Tempelhof ausgebaut und da große Flächen asphaltiert wurden, schon klar war, dass schon damals, das Regenwasser, was dann bei Starkregen anfällt, zu viel ist für die Kanalisation. Und man sieht auch: Wenn es doll regnet, dann kommt das hier wie so'n reißender Gebirgsbach rein – das ist richtig viel Wasser."
Und mit dem Regen? Kommt auch: Leben! Dann wird aus der staubigen, fauligen Grube ...
"So'ne kleine Oase – hier gibt’s Libellen und alle möglichen Vogelarten, hier gibt’s Fledermäuse und so weiter. Es ist wirklich ein ganz charmanter Ort."
Menschen bevölkern das Tempelhofer Feld, dem größten Park Berlins, auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof, in Berlin am 14.09.2013.
Menschen bevölkern das Tempelhofer Feld, dem größten Park Berlins, auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof, in Berlin am 14.09.2013.© picture alliance / Wolfram Steinberg

Bildungs-, Veranstaltungs-, Arbeits- und Erholungsort

Am Beispiel des alten Tempelhofer Regenrückhaltebeckens lassen sich viele Aspekte aufzeigen, die für das Berliner Schwammstadt-Konzept eine Rolle spielen: Nicht nur, dass es eine Anlage zur Entlastung der Kanalisation bei Starkregenereignissen ist. Das Rückhaltebecken erfüllt – zusätzlich zur ursprünglichen Funktion – heute den Zweck.
"Das Wasser in der Stadt zu halten, um es in der Hitzeperiode zu verdunsten."
So der Erfinder des Schwammstadt-Konzepts, der Stadtplaner Carlo Becker. Aber das Rückhaltebecken kann noch mehr als Regenwasser stauen und verdunsten: Die Floating-University-Community nutzt das Rückhaltebecken als Bildungs-, Veranstaltungs-, Arbeits- und – Stichwort OASE – Erholungsort! Es werden Gemüse angebaut, ökologische Schutzzonen eingerichtet – Carlo Becker, Professor für Stadt- und Regionalplanung an der TU Berlin, nennt so etwas:
"Multi-Codierung! Wir reden ja gerne über Multifunktionalität – aber ich glaube, wir müssen gar nicht über Funktionen reden, sondern über die verschiedenen Codes, die wir haben: Der eine möchte bauen, der andere möchte Naturschutz, andere möchte sich erholen – also jeder hat seinen Code – und wir müssen diese Codes zusammenbringen."
Denn in einer Stadt, in der jeder innerstädtische Quadratmeter zugepflastert wird, gehe es nicht mehr:
"Dass wir alles nebeneinander machen: Verkehr da – Bauen da, Ruhezonen da – das muss sich alles sehr stark überlagern."
Multicodierung in Sachen Schwammstadt heißt auch: zwei Probleme – Stadtverdichtung und Klima-Erwärmung – müssen auf denselben Flächen gelöst werden. Wie das gehen kann? Ist in Teilen Berlins seit Jahrzehnten – weitgehend unbeachtet – zu besichtigen, zum Beispiel auf dem Physik-Campus der HU Berlin im Bezirk Adlershof:
"Das ganze Gebiet ist ein abflussloses Siedlungsgebiet – Wohnungsbau, Forschungseinrichtungen – alles mit Ausnahme der Hauptverkehrsstraßen nicht an ein Kanalnetz angeschlossen – so das alles Wasser, was hier regnet, vor Ort versickert oder verdunsten kann – das Wasser bleibt da, wo es normalerweise bleiben würde!"

Einsatz von Regenwasser zur Bewässerung von Pflanzen

Dass hier das Wasser nicht in den Kellern landet, wird durch simple Vorrichtungen gewährleistet. Durch flache Gräben in den Grünanlagen entlang der Verkehrswege, in denen sich bei Starkregen Wasser sammelt - aber auch durch technisch optimierte Dach- und Fassadenbegrünung:
"Das Physik-Gebäude ist eins der Modellvorhaben, was hier realisiert worden ist. Und das ist nicht einfach nur grün!"

Erklärt der Klimaforscher Dr. Fritz Reusswig vom Potsdamer Klima-Institut PIK.
"Sie sehen ja diese Leitungen – das heißt: Wir haben hier auch 'ne Bewässerung – den bewussten Einsatz von Regenwasser zur Bewässerung der Pflanzen, die dann auch, wenn's heiß ist, was abgeben können. Ich glaube, die haben auch gemessen, was der Kühlungseffekt wäre im Vergleich mit einer konventionellen Klima-Anlage - die mit vielleicht fossilem Strom betrieben ist – also zum Treibhauseffekt beiträgt – und es zeigt sich, dass hier ein Kühleffekt eintritt, der dem einer konventionellen Klima-Anlage entspricht – und die haben auch betriebswirtschaftlich geguckt – ist so 'ne Anlage, die natürlich teurer ist, als einfach nur Efeu zu pflanzen – billiger ist, als 'ne klassische Klima-Anlage!"

Fritz Reusswig hat im Auftrag des Berliner Senats Programms - mit dem Potsdamer Klimaforschungs-Institut verschiedene Modelle bezüglich der Berliner Klima-Entwicklung durchgespielt:
"Alle Modelle sagen: In Zukunft bewegen wir uns in Richtung mediterrane Stadt!"
Konkret: Die Zahl der Hitzetage mit über 30 Grad Celsius wird sich bis 2o5o wahrscheinlich fast verdoppeln – und die sogenannten Starkregenereignisse werden in diesem Zeitraum um circa 25 Prozent zunehmen!
"Wir werden den nächsten Starkregen kriegen, gar keine Frage, vielleicht noch in diesem Jahr – und dann werden alle sagen: Hej, was? Trockenheit? Stimmt doch gar nicht! Die Wahrheit ist: Wir kriegen 'ne Kombination von beidem!"
Die Kombination von beidem schafft enorme Probleme – Hitze kann gerade für ältere, gesundheitlich angeschlagene Leute lebensgefährlich sein – und Niederschläge? Können enorme wirtschaftliche Schäden anrichten. Aber während Städte wie Köln, Leipzig und so weiter in den Hochwasserschutz investieren, habe man sich in Berlin um Überflutungen bisher kaum Gedanken gemacht – dabei ...
"hat die Versicherungswirtschaft festgestellt: Was aus den Flüssen kommt – das sind die Überschwemmungen - und Überflutungen, sind das, was nicht mehr in die Kanäle reinpasst – und Überschwemmungen sind nur ein Drittel der Schadenssumme, die wir bundesweit haben. Zwei Drittel sind die Überflutungen, die stattfinden nach Starkregen-Ereignissen, heißt: die Schäden sind dreifach höher."
Ein Pkw fährt in Berlin nach einem Gewitter und starken Regenfällen durch die Wassermassen in der Breiten Straße.
Nach Gewittern mit Starkregen ist die Breite Straße in Berlin überschwemmt.© dpa / Paul Zinken

Kanalisation in Deutschland nach Normen konstruiert

Dass sich solche Überflutungen abmildern – oder gar durch Versickerungs- und Verdunstungsflächen auf Dächern, an Fassaden, im wieder entsiegelten Straßenraum vermeiden ließen – zu dieser Einsicht ist man mittlerweile auch bei den Berliner Wasserbetrieben gelangt.
Pressesprecher Stephan Natz: "Ist ja simple Physik! Wenn's wärmer wird, dann kann mehr Wasser in der Luft sein."
Es werden zwar weiter Steuergelder in dreistelliger Millionenhöhe investiert, um mit riesigen unterirdischen Vorflutbecken die Kanäle bei Starkregen entlasten zu können, aber:
"Für diese Weltuntergangsgeschichten, wie wir sie voriges Jahr erlebt haben, sind die nicht gemacht! Die unterirdischen Großanlagen sind ja entweder immer zu groß, dann fließt nix drin, dann stinkt's, dann regen sich die Leute auf! – Oder: zu klein! Die Kanalisation in Deutschland wird – wie alles in Deutschland – nach Normen konstruiert. Und die Normen sagen für so einen städtischen Bereich einjährliche bis dreijährliche Wiederholungswahrscheinlichkeiten - aber: Was wir letztes Jahr erlebt haben, war ein Jahrhundert-Ereignis!"
Darum setzt man auch bei den Wasserbetrieben auf das Schwammstadt-Konzept – nennt es aber lieber: dezentrales Regenwassermanagement. Dezentral, weil diverse Akteure beteiligt sind: Stadt- und Verkehrsplaner, private Bauherren, Architekten und Immobilien-Entwickler, dazu natürlich die Wasserwirtschaft, der Gesetzgeber, der neue Bauregeln aufstellen muss, Bürger, die Freiflächen mitgestalten wollen, Urban-Gardening-Initiativen und so weiter. All diese Akteure können über die gerade von den Wasserbetrieben gegründete Regenwasser-Agentur– unter Leitung der Wissenschaftlerin Darla Nickel - in Kontakt treten:
"Wir haben die Aufgabe, Informationen zu sammeln und bereitzustellen, die Aufgabe, die guten Beispiele, die es gibt, bekannt zu machen, die Akteure in der Stadt, die Multiplikatoren und die, die Maßnahmen auch umsetzen, zu vernetzen, Pilotprojekte umzusetzen, und nicht zuletzt haben wir auch die Aufgabe, mit Vertretern der Landesverwaltung, mit den Bezirken et cetera gute Konzepte zur Umsetzung der dezentralen Regenwasserbewirtschaftung zu entwickeln."

Jetzt ist die Zeit für konkrete Maßnahmen

Berlin wächst, überall entstehen neue Gebäudekomplexe, was heißt: Jetzt ist die Zeit, konkrete Maßnahmen wie Dach- und Fassadenbegrünungen, Versickerungs- und Verdunstungsflächen einzuplanen und umzusetzen – dazu komme:

"Ich glaube, das wird ein richtiges Geschäftsfeld. Das ist nicht mehr nur Zukunftsmusik. Berlin ist Hauptstadt der Start-ups, die Rahmenbedingungen sind gerade so, dass man als Start-up neue Lösungen suchen muss."
"Berlin hat im Klimaschutz immer hinten dran gehangen - aber jetzt? Dies Konzept könnte Berlin nach vorne bringen, wenn in der Bevölkerung die Akzeptanz dafür entsteht, und nicht alle das Gefühl haben: das ist alles Luxus."
"Die Extrem-Ereignisse in den letzten Jahren haben die Bürger aufmerksam gemacht, was passieren kann – und wenn einmal ein Bewusstsein dafür da ist, dann erwarte ich große Akzeptanz."
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