Ré Soupault: "Katakomben der Seele"

Protokoll einer Nachkriegsmisere

Flüchtlinge, die aus der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands nach Westdeutschland geflohen sind, leben in der Umgang des Lagers Bohldamm in Uelzen in Niedersachsen in provisorischen Hütten.
Flüchtlinge, die aus der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands nach Westdeutschland geflohen sind, leben in der Umgang des Lagers Bohldamm in Uelzen in Niedersachsen in provisorischen Hütten. © picture alliance / dpa
Von Marko Martin · 03.11.2016
Im Herbst 1950 reiste die Französin Ré Soupault durch Westdeutschland und dokumentierte als Reporterin die Flüchtlingskrise. Die gerade gegründete Bundesrepublik hatte zwölf Millionen Ost-Flüchtlinge zu integrieren. Ihr Text ist jetzt auf Deutsch erschienen.
Westdeutschland im Herbst 1950: Die Flüchtlingszahlen steigen und steigen, die Behörden kommen mit der Registrierung nicht mehr hinterher, längst sind die eilig hochgezogenen Barackensiedlungen überfüllt und zum Ort von Krankheiten und physisch ausgetragenen Konflikten geworden.
Am bedenklichsten aber ist das Schicksal der "unbegleiteten Jugendlichen". "In den Städten sieht man diese Halbwüchsigen in Kneipen, Vergnügungslokalen umherziehen, und man fragt sich, wie es möglich ist, dass der Staat nicht vor allem diese Gefahr - denn hier handelt es sich um eine der größten sozialen und moralischen Gefahren - zu beseitigen versucht", schrieb Ré Soupault.

Der junge bundesdeutsche Staat war komplett überfordert, wenn auch mit Beamten ausgestattet, die ihr Möglichstes versuchen. Denn die Sicherheitsbehörden müssen wachsam sein, kommen doch über die "grüne Ostzonengrenze" vermutlich auch eingeschleuste Spione. Ein Dilemma, wie auch eine Chance: "Waldemar Kraft, Schleswig-Holsteins damaliger stellvertretender Ministerpräsident, glaubt nicht an eine Verteidigung des Westens mit dem Schwert allein. Ein tiefgreifendes Sozialprogramm muss seines Erachtens her. Denn welche Freiheit hätten die Heimatlosen und Entrechteten sonst wohl gegen den Osten zu verteidigen?" Jener Herr Kraft, der im September 1950 so kenntnisreich-pragmatisch sprach, war allerdings zehn Jahre zuvor noch "Ehrenhauptsturmführer der SS" gewesen.

Der Text atmet Empathie

Es ist ein beunruhigender Blick in die Vergangenheit, den die Lektüre von Ré Soupaults "Katakomben der Seele" dem heutigen Leser beschert. Was die 1996 hochbetagt in Paris verstorbene Wahlfranzösin, Bauhaus-Schülerin, legendäre Fotografin und Ehefrau des surrealistischen Dichters Philippe Soupault vor über sechs Jahrzehnten während einer dreiwöchigen Westdeutschlandlandreise notierte, scheint inzwischen relevanter denn je.
Zwölf Millionen Ost-Flüchtlinge hatte die gerade gegründete Bundesrepublik zu integrieren, wobei die pommerschen, schlesischen oder sudetendeutschen Vertriebenenorganisationen und Landsmannschaften wertvolle Hilfe leisten - freilich waren diese an der Führungsspitze mit zahlreichen Alt-Nazis besetzt. Ré Soupault, die zusammen mit ihrem Mann 1942 in allerletzter Minute und unter Zurücklassung all ihres Fotomaterials vor den in Tunis einrückenden Nazitruppen geflüchtet war, protokollierte diese Nachkriegsmisere und lässt sich dabei keineswegs emotional überrumpeln oder als Berichterstatterin instrumentalisieren.
Und doch atmet ihr Text Empathie und hat über die Zeiten und Jahrzehnte hinweg etwas bewahrt, das gerade uns Heutigen von Nutzen sein könnte: Die Einsicht in das Vermischte, in das Hoch-Ambivalente menschlichen Tuns, individueller Schicksale und gesellschaftlicher Prozesse, die in einer simplen Schlagzeile - oder in einer vermeintlich reinen Gesinnung - nie und nimmer adäquat zu beschreiben wären. Ré Soupaults präzise Reportage, illustriert mit packenden Schwarzweiß-Fotografien, setzt deshalb Maßstäbe - bis in unsere Gegenwart.

Ré Soupault: Katakomben der Seele. Eine Reportage über Westdeutschlands Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem 1950
Herausgegeben von Manfred Metzner
Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2016, 64 Seiten, 17,80 Euro

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