Raum für Improvisation

Von Ulrich Fischer · 26.04.2012
Im Oldenburger Staatstheater findet derzeit das Festival PAZZ - das Internationale Performing Arts Festival - statt. Mit fast 100 Veranstaltungen soll dem Publikum ein experimentierfreudiges Programm geboten werden. Den Anfang machte der Regisseur Marc Becker mit dem Stück "Avanti Infantilitanti".
Oldenburg hat ein eigenes Staatstheater, es ist das kleinste der Republik, aber immerhin. Und Raum ist in der kleinsten Hütte - nicht nur für ein liebend Paar, sondern im kleinsten Staatstheater für Festivals. Eines hat am vergangenen Freitag begonnen, es nennt sich PAZZ.

Auf seiner Website erläutert das Oldenburgische Staatstheater: "So wie JAZZ für die freie Form in der Musik steht, so steht PAZZ für die freie Form im Theater." 2008 wurde das neue Festival aus der Taufe gehoben, jetzt geht es zum dritten Mal über die Bretter, es dauert noch bis zum kommenden Sonntag.

"Bei fast 100 Veranstaltungen in einer prallen Theaterwoche wird dem Publikum ein spartenübergreifendes und experimentierfreudiges Programm geboten, das einen Einblick in die internationale Performing-Arts-Szene gewährt", verspricht das Oldenburgische Staatstheater vollmundig.

Die Bühne hat zu seinem PAZZ-Festival nicht nur Gäste eingeladen, sondern trägt auch eigene Produktionen zum Festival bei, darunter sogar eine Uraufführung. Hausautor und -regisseur Marc Becker inszeniert sein Stück "Avanti Infantilitanti":

"Das heißt: 'Vorwärts die Infantilen'. Den Stücktitel hab ich gewählt, weil ich den Spielern eine große infantile Freiheit beim Spiel zukommen lassen wollte. Die Grundidee hatte ich eigentlich vor vielen Jahren schon - da hatte ich einen Text von Konrad Lorenz gelesen. Der hat geschrieben, dass für ihn das Grundübel der westlichen Zivilisation nicht in einem radikalen Kapitalismus liegt, sondern in einer fortschreitenden Infantilisierung. Damit meinte er, dass der Respekt abnimmt, dass man alles immer sofort haben will, nicht langfristig denkt und das die meisten Menschen nicht mehr Verantwortung für ihr Tun übernehmen.

Wir feiern einen Kindergeburtstag mit vier Erwachsenen, die sich wie Kinder benehmen, aber keine Kinder sind und ja auch Erwachsene bleiben, zum Teil sich kindisch wegen oder auch nicht , wie ihnen gerade zumute ist, wie sie gerade Lust und Laune haben und unsere Hoffnung ist eben, dass sich alle weiteren Aspekte, die wir uns gedacht haben, die wir uns angelesen haben, worüber wir diskutiert haben in den Proben, dass das mitschwingt. Dass man also die Möglichkeit hat, den Abend als albernen Kindergeburtstag angucken kann, hoffentlich dann Spaß zu haben und auf der anderen Seite dann trotzdem noch gesellschaftliche Aspekte in dem Ganzen zu sehen, die natürlich nicht mit dem Zeigefinger gezeigt werden, das würde das ganze verwässern, aber die mit drinstecken."

"Avanti Infantilitanti" steht gleich am Anfang des Festivals. Es wird unter freiem Himmel gespielt, die Akustik ist prekär. Die Schauspieler hatten viel Raum für Improvisation und nutzten ihn weidlich. Becker und sein Ensemble haben weitgehend auf Sprache verzichtet, da das PAZZ international ist, und sie für alle verständlich sein wollen.

Leiter des Festivals, das jetzt zum dritten Mal über die Bretter geht, ist Thomas Kraus. Sein Konzept ist klar umrissen:

"Wir haben jetzt nicht nur normale Produktionen, die man im Schauspielhaus und in der Studiobühne sieht, sondern wir machen Grenzüberschreitungen in andere Kunstbereiche - es gibt zwei Kriterien, die für mich wichtig sind. Für mich ist wichtig die Handschrift von einer Theatergruppe und wir machen auch langfristige Zusammenarbeit mit den Gruppen. Wenn es um die Auswahl der Stücke geht, die man dann einlädt, fällt es letztens immer darauf zurück, dass man einlädt, was einem gefällt. Ich mag Theater, wo die Fantasie weiterhin die Hauptrolle spielt."

Veranstalter des PAZZ-Festivals ist das Staatstheater Oldenburg. Macht da die Bühne im Nordwesten nicht mit dem Festival seinem normalen Spielplan Konkurrenz? Markus Müller, Oldenburgs Generalintendant, überlegt:

"Ich glaube nicht, dass wir uns Konkurrenz machen, weil ja die Projekte so unterschiedlich sind. Wir machen uns vielleicht im guten Sinne Konkurrenz, weil wir zeigen, was es auf der Welt sonst noch gibt und das auch gegeneinander setzen. Wir haben schon das Selbstbewusstsein, dass wir auch mit dem, was wir machen insgesamt auch ganz glücklich sind, manchmal scheitern wir auch kolossal. Wir versuchen jetzt nicht zu sagen, lass uns möglichst niemand von außen einladen, damit unsere Projekte relativ gesehen besser dastehen, sondern nehmen diese Impulse gerne auf und glauben, dass aus der konkreten Reibung was Tolles entsteht. Also ich glaube, dass es sich wirklich befruchtet und nicht Konkurrenz macht."

Gleich am Eröffnungsabend gab es nach der Uraufführung von "Avanti Infantilitanti" noch ein beifallumtostes Gastspiel aus Schottland von der Gruppe "Circle of Eleven". Daniel Bière, der einzige Darsteller, ist kaum Schauspieler, mehr Tänzer und Akrobat, aber vor allem Pantomime. Seine Figur heißt Leo, ein junger Mann in einem engen Raum. Bière tritt rechts auf, die linke Seite der Bühne zeigt sein von einer Videokamera aufgenommenes Bild - allerdings um 90 Grad gedreht. Dadurch entstehen verblüffende Effekte. Während Leo tatsächlich auf dem Rücken liegt und die Beine bewegt, scheint es in der Videoprojektion, als gehe er die Wand empor. Die meisten Effekte lassen den virtuellen Leo erscheinen, als seien für ihn die Gesetze der Schwerkraft aufgehoben.

Die Effekte behalten die Oberhand, sie tragen fünfzehn, vielleicht zwanzig Minuten, dann beginnen sie sich zu wiederholen, abzunutzen. Die Geschichte ist relativ schwach: Leo will aus dem engen Raum hinaus. Obwohl der Pantomime bewundernswürdig ist, erscheint doch die Aufführung mit einer Stunde zu lang. Theater braucht eine gute Geschichte, "Leo" ist eine Performance, es fehlt das Salz in der Suppe, wenn die Fabel zu wünschen übrig lässt. Eine Einsicht, die auf andere Produktionen übertragen werden kann: zum Beispiel auf Antonia Baehrs "Lachen".

Antonia Baer hat das Lachen von Freunden notiert und trägt ihre Partituren in einem Soloabend vor. Es ist teilweise Erkenntnis erweiternd, wie das Lachen eine Persönlichkeit beschreibt, wie es die Mimik bestimmt, ja die ganze Körperhaltung - aber die inhaltliche Basis erscheint auch hier schmal - allerdings für Schauspieler eine Fundgrube für Detailstudien.

Trotzdem gab es wie oft, begeisterten Applaus, bei "Leo" sogar Jubel, dem Pantomimen nötigte das Publikum eine Zugabe ab. Die gute Laune der Zuschauer, die überall vorherrschte, brachte die Künstler in Hochstimmung - beste Voraussetzungen für hervorragende Leistungen.

Gespielt wurde in der Exerzierhalle, einer Nebenspielstätte des Staatstheaters, auf dessen Hof eigens eine Containersiedlung eingerichtet wurde. Sie bewies Anziehungskraft vor allem für junge Leute. Das Staatstheater versucht offenbar, Studenten zu ködern - wohl mit einigem Erfolg. Allerdings mischten sich auch nicht wenige graue Häupter unters Publikum.

Nicht alle Theaterleute suchten den Schutz von Bühnen oder vom Künstlerdorf, die Mutigsten gingen in die Stadt - die "Fräuleinwunder AG" aus Hildesheim wagte sich in die Fußgänger- und Einkaufszone. Dort parkten sie für ihr Projekt "Caravan of Love" einen Wohnwagen, der mit roten Reizmitteln an Gefährte erinnerte, mit denen mobile Sexarbeiterinnen an Rändern viel befahrener Straßen Kunden locken. Die Oldenburger gingen meistens ein wenig geduckt vorbei, wurden aber immer wieder eingeladen.

Wer Platz nimmt, kann einen Fragebogen ausfüllen wie beim Arbeitsamt, es folgt ein Intensivgespräch - und neben dem Spaß über die Doppelbödigkeit einer Sprache über sexuelle Wünsche, die nicht offen benannt werden dürfen, macht sich die Erkenntnis breit, dass unsere Arbeit mit unseren Wünschen selten in Übereinstimmung steht. Der "Caravan of Love" ist ein hochironisches, vielschichtiges Projekt über Entfremdung mit treffenden Angriffen auf die Bundesanstalt für Arbeit. Das Logo des Arbeitsamtes, das große A mit Kreis, steht auch im Fragebogen im Logo der Vermittlungsagentur. Ja, bestätigt Carmen Waack vom Fräuleinwunder, aber es steht auf dem Kopf. Andersrum." - Die mobile "Arbeitsagentur für Liebesdienste" gehört zu den überzeugendsten, weil subtilsten und subversivsten Produktionen von PAZZ 2012.

Die Faustregel lautet: kein Festival ohne Flop. Das gilt auch fürs PAZZ. "The Quiet Volume", - auf Deutsch etwa: "Das stille Buch" - nutzt als Spielstätte eine Bibliothek. Eine englische Gruppe hat für die Besucher einen Tonträger vorbereitet - aber die Stimme, die im Kopfhörer flüstert, führt statt ins versprochene Leseabenteuer in die Ödnis der Langeweile und fördert nicht Aufmerksamkeit, sondern Schläfrigkeit. Eine überflüssige Veranstaltung.

Mit der Enttäuschung versöhnte "The Best Sex I've Ever Had", ein Glanzlicht. Zehn Laien im fortgeschrittenen Alter erzählen aus ihrem Leben und lassen den Sex nicht aus - ein heiterer Abschied von menschen- und körperfeindlichen Tabus. - "White Rabbit/Red Rabbit" von Nassim Soleimanpour ist ein glänzendes Stück über und gegen Diktaturen. Soleimanpour stammt aus dem Iran; er könne nicht ins Ausland reisen, berichtet er in seinem Stück, weil er keinen Reisepass bekomme. Er hat keinen Wehrdienst geleistet. Mit seinem Stück knüpft er dennoch Beziehungen über Grenzen. Dazu braucht er ein Medium, einen Schauspieler.

Nicht ganz so subtil aber dafür provozierender und ebenso politisch war Ilay den Boers "This is my Father" - "Dies ist mein Vater", ein israelisch-niederländisches Zweipersonenstück über Antisemitismus.

Überall boten die Spielstätten Möglichkeiten auszuruhen und ins Gespräch zu kommen:

"Es gab nichts, wovon ich enttäuscht war. Das Schlimmste, was mir passiert ist, da hab ich gesagt: Das ist eine tolle Idee. Aber das hat mich nicht unbedingt angesprochen. Also ich fand die Stücke sehr interessant, die haben mir immer etwas mitgegeben und sehr amüsant, ich fand es auch gut, dass auf Englisch ist zum Teil.

Ich find es einfach großartig, dass es so was hier in Oldenburg gibt. Also, ich bin nicht so aufgeregt, dieses Mal. Es war amüsant, aber ohne nachhaltige Wirkung. Mutig. Mutig, hat uns gut gefallen. Ich denke, sie sollten weiter so machen. Menschlich. Ich weiß nicht, wie ich's sagen soll, ich find es sehr menschlich und sehr warm."

Die Zwischenbilanz fällt erfreulich aus. Alle Projekte genügen professionellen Ansprüchen, einige sind hoch professionell. Die Unterschiedlichkeit der Produktionen bildet die Voraussetzung für die Bandbreite des Festivals. "Avanti Infantilitanti" ist welthaltiger als "Leo", "White Rabbit, Red Rabbit" subversiver als "Lachen". Das Oldenburgische Staatstheater versprach "ein spartenübergreifendes und experimentierfreudiges Programm ... , das einen Einblick in die internationale Performing-Arts-Szene gewährt." Die Bühne hat jetzt schon ihr Versprechen gehalten.
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