Rassismus in der DDR

Das verdrängte Pogrom in Erfurt 1975

10:55 Minuten
Junge Berufsauszubildende aus Mosambik in der Textilproduktionshalle beim VEB Frottana Großschönau, 1983
Vertragsarbeiter und Lehrlinge: Junge Menschen aus sozialistischen Partnerländern erhielten - wie hier 1983 beim VEB Frottana Großschönau - eine Berufsausbildung in der DDR. © akg-images / picture-alliance / ZB / Ulrich Hässler
Von Thomas Klug  · 10.08.2020
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Die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992 gelten als erstes Pogrom gegen Ausländer in Deutschland nach 1945. Doch vor genau 45 Jahren war in Erfurt bereits Vergleichbares geschehen. Die DDR-Medien durften jedoch nicht darüber berichten.
Vor dem Weltjugendlied gab es kein Entrinnen in der DDR. "Jugend aller Nationen", "die Welt" und "international" waren wichtige Schlagworte: Internationale Anerkennung. Internationale Solidarität. Und die DDR als ihr eigenes Weltwunder: Alles ist gut.
"30 Jahre marxistisch-leninistische Agrarpolitik. 30 Jahre Bündnis der Arbeiterklasse mit den Bauern." So wirbt das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" am 9. August 1975 für einen Beitrag auf Seite 3. Eine ganze Seite voller Phrasen eines Politbüro-Mitgliedes.
Die Zeitung ist nicht spannend. Aber sie sagt ein heißes Wochenende voraus. Im Süden der DDR sollen es um die 30 Grad werden. Diese Vorhersage stimmt. Und: Der Sonntag in Erfurt könnte in die Geschichte eingehen, ganz unrühmlich: Pogrom im Jahr 1975

Volksfest auf dem Domplatz

Erfurt, die Bezirkshauptstadt im Süden der DDR, bereitet sich auf die IGA vor, die internationale Gartenbauausstellung. Am Wochenende ist Volksfest auf dem Erfurter Domplatz. Jugendliche geraten aneinander. Doch es ist keine kleine Volksfest-Prügelei, die sich schnell beruhigen lässt.
Das Ministerium für Staatssicherheit notiert:
"10. 08.: Tätlichkeiten zwischen algerischen, ungarischen (sic!) und Jugendlichen aus Erfurt auf dem Volksfest. In der Folge werden 25 algerische Bürger, die solidarisch (sic!) ihren verletzten Kollegen (2) folgen und sich selbst gegen tätliche Angriffe schützen wollen, von bis zu 300 aufgebrachten jungen Erfurter Bürgern bis in den Bereich des Hauptbahnhofs verfolgt und teilweise zu tätlichen Auseinandersetzungen provoziert."
Bis zu 300 Jugendliche aus der DDR jagen Algerier und Ungarn durch die Straßen Erfurts. Und das ist erst der Anfang. Am nächsten Abend geht es weiter. Die Stasi hält fest:
"11.08. In den Abendstunden werden Gruppen algerischer Bürger im Stadtzentrum, die korrekt auftraten, von negativen Erfurter Bürgern provoziert, ohne dass es zu Tätlichkeiten größeren Ausmaßes kommt. Gegen 23.15 Uhr stellte eine Gruppe von Erfurter Bürgern, vorwiegend Jugendliche, zwölf auf dem Weg ins Wohnheim befindliche Algerier vor der Hauptpost. Sicherheitsorgane geleiten die algerischen Bürger ins Hauptpostamt und veranlassen ihren gedeckten Abtransport (Hinterausgang) in Richtung Wohnheim.
Inzwischen ist die Gruppe auf 150 Personen angewachsen; es wird provokatorisch Herausgabe der Algerier verlangt, die man laut Zwischenrufen und Sprechchören ´totschlagen bzw. hängen` will. Ihre Zielsetzung kommt auch darin zum Ausdruck, dass solche Rufe erfolgten wie ´Schlagt die Bullen tot`.
Es gibt keine Bilder und keine Tonaufnahmen. Das hilft, alles zu vertuschen. Der Historiker Harry Waibel benennt das, was an diesem und den folgenden Tagen passiert: "Diese Pogrome, die in diesen Tagen im August 1975 stattgefunden haben, waren auch dadurch gekennzeichnet, dass zum ersten Mal in der DDR ein Wohnheim ausländischer Arbeiter gewalttätig angegriffen wurde. Diesen ersten Angriff folgten weitere 39 bis zum Ende der DDR."

Erstes Nachkriegspogrom in Deutschland

Das erste Nachkriegspogrom in Deutschland – ausgerechnet in der sozialistischen und antifaschistischen DDR. Ein Grund für Ursachenklärung und gesellschaftliche Debatten. Und ein Ereignis für die Geschichtsbücher – eigentlich.
"Es gab bis zu diesen August 1975 in der DDR einen latenten und einen offenen Rassismus, der sich vorwiegend richtete gegen Arbeiter, die aus den benachbarten Staaten der DDR als Gastarbeiter, aber eben auch als Pendler, aus Polen zum Beispiel, in den Betrieben der DDR gebraucht wurden. Da gab es schon massive rassistische Angriffe in den 60er-Jahren gegenüber Polen, aber auch Ungarn und anderen Menschen, die aus anderen Ländern in die DDR gekommen waren", sagt Waibel.
Alexander vom Humboldts Naturgemälde der Tropenländer (1807) zeigt einen Querschnitt durch den Andenvulkan Chimborazo.
© Deutschlandradio/ akg-images/ Science Source
Seit ihrer Gründung mangelte es der DDR an Arbeitskräften. Sie suchte deshalb seit Anfang der 1960er-Jahre Unterstützung aus den sogenannten Bruderländern Polen und Ungarn. Die angeworbenen Arbeitskräfte wurden Vertragsarbeiter genannt. Die Arbeitsverträge wurden nicht mit den Arbeitern, sondern mit den jeweiligen Herkunftsländern geschlossen, 1974 mit Algerien. Von Integration war dabei nie die Rede. Die ausländischen Arbeiter wurden, so gut es ging, separiert – das war die reale Politik der DDR.
Historiker Harry Waibel hat sich mit Rassismus und Rechtsradikalismus in der DDR beschäftigt. "Dieser latente und auch offene Rassismus, der bis dahin in der DDR schon existiert hat, brach in einer Weise aus, die damit zusammenhängt, dass zum ersten Mal eben außereuropäische Arbeiter in die DDR gekommen waren", sagt Waibel.
"Meistens sprachen diese Vertragsarbeiter – das war der offizielle Titel – kein Deutsch. Die hatten zwar ein, zwei Monate einen Sprachkurs, aber mit zwei Monaten kann man die deutsche Sprache nicht lernen. Das ist völlig unmöglich. Das heißt, es war von vornherein nicht möglich, dass eine Kommunikation stattfand. Die war aber auch nicht gewünscht."

Vertragsarbeiter und DDR-Bevölkerung

Die Bedingungen für die algerischen Vertragsarbeiter waren klar: Trennungsgeld gab es keines. Ein Teil des Lohns – zwischen 20 und 60 Prozent – wurde einbehalten und sollte ihnen nach der Rückkehr von der algerischen Regierung ausgezahlt werden. Der Aufenthalt der Vertragsarbeiter war auf vier Jahre beschränkt. Die Unterbringung erfolgte in Gemeinschaftsunterkünften.
Liebesbeziehungen zwischen Vertragsarbeitern und DDR-Bürgern waren nicht erwünscht. Schwangere wurden abgeschoben. Heiraten bedurften einer Genehmigung – von beiden Staaten.
"Mit dem Einleben der algerischen Bürger ist die Kontaktaufnahme zu weiblichen Bürgern der DDR verstärkt festzustellen. Dabei reduziert sich die Kontaktaufnahme in der Regel auf labile, oft HWG-Personen weibliche Bürger."
So steht es in einem Bericht des Ministeriums für Staatssicherheit. HWG steht für "häufig wechselnder Geschlechtspartner". Weiter heißt es:
"Die Zahl der festeren intimen Beziehungen nimmt zu und kann in der Folgezeit zu Anträgen auf Eheschließung sowie zu Schleusungen führen."

Die Gerüchteküche brodelt

Der latente Rassismus der DDR trifft hier auf ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Menschen aus anderen Ländern.
Manchmal berichteten DDR-Medien über Vertragsarbeiter: Sie wurden als Auszubildende aus befreundeten Ländern dargestellt, die in der DDR Erfahrungen sammeln durften, die sie später in ihren Heimatländern nutzen konnten. 1989 hieß es in der "Aktuellen Kamera", der Nachrichtensendung des DDR-Fernsehens, in einem Bericht über die Mai-Demonstration: "Ausländische Bürger, die in der DDR leben, verleihen dem Demonstrationszug ein Stück Exotik."
Und noch etwas wurde in den ostdeutschen Medien gerne behauptet: Den Vertragsarbeitern sei die DDR zu einer "zweiten Heimat" geworden. Vielleicht so lange, bis sie den "Arbeiter- und Bauernstaat" verlassen mussten. Oder bis sie den Rassismus in der DDR kennenlernten, den die Propaganda zu überdecken suchte.
Im August 1975 kursierten einige Gerüchte in Erfurt
- "Die Algerier sind nicht so sauber. Die Algerier sind lockeren Frauen zugetan. Die Algerier sind nicht arbeitsam."
- Wir müssen auf die jungen Mädchen achten, denn die Algerier...
- Es gibt Messerstechereien.
- Die Algerier haben jemandem vergewaltigt. Und umgebracht."
Polizei und Staatssicherheit ermittelten. Keines der behaupteten Verbrechen hat stattgefunden. Doch die Gerüchte wirken.
"24 Uhr. Im Wohngebiet Nordhäuser Straße, in der Nähe des Wohnheims der algerischen Bürger werden etwa 20 junge Erfurter Bürger mit Stöcken ausgerüstet festgestellt, darunter drei Angehörige der NVA. Gruppe wird aufgelöst."
Ein 20-jähriger Deutscher gibt bei der Polizei an, von drei Algeriern überfallen worden zu sein. An seinem Unterarm war eine vier Zentimeter lange Schnittwunde. Die Polizei konnte nachweisen, dass er sich die Wunde mittels einer Rasierklinge selbst zugefügt hat. Sein Motiv nach eigener Aussage: "Um gegen die Algerier vorzugehen".

Die Konstruktion des Rädelsführers

Am Ende der tagelangen Ausschreitungen, so vermerkt es das Ministerium für Staatssicherheit, befinden sich 31 Personen in Haft, gegen neun weitere wurden Ordnungsstrafverfahren eingeleitet. Das Ministerium selbst hatte von bis zu 300 Jugendlichen gesprochen, die an den Ausschreitungen beteiligt waren.
"Daran können Sie jetzt sehen, dass Hunderte von Deutschen, meistens Männer, junge Männer, die Angriffe durchgeführt haben", sagt Historiker Harry Waibel.
"Und dann bei den Ermittlungen nahm man fünf Männer heraus. Das waren die Rädelsführer. Der Rädelsführer ist ja der, der das alles verursacht, der sagt, wo es lang geht, der den Ton vorgibt. Und dieses konstruierte Bild des Rädelsführers beginnt, hier in Erfurt zu wirken. Das war natürlich vorher schon latent vorhanden. Und wurde da aber dann in der Vertuschung der rassistischen Vorgänge kultiviert sozusagen."
Einige wenige haben sich schuldig gemacht, die anderen wurden "nur" verführt, so die Botschaft.
Algerien kündigte 1984 den Vertrag mit der DDR.
1988 führte das Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung im Auftrag der SED eine Untersuchung zum Rechtsradikalismus unter DDR-Jugendlichen durch. Ein Ergebnis: Der Aussage "Der Nationalsozialismus hatte auch seine guten Seiten" stimmten zwölf Prozent der befragten Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren zu.
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