"Ralf Dahrendorf war ein dezidierter Liberaler"

Jürgen Kocka im Gespräch mit Susanne Führer · 18.06.2009
Der Historiker und frühere Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Jürgen Kocka, hat den starken Einfluss des Werkes des verstorbenen Soziologen Ralf Dahrendorf auf die Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland hervorgehoben.
Susanne Führer: Heute Mittag erreichte uns die Meldung, dass der Soziologe Ralf Dahrendorf im Alter von 80 Jahren gestorben ist. Dahrendorf gilt als einer der Großen des Liberalismus, ein leidenschaftlicher Streiter für Demokratie und Freiheit. Im Jahr 2004 war Dahrendorf hier zu Gast, im Programm von Deutschlandradio Kultur, und es ging um Rudi Dutschke und die Studentenproteste der 60er-Jahre und auch darum, für welchen politischen Weg sich Ralf Dahrendorf damals entschieden hat.

Ralf Dahrendorf: Rudi Dutschke, den ich sehr geschätzt habe, hatte an den parlamentarischen Möglichkeiten gezweifelt und glaubte, dass man nur außerparlamentarisch Dinge bewegen kann. Ich war überzeugt davon, dass es parlamentarisch gehen muss, und wollte jedenfalls dafür kämpfen. Mit dem berühmten Ende, dass er sagte… Er sprach von den ‚Fachidioten der Politik’ und meinte darunter mich, gerade mich. Und da habe ich doch irgendwie eine Grundentscheidung getroffen, die auch bis heute bei mir geblieben ist, nämlich der Glaube an die parlamentarische Demokratie und daran, im Rahmen der parlamentarischen Demokratie für Freiheit und für andere politische Ziele zu kämpfen.

Führer: Ralf Dahrendorf. Und ich bin nun verbunden mit dem Sozialhistoriker Professor Jürgen Kocka von der Freien Universität Berlin. Er war Kollege und Freund Ralf Dahrendorfs. Guten Tag, Herr Kocka!

Jürgen Kocka: Ja, guten Tag, Frau Führer!

Führer: Sie haben ihn ja gut gekannt. War der große Liberale eigentlich auch im persönlichen Umgang so ein Liberaler, Toleranter, Ungewöhnlicher?

Kocka: Der Umgang mit ihm war sehr ersprießlich. Er war ein offener, sehr ziviler, ironischer Gesprächspartner, freundlich, neugierig und sehr angenehm als Kollege und Mitbürger.

Führer: Wir haben es ja gerade in dem O-Ton gehört, "Fachidiot der Politik" hat ihn natürlich unmäßig geärgert, weil er ja so vieles war, aber sicher kein Fachidiot. Herr Kocka, wir haben heute Vormittag an einen anderen großen Denker der Bundesrepublik Deutschland erinnert, an Jürgen Habermas, der heute seinen 80. Geburtstag feiert. Was verbindet eigentlich diese beiden Intellektuellen?

Kocka: Also was sie auf einer grundsätzlichen Ebene verbindet, dass sie gleicher Jahrgang, 1929. Sie haben sehr bewusst die deutsche Katastrophe zwischen 33 und 45 zur Kenntnis genommen, teilweise noch selbst erlebt, und haben in ihrem Denken und in ihrem wissenschaftlichen Werk und als Bürger die resolute Konsequenz daraus gezogen, um sich einzusetzen für eine Entwicklung, die so etwas nicht mehr möglich machen würde, also als Versuch, aus der deutschen Geschichte zu lernen, aktiv zu werden als Intellektueller und als Akteur mit starkem Einfluss auf die Entwicklung der Bundesrepublik und ihr intellektuelles Leben. Das verband sie. Sie waren ja auch Kollegen, sie haben sich gut gekannt und unterschieden in anderen Hinsichten.

Führer: Also sie haben ja die Wissenschaft sozusagen aus diesem berühmten Elfenbeinturm herausgeführt, beide kann man wohl sagen. Ich habe heute noch mal nachgelesen, ich fand das in dieser Woche des Bildungsstreiks ja interessant: 1965 hat ja Dahrendorf ein Buch veröffentlicht mit dem Titel "Bildung ist Bürgerrecht".

Kocka: Ja, damit hat er schon in den 60er-Jahren Furore gemacht und tiefe Spuren in der Kulturpolitik der Bundesrepublik hinterlassen. Er war nun wirklich alles andere als ein Fachidiot. Er war einmal der große Soziologe, dessen Bücher wir in den 60ern kontrovers lasen. Er war dann zum anderen der Politiker und Institutionenleiter, von der Gründung der Universität Konstanz bis zum Oberhaus in London.

Führer: Ja, und die London School of Economics, da war er Prorektor…

Kocka: … die School of Economics, wo er Direktor war, und er war Warden, Dekan in einem College in Oxford, im St. Anthony’s College, und vieles andere mehr. Er hat zuletzt auch … Er hat auch Berliner Institutionen vielen geholfen, den Wissenschaftskolleg beraten und er war Mitglied, Forschungsprofessor im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, da habe ich ihn hingeholt, und da sind wir sehr stolz darauf. Und er war eben neben diesen – Soziologe, Politiker – eben auch der öffentliche Intellektuelle, der tiefe Spuren hinterlassen hat, zum Guten, in den Debatten der Bundesrepublik und weit darüber hinaus, kosmopolitisch kann man sagen, als dezidierter Liberaler.

Führer: Herr Kocka, können Sie das mal ein bisschen mit Inhalt, mit Leben füllen, nimmt man dieses Schlagwort vom liberalen Vordenker, vom großen Liberalen?

Kocka: Er hat ganz dezidiert aus dieser Erfahrung des Nationalsozialismus, der Diktatur – er selber wurde 1944/45 zeitweise von der Gestapo festgehalten – er hat daraus sehr dezidiert eine Grundposition der Freiheit, wie er das sagte, entwickelt, wo es um die Akzeptanz von Vielfalt, die Akzeptanz von Konflikt auch als produktivem Element und des Zusammenlebens, die Akzeptanz von Pluralität, Rechtsstaatlichkeit, Parlamentarismus und Ähnliches geht. Das war schon eine zentrale Position in seinem Denken. Zum anderen aber: Er stammt aus einem sozialdemokratischen Elternhaus. Er hat nie vergessen, dass zur Realisierung von Freiheit auch bestimmte soziale und institutionelle Bedingungen dazugehören. Er hat nie die Position eingenommen, die kritisch in den letzten Jahren, Jahrzehnten als neoliberal bezeichnet wird, sondern er tendierte eher zu einer sozialliberalen Position. Und in diesem Zusammenhang steht dann drittens seine große Liebe zu England. England war für ihn… Er wurde zum Engländer, Sie sagten es, er wurde mehr und mehr überhaupt zum Engländer. Er stieß sich an manchem, was auch in der Bundesrepublik da war – diese Art des organisierten Kapitalismus mit so viel Verabredungen und Verflechtungen, diese Durchstaatlichung unseres Lebens und anderes mehr, sodass ihm letztlich die englische Luft mehr behagte.

Führer: Der Soziologe Ralf Dahrendorf ist tot, wir erinnern an ihn im Gespräch mit dem Sozialhistoriker Jürgen Kocka von der Freien Universität Berlin. Herr Kocka, Sie haben die verschiedenen Karrieren Dahrendorfs erwähnt – oder die verschiedenen Leben, könnte man ja vielleicht auch sagen. Er war ja eine Zeit lang ein sehr aktiver Politiker, und was mir gar nicht präsent war, dass er 1970 Kommissar in der Kommission der damaligen Europäischen Gemeinschaft wurde. Trotzdem ist er ja bis zum Ende nie ein, wie soll man mal sagen, Anhänger des integrierten Europas geworden, er wollte eigentlich immer lieber so diesen lockeren Staatenbund. Ist das der Brite in Dahrendorf, den Sie zum Schluss erwähnt haben?

Kocka: Bestimmt auch. Aber es hing auch mit seiner sehr liberaldemokratischen Grundhaltung zusammen, dass er letztlich davon überzeugt war, dass bürgerschaftliches Engagement, Citizenship, Staatsbürgerschaft im vehementen Sinn, doch eher innerhalb national verfasster Gesellschaften und Kulturen möglich war, mehr als in dieser Staatengemeinschaft der EU, der es an seiner Meinung nach an Bodenhaftung und Demokratiesubstanz eben doch letztlich zu weit fehlte. Bei aller Bejahung des Integrationsprozesses – und er hat dazu beigetragen – blieb da doch bis zuletzt eine Skepsis, die er auch sehr in seinen letzten Schriften immer wieder geäußert hat.

Führer: Sie waren ja bis vor Kurzem noch Präsident des Wissenschaftszentrums in Berlin hier, und Ihnen ist es gelungen – das sagten Sie, Sie sind auch stolz drauf –, Herrn Dahrendorf dort als Forschungsprofessor zu gewinnen. Was waren denn die Themen, die ihn in den letzten Jahren am stärksten beschäftigt haben?

Kocka: Sehr umfassende Themen: Die Bedingungen der Freiheit, er kümmerte sich um die Geschichte der Sozialwissenschaften und identifizierte dort solche Sozialwissenschaftler und Philosophen, die in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts auf der Seite der Residenz, des Widerstands gewesen waren, wie Jesaja Berlin oder Popper. Das war das eine. Er leitete bis vor Kurzem die Zukunftskommission des Landes Nordrhein-Westfalen und trug bei zu einer Diagnose der Gegenwart und zu einer Abschätzung von Zukunftsmöglichkeiten. Er war jedenfalls das Gegenteil von einem fachlich eng definierten Fachgelehrten. Er war ein Sozialwissenschaftler, der die eigene Wissenschaft als ein öffentliches Geschäft verstand. Und er war ein Sozialwissenschaftler, ein Soziologe, der sehr viel von Geschichte verstand. Er hat über die Geschichte Deutschlands, die Gesellschaftsgeschichte Deutschlands im 19./20. Jahrhundert bahnbrechend gearbeitet. In beidem – sowohl mit seinem historischen Sinn wie mit seinem Bestehen auf der Öffentlichkeitswirksamkeit von Soziologie – unterschied er sich vom Gros der gegenwärtig dominierenden Sozialwissenschaftler. Und auch das haben wir an ihm im WZB, im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, sehr geschätzt.

Führer: Herr Kocka, zum Abschluss, wenn wir noch mal etwas persönlich werden wollen: In seinen Schriften kommt es ja nicht so zum Ausdruck, aber ich glaube doch in den persönlichen Kontakten, in Gesprächen mit ihm, in manchen Kleinigkeiten. Er war ja ein Mensch vor allen Dingen, der auch über enorm viel Selbstironie und Humor verfügt hat.

Kocka: Das ist wohl war. Er war ein durch und durch unpathetischer Mensch. Er war sehr früh durch Amerika-Aufenthalte geprägt, etwa im Institute for Advanced Study in Stanford, darüber hat er ausführlich berichtet. Und das ging bis in seinen sehr unprätentiösen Status und Lebensführung hinein. Gern hat er beispielsweise damit gespielt, dass er sich nie auf den Computer umgestellt hat, sondern immer noch eine bestimmte Schreibmaschine, Reiseschreibmaschine, mit sich trug. Und er verstand es, daraus ästhetisches und intellektuelles Kapital zu schlagen.

Führer: Der Sozialhistoriker Professor Jürgen Kocka von der Freien Universität Berlin über Ralf Dahrendorf, Kollegen und Freund, der gestern gestorben ist. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Kocka!

Kocka: Bitte schön!