Rätselhaftes Nachtleben

Traumwissen und Traumkulturen

28:55 Minuten
Das Bild "Queen Mab" von Johann Heinrich Füssli (1814) zeigt eine Schlafende umschwebt von Tänzerinnen.
Der Schweizer Romantiker Johann Heinrich Füssli verwebte in seinen Gemälden Traum und Wirklichkeit. © picture alliance / dpa / akg / André Held
Von Andrea und Justin Westhoff · 10.12.2020
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Menschen können fliegen, durch Mauern gehen, mit Tieren sprechen: Wenn wir träumen, tauchen wir in eine Welt mit eigenen Gesetzen ein. Neben Psychologen und Neurobiologen beschäftigen sich zunehmend auch Kulturwissenschaftler mit unseren Traumwelten.
"Mein Lieblingsklartraum klingt immer megakitschig, das war ein Flugtraum über ein Feld. Das war eine ganz intensive Morgenstimmung. Die Sonne war grad am Aufgehen. Es war ein Kornfeld, so taubedeckt, und ich bin dann kreuz und quer ganz knapp über das Feld geflogen, habe dann mit der Hand gespürt, wie es so das Korn umhaut und wie es die Tautropfen runterhaut. Das ist auch das Schöne am Klarträumen. Man kann es einfach schwer in Worten beschreiben, weil auch so viele Gefühle verstärkt auftreten, intensiver sind, schöner sind, Farben sind schöner, einfach so ein wohlig-warmes Gefühl im Bauch, und das durchströmt einen richtig."
"Ich träume häufig von Tieren, die mich beißen, verletzen, verfolgen wollen. Ich träum auch häufig, dass jemand, der mir nahe steht, stirbt, dass ich verlassen werde, verraten werde, und ich träum auch manchmal komische Phänomene an meinem eigenen Körper, zum Beispiel, dass ich meine Hände gebrauche für irgendwas, und dann verändern sich meine Finger. Die werden länger, werden dicker oder sie werden ganz dünn und ganz weich und hängen nur noch an meinen Händen und können gar nicht mehr eingesetzt werden für das, was ich jetzt zwingend machen muss."
"Das Fruchtbare daran ist, dass es ja einerseits ein Alltagsphänomen ist, was uns alle beschäftigt, sozusagen jede Nacht, wo aber auf der anderen Seite ja auch immer wieder deutlich wird, dass so ein paar Schritte weg von der Normalität sich eine ganz andere Welt auftut. Wo sich Unheimliches auftut, wo Menschen, Figuren, Stimmen, Dinge, Erfahrungen, Gefühle auftauchen, die vielleicht sonst gar nicht so viel Platz haben."

Der Schlaf und das Sterben

Im Traum ist die Logik außer Kraft gesetzt, sind die Grenzen von Raum und Zeit aufgehoben, moralische Kontrolle greift nicht mehr. Ein besonderer Seins-Zustand, zweifellos. Aber wie genau ist er zu erklären? Darüber wird seit Jahrhunderten geforscht und gestritten: Sind Träume Botschaften höherer Mächte oder Signale aus dem ureigenen Seelengrund? Entstehen sie beim Einschlafen oder sogar erst im Moment des Aufwachens – gehören also noch zum Wachbewusstsein? Oder auf die "Rückseite des Tiefschlafs" als eine Art Rettungsanker?
Der Philosoph Immanuel Kant hatte diese Idee, dass der Schlaf wie Sterben wäre, wenn nicht Träume Leben hineinbrächten. Die moderne empirische Forschung hat den Traum klar definiert und verortet als un- oder unterbewussten Zustand, als Aktivität bestimmter Bereiche des Gehirns während des Schlafes. Doch die Darmstädter Philosophieprofessorin Petra Gehring meldet grundsätzliche Zweifel an.
"Wenn es um Forschung im Schlaflabor geht, an Träumen, ist es eben so, dass da zwar auf der einen Seite physiologische Messdaten abgegriffen werden können, mit Messgeräten, quasi medizinisch, auf der anderen Seite das, was der eigentliche Gegenstand ist, der Traum, den kann man im Grunde nur dingfest machen, wenn man den oder die Träumende fragt, und ohne dass es ein Narrativ gibt, eine Erzählung, die sagt, ja, ich habe da jetzt vorhin was geträumt, nützen die ganzen Messdaten nichts. Von daher sage ich, das ist eigentlich ein kommunikatives Phänomen, der Traum."
Ein gemaltes Bild zeigt Menschen, die auf einer Mondsichel sitzen und auf die Erde herabblicken.
In unseren Träumen können wir fliegen, durch Wände gehen - oder auf dem Mond sitzen.© imago / Sand painting creative
Streng genommen, so Gehring, gibt es kein objektives Traumwissen, sondern nur individuelle Traumerfahrungen, die auch noch vermittelt werden müssen. Genau deshalb aber sind Träume durchaus ein interessantes Forschungsfeld, weil sie so etwas über die jeweilige Kultur aussagen, über gesellschaftliche oder politische Verhältnisse möglicherweise oder über die Vorstellungen vom Schlaf und vom Wachbewusstsein.

In der Nacht die Probleme des Tages verarbeiten

Wir haben uns drei unterschiedliche Ansätze etwas genauer angesehen, zum Beispiel bei Michael Schredl, Direktor des "Zentralinstituts für Seelische Gesundheit" in Mannheim.
Er kommt zwar aus der empirischen Traumforschung, ist aber auch weniger an den physiologischen Vorgängen interessiert:
"Ich selbst bin ja zur Traumforschung gekommen über das Interesse an meinen eigenen Träumen, und was mich am meisten fasziniert hat an den Träumen insgesamt, war der kreative Aspekt. Also, Träume sind eben kein normales Widerspiegeln, was wir am Tage erlebt haben, sondern: Es ist eine sehr kreative Mischung, die sehr zielgenau die Konflikte und die Themen darstellt, die einen aktuell beschäftigen."
Simon Rausch, ein junger Mann aus Trostberg in Bayern, ist in einem Zweig der Traumforschung unterwegs, um den es zurzeit einen besonderen Hype gibt:
"Ich sag immer gern, am Tag bin ich Grafikdesigner und in der Nacht bin ich Klarträumer." Also ein Mensch, der im Schlaf erkennt, dass er träumt, und deshalb das Geschehen bewusst steuern kann. Wir haben ihn in einer Art "Coaching" nach Tipps für Klartraum-Anfänger und Fortgeschrittene gefragt:
"Angenommen, ich möchte fliegen zum Beispiel?"
"Da gibt es mehrere Techniken, wie man im Klartraum das Fliegen meistern kann. Interessanterweise wird das öfter beschrieben, dass es am Anfang der Klarträume nicht so gut funktioniert, eine Technik, die ich sehr mag, mir selbst ausgedacht hab, klingt auch ganz blöd, aber im Klartraum sieht es ja keiner und hört es ja keiner: Fluggeräusche imitieren. Ich hab einfach Luft ausgestoßen und mir gedacht, okay, das ist der brausende Wind, und das hat bei mir funktioniert, hat das Fliegen erleichtert."
"Und dann kriegt man so ein Gefühl von: Ich fliege?"
"Man kennt das Gefühl vom Fallen, man kennt das Gefühl von Wind, und genau diese Gefühle, die werden im Klartraum für den Flug zusammengesetzt und simuliert."

Träume als kulturelle Konstrukte

An der Uni Saarland sind wir auf das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt "Europäische Traumkulturen" gestoßen.
Hier werden Träume ganz selbstverständlich als "kulturelle Konstruktionen" betrachtet, sagt die Sprecherin und Professorin für Literaturwissenschaft Christiane Solte-Gresser.
"Das ist unsere Ausgangsbasis für all unsere Forschung, dass wir ja nie einen ganz direkten Zugang haben, sondern dass wir immer auf das Erzählen oder das Wiedergeben oder das Erinnern von Träumen angewiesen sind, für Kulturwissenschaftler ist es besonders spannend, dass alle Kunstformen und die unterschiedlichsten Wissenschaften sich mit diesem Phänomen beschäftigen."
Und welche Kunstform eignet sich am besten für die kulturwissenschaftliche Traumforschung?
"Ich spreche jetzt dann natürlich als Literaturwissenschaftlerin, wenn ich sage, dass man vielleicht als Erzählung ganz besonders komplex das Verhältnis von Traumerleben und Wachwirklichkeit gestalten kann. Als Filmwissenschaftlerin würde ich sagen, dass der Film, dadurch, dass er auf mehreren Kanälen gleichzeitig funktioniert, dass er mit Sprache arbeitet, dass er mit Bildern arbeitet, dem Traumerleben, wie es auch von anderen Wissenschaftlern erforscht wird, sehr, sehr nahe kommen kann: In der Psychologie und in der Psychoanalyse hat man längst herausgefunden, dass, wenn Träume erzählt werden, immer solche Mittel gebraucht werden wie: Es fühlt sich an wie im Theater. Oder: Es war wie im Film. Oder: Es tritt jemand auf. Oder: Es tritt jemand ab. Und ich glaube schon, dass jedes einzelne Medium, der Film, die Malerei, die Musik, spezielle Möglichkeiten hat, Träume darzustellen, aber eben auch bestimmte Grenzen."
Das Bild "Queen Mab" von Johann Heinrich Füssli (1814) zeigt eine Schlafende umschwebt von Tänzerinnen.
Der Schweizer Romantiker Johann Heinrich Füssli verwob in seinen Gemälden Traum und Wirklichkeit.© picture alliance / dpa / akg / André Held
Besondere Bedeutung hat außerdem das Genre Science-Fiction.
"Science-Fiction ist etwas, was ja sehr früh schon mit Träumen gearbeitet hat, mit dieser Idee, dass man Träume direkt im Gehirn beobachten kann, dass man von außen sozusagen jemandem Träume einpflanzen kann. Da kann man beobachten, zum einen, dass das, was aktuelle Forschungsgebiete aus den Naturwissenschaften oder aus der Schlafforschung sind, dass das spannendes Material ist für die ästhetische Gestaltung vor allem im Film und im Computerspiel, dass aber auch umgekehrt, womöglich noch bevor es solches Wissen in den Naturwissenschaften gab, Literatur und Film damit schon gespielt, solche Ideen, die man eigentlich noch für wahnsinnig gehalten hat, schon relativ realistisch dargestellt haben."

Traumboten in der Antike

Obwohl Träume ein universelles Phänomen sind, hat sich das Projekt auf das europäische Traumwissen beschränkt, dabei allerdings keine "typisch französische" oder "deutsche Traumkultur" gefunden.
"Ich würde generell sagen, dass die historischen Differenzen vielleicht größer sind, also, dass vielleicht das Traumwissen der Antike und der Romantik und das heutige sich mehr unterscheidet, als es das zwischen Deutschland und Frankreich und Spanien etwa tut."
In der "Ilias" des Homer zum Beispiel wird die antike Vorstellung deutlich, dass Träume von außen zu den Menschen kommen.
Zeus stellt Agamemnon, dem Anführer der Griechen im Trojanischen Krieg, einen Boten an das Kopfende seines Bettes:
"Nicht die ganze Nacht durch schlafen sollte ein Kriegsherr,
Dem die Truppen sind anvertraut und dem so viel obliegt.
Jetzt vernimm du mich schnell: ich bin dir ein Bote von Zeus her,
Der aus der Ferne sich sehr um dich kümmert und um dich besorgt ist.
Rüsten sollst du mit Macht die Achäer im Schmucke des Haupthaars;
Denn jetzt nähmest du ein der Troer Stadt mit den breiten Straßen."
Der Traum als göttliche Botschaft, als Weisung, Mahnung oder Warnung – mal klar, mal nur durch Seher zu deuten.

Träume als Verstandestäuschungen

Die andere Säule des europäischen Traumtheorie-Gebäudes: Träume verstanden als innerliches Geschehen. Das glaubte zwar auch schon Aristoteles, aber besonders deutlich wird diese Auffassung mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert.
Träume gelten nun als das Gegenteil von Wissenschaftlichkeit und Vernunft, als sinnleere, kuriose oder auch pathologische Körpererscheinung, als Illusion oder Verstandestäuschung. Augenfälliges Beispiel: eine Radierung von Francisco de Goya.
Das "Bild eines Schlafenden" oder Träumers: Ein Künstler, vermutlich Goya selbst, auf dem Tisch liegen Papier und Zeichengeräte. Um ihn herum unheimliche Nachttiere: große Eulen, die ihn umkreisen, und ein katzenartiges Wesen zu seinen Füßen. Eine Warnung offenbar, denn der Sockel, auf dem der Träumende ruht, trägt die Inschrift: "Der Schlaf der Vernunft gebiert Monster".
Das Bild "Schlaf der Vernunft" von Francisco Goya zeigt einen schlafenden Mann, über dem dunkle Fledermausgestalten fliegen.
"Der Schlaf der Vernunft gebiert Monster", steht am Rande des Goya-Bildnisses "Schlaf der Vernunft".© picture-alliance / dpa / akg images
In der Romantik wird das Bewusstsein neuer Leitbegriff, hinzukommen auch schon psychologische Theorien: Man glaubt, manche Träume entstehen in einem höheren oder tieferen Seelenteil, dem "Gefühlsgrund" – und es zeigen sich in den künstlerischen Darstellungen auch schon die Debatten um ihre Bedeutung.
Der Dichter Novalis erzählt in seinem Romanfragment "Heinrich von Ofterdingen" drei Träume, ganz berühmt der von der Suche nach der Blauen Blume: Er führt Heinrich in eine Höhle mit einem großen Wasserbecken, er entkleidet sich und steigt hinein:
"Es dünkte ihn, als umflösse ihn eine Wolke des Abendroths; eine himmlische Empfindung überströmte sein Inneres; mit inniger Wollust strebten unzählbare Gedanken in ihm sich zu vermischen; neue, nie gesehene Bilder entstanden, die auch in einander flossen und zu sichtbaren Wesen um ihn wurden, und jede Welle des lieblichen Elements schmiegte sich wie ein zarter Busen an ihn."
"Um 1800 hat Novalis in seinem 'Heinrich von Ofterdingen' einen ganz berühmten Traum zu Beginn seines Romanfragments platziert, wo unter anderem die Suche nach der blauen Blume vorkommt, und dann erzählt nach dem Aufwachen dieser Träumer das, was er geträumt hat, und er sitzt mit seinen Eltern am Tisch, und die haben eine ganz andere Haltung dazu. Einer sagt beispielsweise, dass Träume überhaupt keine Bedeutung haben, insofern würde es auch keinen Sinn machen, die zu deuten."

Sigmund Freud und die Traumdeutung

Das ändert sich radikal mit Sigmund Freud, der die wichtigste Traumtheorie des 20. Jahrhunderts entwickelt.
"Es geht uns nicht darum, die Freudsche Wahrheit hinter dem Traum oder hinter dem Text zu finden, sondern zu sehen, wie die Künste vielleicht beeinflusst werden durch ein so revolutionäres Denken, wie Freud das mit dem Thema des Traums an den Tag legt. Das ist für uns und für die Künste hochgradig spannend zu sehen, dass es jemanden gibt, der sagt, Träume müssen gelesen werden, die können gedeutet werden."
Freud hatte ursprünglich die Idee, dass der Traum vor allem "Hüter des Schlafes" sei, wie er mit seinem eigenen "Dursttraum" erklärt:
"Wenn ich am Abend Sardellen, Oliven oder sonst stark gesalzene Speisen nehme, bekomme ich in der Nacht Durst, der mich weckt. Dem Erwachen geht aber ein Traum voraus, der jedes Mal den gleichen Inhalt hat, nämlich dass ich trinke. Ich schlürfe Wasser in vollen Zügen. Wenn es mir gelingt, meinen Durst durch den Traum, dass ich trinke, zu beschwichtigen, brauche ich nicht aufzuwachen, um ihn zu befriedigen."
Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigt im Alter von 82 Jahren bei der Ankunft am Bahnhof "Victoria Station" in London am 6. Juni 1938
Sigmund Freud entwickelte die wichtigste Traumtheorie des 20. Jahrhunderts.© picture alliance / dpa / AP / Eddie Worth
In seinem Hauptwerk, "Die Traumdeutung", nannte Freud den Traum die "Via Regia", den Königsweg zum Unbewussten. Später sprach er noch deutlicher davon, dass es sich um eine "halluzinatorische Wunscherfüllung" handele, um den Ausdruck eines unterbewussten Begehrens – und das hat bei Freud immer eine sexuelle Komponente. Das psychoanalytische Traumverständnis wird besonders in surrealistischen Kunstwerken sichtbar, so bei Salvador Dalí:
Das Bild "Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Aufwachen" zeigt eine nackte Frau, ausgestreckt über einer grauen Steinplatte schwebend. Im Hintergrund ein Elefanten auf langen Spinnenbeinen. Über der Schlafenden ein riesiger offener Granatapfel, aus dessen tiefrotem Fruchtfleisch ein großmäuliger Fisch entspringt, der wiederum einen Tiger ausspeit, aus dessen Rachen ein zweiter springt und die Zähne fletscht. Direkt über der Nackten ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett. Unten im Bild schließlich noch die im Titel genannten Traumauslöser: eine den Granatapfel umkreisende Biene.

Die Entdeckung des REM-Schlafs

Die Freud'sche Traumtheorie markiert nicht die einzige, aber die bekannteste Nahtstelle zwischen kulturwissenschaftlicher und empirischer Traumforschung. Michael Schredl, Direktor am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim:
"Die Traumforschung ist in Wellen verlaufen. Das Jahrhundert der Traumdeutung geht ja zurück auf das Werk von Sigmund Freud, das ja tatsächlich auch eine wichtige Basis war, sich überhaupt mit Träumen aus psychologischer Sicht zu beschäftigen. Dann der zweite Schwung kam ja Mitte der 50er-Jahre mit der Entdeckung des REM-Schlafs, also mit dem Beginn der Schlafforschung, und heute denk ich gibt es tatsächlich wieder eine Konjunktur der Traum- und Schlafforschung, und die bildgebende Forschung ist Mitte der 90er stark in Vordergrund getreten, weil interessant ist, was das Gehirn nachts macht."
Die im EEG entdeckten "Rapid Eye Movements", schnelle Augenbewegungen, zeigen an, wann ein Mensch träumt – auch wenn heute klar ist, dass das außerhalb der REM-Phasen ebenso passiert. Mit Hilfe bildgebender Verfahren lassen sich die Hirnaktivitäten beim Träumen genauer lokalisieren. Besonders viel passiert in dem Bereich, der für Emotionen, visuelle Wahrnehmung und Lernen zuständig ist, wenig dagegen in der Region des Gehirns, die bei planerischem Handeln, Logik und kognitiven Leistungen aktiv ist. Vor diesem Hintergrund wurden die wissenschaftlichen Traumtheorien entwickelt:
"Die Grundidee war, dass die klassischen Neurophysiologen gesagt haben, die Träume sind zufällige Aktivierungen von Gehirnarealen, und liefern wilde Bilder, die mehr oder weniger nichts mit der Person und dem, was sie da erlebt und was sie beschäftigt, zu tun haben. Dann gab es noch die Idee, dass der Schlaf eine wichtige Funktion der Gedächtniskonsolidierung hat, und die andere Idee ist die sogenannte Komplementärhypothese, die auf C. G. Jung zurückgeht, dass man von Dingen träumt, die tagsüber zu kurz kommen, und der Traum versucht, das auszugleichen, und deshalb hat sich dann praktisch so diese Kontinuitätshypothese als dritte Kraft hier entwickelt, die zeigt, dass die Themen, die einen tagsüber beschäftigen, relativ direkt im Traum auch auftreten, dass die Träume durch ihre kreative Darstellung die Wachperson dann wieder anregen, das Problem anders zu sehen und vielleicht eher eine Lösung zu finden."

Mit Traum-Tagebüchern das Phänomen ergründen

Michael Schredl favorisiert diese Kontinuitätshypothese und sammelt deshalb neben den Daten im Mannheimer Schlaflabor auch Traum-Berichte:
"Um Träume zu erheben, oder auch Traumerinnerung, werden Fragebogen, Tagebücher und die Laborweckungen eingesetzt, wo gesunde Personen ins Labor kommen und dann bestimmte Aufgaben zu erfüllen haben und nachts dann auch geweckt werden und nach Träumen befragt werden."
Traumforscher Michael Schredl jedenfalls hat Material zusammengetragen, das nicht nur individuell therapeutisch, sondern auch zu Vergleichen genutzt werden kann. Ein paar seiner "Daten" zum Zusammenhang zwischen Wachleben und Traum:
"Träume bestehen zu mehr als der Hälfte aus Bildern – Blinde träumen genauso intensiv wie Sehende. Nur wer vor dem fünften Lebensjahr erblindet, der träumt nicht in Bildern. Die Inhalte sind meist eher alltägliche Aktivitäten: Tagesreste, soziale Beziehung oder Konflikte. Es geht zwar meist dabei nicht logisch zu, vieles ist ein bisschen irreal, aber nur ein Drittel der Träume hat einen völlig bizarren Charakter."
"Nehmen wir mal an, ich habe Angst, eine bestimmte Konfrontation mit dem Chef zu machen. Im Wachzustand würde man sagen, okay, ich sitze an meinem Schreibtisch und denke darüber nach. Da wird dieser Konflikt in ein bildhaftes Erleben umgesetzt, und das machen Träume auch und versuchen, die Themen, die die Person beschäftigen, in einer kreativen Weise darzustellen, und da geht es auch schon mal bizarr her. Aber was wichtig ist: Was erlebt die Person und wie reagiert sie auf das Erleben. Und da spielen die bizarren Elemente gar nicht so eine große Rolle."
Wenn so viel Alltag im Traum vorkommt, müssten sich dann nicht auch gesellschaftliche Ereignisse zeigen? Christiane Solte-Gresser, Sprecherin des Forschungsprojekts Europäische Traumkulturen:
"Es gibt sehr viele Kunstwerke, die ziemlich direkt auf ihren gesellschaftlichen und politischen Kontext reagieren – also, dass Träume über die Shoa, Träume unter Bedingungen von Diktatur in deutscher Literatur sehr viel mehr vorhanden sind als in anderer, dass der Bürgerkrieg ein ganz großes Thema im spanischen Theater ist. Auseinandersetzungen mit Zensur, dass plötzlich Träume sich darum drehen, was gesagt werden darf, was gedacht werden darf und was nicht. Dass Gewalterfahrungen, durch politische Gewalt, durch Verfolgung etwa, dass die sich im Traum niederschlagen. Da heißt es dann natürlich nicht, dass das reale Traumerleben in die Kunst direkt einfließt, aber dass man beispielsweise die Phänomene, die gar nicht so einfach in der Wirklichkeit auszudrücken sind, dass man das häufig über eine literarische Traumgestaltung tut."
So spielen insbesondere Alpträume in den kulturellen Traumerzählungen eine große Rolle. Am bekanntesten wohl das Bild "Der Nachtmahr", von Johann Heinrich Füssli von 1790: eine schlafende Frau im weißen Nachtgewand, hingestreckt auf dem Divan, hämisch grinsend hockt ein Dämon auf ihrer Brust, im Hintergrund der Kopf eines Pferdes mit geblendeten Augen.

Träume und Kreativität

Michael Schredl glaubt, dass Träume nicht nur Erlebtes in kreativer Ausgestaltung widerspiegeln, sondern auch umgekehrt Kreativität im Wachzustand anregen können. Viele Gemälde sind angeblich so entstanden.
"Oder Paul McCartney hat die Melodie von 'Yesterday' im Traum gehört, auch Wissenschaftler, die Ideen im Traum gehabt haben und das dann in der Realität umsetzen konnten, und uns hat interessiert, wie ist das denn bei dem normalen Menschen, und das waren dann so Dinge wie eine Idee für einen Vortrag oder für die Diplomarbeit. Dann gab es natürlich auch viele Hobbykünstler, die den Traum benutzt haben für ein Gemälde – oder um eine Geschichte zu schreiben. Und der Traum als Anstoß, etwas Neues zu tun. Also das war ein Beispiel, wo ein Junge von einem Mädchen geträumt hat, und der Traum war dann der letzte Anstoß, das Mädchen anzusprechen."
Und der Pianist Vladimir Horowitz behauptete, er habe besonders schwierige Fingerpassagen im Traum geübt und bewältigt – womit er ein Klarträumer wäre, ein Mensch also, der im Schlaf weiß, dass er träumt und aktiv in die Traumhandlung eingreifen kann.
Klarträumen oder luzides Träumen ist als Zweig der empirischen Traumforschung in den letzten Jahren sehr "in Mode gekommen":
"Das ist ein Phänomen, was 20 Prozent der Bevölkerung ungefähr aus spontaner Erinnerung kennt, und man kann natürlich auch diesen besonderen Zustand für die Forschung nutzen, und mein Kollege zum Beispiel in Heidelberg, der Herr Daniel Erlacher, hat da einige Studien in dem Bereich durchgeführt, weil man Versuchspersonen instruieren kann, im Traum bestimmte Handlungen auszuführen. Und da kann man den Versuchspersonen sagen: Machen Sie zehn Kniebeugen im Traum und kann dann messen, ob diese Traumkniebeugen tatsächlich auch zu einem höheren Herzschlag und einer höheren Atemfrequenz führen, das ist also für die Forschung sehr interessant. Diese Körper-Seele-Interaktion lässt sich da sehr gut studieren."

Die eigenen Träume steuern

Simon Rausch ist ein gern gesehener Proband im Schlaflabor, weil er sich relativ konstant in diesen besonderen Traumzustand begeben kann. Er hat ein Praxishandbuch geschrieben, betreibt ein großes Klartraumforum sowie einen Blog und bietet Seminare und Coachings an.
"Was wollen denn die Leute mit dem Klartraum vor allem? Fliegen? Mit George Clooney herumziehen?"
"Also, eine Statistik führ ich nicht, was die Leute im Klartraum machen wollen, aber ich würde auf jeden Fall sagen, Nummer eins, was keiner verrät, ist Sex im Klartraum."
"Funktioniert das auch, gefühlsmäßig?"
"Funktioniert auch, fühlt sich realistisch an, aber im echten Leben ist es doch immer noch schöner."
Und beim Fliegen? Da fehlen ja die Vergleichsmöglichkeiten.
"Wenn man im Klartraum fliegt, wenn ich einen Sturzflug mache, dann bekomme ich sogar dieses mulmige Gefühl im Magen, es hebt so kurz den Magen, also, man muss sich nicht übergeben, keine Angst – aber so ein Sturzflug, der fühlt sich einfach realistisch an."
Nach anfänglichen Zweifeln sagen die meisten Forscher inzwischen, dass Klarträumen ein seriöses Phänomen sei.
"Man weiß, dass bestimmte Gehirnareale aktiver sind als im normalen REM-Schlaf, und es sind gerade Hirnareale, die mit der Selbstwahrnehmung zu tun haben, und einige Studien zeigen auch experimentell, dass die Personen während des Klarträumens signalisieren können, dass sie klarträumen."

Kniebeugen machen im Traum

Der amerikanische Psychologe Stephen LaBerge trainierte in den 1970er-Jahren Probanden, den Einstieg in den luziden Traum durch Augenbewegungen nach einem bestimmten Muster anzuzeigen, quasi als Morsezeichen in die Wachwelt.
Die Darmstädter Philosophin und Bewusstseinsforscherin Petra Gehring bleibt skeptisch. Dabei stellt sie nicht das Phänomen an sich in Abrede:
"Die Leute reden davon, also irgendwas passiert da sicherlich. Ich würde nie sagen, das sind jetzt Illusionen von Beteiligten. Aber: Ist das jetzt wissenschaftliche Forschung im strengen Sinne? Das ist das, woran ich ein Fragezeichen setze."
"Die Metamorphose des Narziss" von Salvador Dali zeigt eine bizarre Traumwelt.
"Die Metamorphose des Narziss" von Salvador Dali zeigt eine bizarre Traumwelt.© picture alliance / dpa / United Archives
Petra Gehring ist überzeugt, dass hier ein Ringschluss und kein Beweis vorliegt:
"Die Tatsache, dass die Versuchspersonen erst trainiert werden, bevor sie etwas machen, zeigt, dass da nicht etwas gemessen wird, was schon da ist, sondern es wird ein kompliziertes Arrangement vorgenommen, um dieses Phänomen darzustellen, und man muss passionierter Klarträumer sein, um dort als Versuchsperson alles mitzubringen, was die Sache überhaupt messbar macht. Das ist jetzt auch nichts Verbotenes oder so, aber es ist ganz klar, dass die Bedingungen einer empirischen Messung nicht eingehalten sind. Das ist die Produktion eines vielleicht interessanten, aber sehr speziellen Artefakts, wo man im Grunde am Ende des Tages eben das vorher hergestellt hat, was man hinterher misst."
Tatsächlich kann, eigentlich muss man bestimmte Techniken erlernen, um "bewusst" träumen und den Traum selbst gestalten zu können. Klartraum-Coach Simon empfiehlt für Anfänger den "Reality-Check":
"Ich hab gelesen, dass ich am Tag, also in der Realität, gucken soll, ob ich nicht träume?"
"Der Reality-Check ist ein Test, bei dem man prüft, ob man wach ist oder träumt. Mein Lieblings-Reality-Check ist der sogenannte Nasen-Reality-Check: bei dem hält man sich am Tag mehrmals die Nase zu und versucht, durch die geschlossene Nase zu atmen. Klingt noch blöder, sieht auch blöd aus, irgendwann geht dieses Bewusstsein in den Traum über. Das heißt, irgendwann machen Sie auch im Traum einen Nasen-Reality-Check, und dann passiert folgendes: Sie spüren die verschlossene Traumnase, gleichzeitig spüren Sie aber auch die echte Luft, die durch Ihre Nase einströmt. Und genau dieses paradoxe Gefühl aktiviert im Gehirn das Zentrum für: Ich kann unterscheiden, was ist logisch, was ist unlogisch, was ist realistisch, wie so ein Schalter, der umgelegt wird, und dann dazu führt, dass man erkennt: Oh, das kann ja gar nicht sein, ich bin vermutlich in einem Traum."
Mehrmals am Tag soll man so sein Bewusstsein trainieren, um "wach" in die Welt des Traums einzutauchen.

Klarträume bleiben ein umstrittenes Phänomen

Petra Gehring sieht im Klarträumen eher eine "Psychotechnik", vergleichbar den Versuchen zur Bewusstseinserweiterung der 1970er-Jahre, jedenfalls keinen Beitrag zur Erforschung des Traums.
"Wenn denn da was erlebt wird, würde man in der langen Tradition des Nachdenkens über Schlafen, Träumen, Wachsein et cetera vermutlich am ehesten über so was wie Tagträumen reden oder vielleicht auch Meditationszustände, die sich ja im Wachen abspielen, also, es ähnelt wohl solchen Praktiken, würde ich jetzt mal vermuten, aber ich bin, was das angeht, keine Expertin, und mein Job ist zu sagen: Guckt euch die Modelle an, nichts daran ist selbsterklärend, und wir transportieren enorm viel unseres zeitgenössischen Naturalismus und Realismus in unsere Idee vom Träumen hinein. Also, da steckt im Grunde eine Usurpation des Träumens durch so ein fittes, sportives, kommandogeneigtes Wach-Ich drin. Mir scheint auch, dass wir hier mittendrin sind in den Phantasmen, die unsere spätkapitalistische und Abenteuerkonsum geneigte Zeit so umtreiben."
Das Klarträumen ist ein für unsere Zeit und Kultur typisches Phänomen. Der Wunsch nach Kontrolle bestimmt auch die Traumforschung insgesamt – und hier scheiden sich die suchenden Geister, sagt die Sprecherin des Projektes "Europäische Traumkulturen", Christiane Solte-Gresser:
"Wenn man Wissenschaftler fragt, die zum Traum forschen, aber keine Kulturwissenschaftler sind, da ist das relativ sicher, dass man glaubt, eine Technik gefunden zu haben, um Träume mehr oder weniger direkt abbilden zu können, ich kann mir das selber noch nicht so genau vorstellen. Ich würde eigentlich eher sagen, dass natürlich das Spannende an Träumen nach wie vor bleibt, dass sie so unkontrollierbar sind, also, dass man sich so eine gewisse Ohnmacht auch dem nächtlichen Erleben gegenüber eingestehen muss."
Dieser Beitrag ist eine Wiederholung vom 11.07.2019.
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