Radikaler Islam in Bosnien-Herzegowina

Die Freiheit hinter dem Schleier

Zwei vollverschleierte Frau schauen durch die Schlitze ihrer Nikabs.
Ist in Bosnien-Herzegowina der wahabitische Islam auf dem Vormarsch? Zumindest in einigen Dörfern ist das offenbar der Fall. (Symbolbild) © dpa / Boris Roessler
Von Sabine Adler  · 13.01.2019
240 Bosnier haben sich dem sogenannten Islamischen Staat angeschlossen, unter ihnen Frauen und Kinder. Sie kommen aus Städten, aber auch aus entlegenen Dörfern. Unsere Reporterin war dort. Eine junge Frau hat sich ihr gegenüber geöffnet.
Die Straßen sind schlecht nach Gornja Maoca. Den größten Teil der Strecke von Sarajewo bis in das Bergdorf haben wir hinter uns, 30 Kilometer vor dem Ziel, in Srebrenik, ist Dragan zugestiegen. Den Weg nach Gornja Maoca würden wir auch ohne ihn finden, denn es ist auf jeder Karte verzeichnet und außerdem ebenso berühmt-berüchtigt wie Dubnica, Bosanksa Bojna oder Osve.
Die Einheimischen nennen sie Wahabiten-Dörfer, weil sie als Rekrutierungs- und Rückzugsorte für IS-Kämpfer gelten. 240 Personen sind allein aus Bosnien-Herzegowina nach Syrien und in den Irak gegangen, erst die Männer, später Frauen und Kinder.
Dragan ist unsere Kontaktperson, er will uns Zugang zu den Einwohnern verschaffen, die er schon lange kennt und die nicht gern mit Fremden sprechen. Er schwärmt von der Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft der Bewohner von Gornja Maoca, wo sie bis vor einigen Monaten Symbole des Islamischen Staates an die Wände gesprüht haben – und aus dem nachweislich ein schwer bestrafter IS-Sympathisant kommt.
Wald und Nebelstimmung nahe der kroatischen Grenze
Das Wahabiten-Dorf Gornja Maoca liegt an der Grenze zu Kroatien .© Sabine Adler
Kurz vor dem Ziel kommt uns ein Streifen-Wagen entgegen, ein gewohntes Bild, erklärt Dragan und erzählt von einer Razzia der Polizei, bei der Waffen in Gornja Maoca gesucht wurden. Gefunden hätte sie nur zwei registrierte Pistolen. Dragan schärft mir ein, den Gastgeber Abu Abdullah zu nennen und ihm keinesfalls zur Begrüßung die Hand zu reichen. Die Straße führt immer tiefer in den Wald hinein. Weiter im Norden verläuft die Grenze zwischen Bosnien-Herzegowina und Kroatien. Wir sind da.

Leben zwischen Tieren und Autowracks

Drei Pferde weiden mitten im Dorf neben einem alten silberfarbenen Mercedes. Dragan ist ohne ein Wort in einem der rund 15 Häuser verschwunden. Es regnet in Strömen, niemand scheint Notiz von uns zu nehmen. Von Abu Abdullah keine Spur. Zwischen den heruntergekommenen Häusern und Autowracks, die über das ganze Dorf verteilt sind, zupfen Hühner und Puten Gras. Hier und dort huschen Frauen in langen schwarzen oder braunen Gewändern vorüber, die Kopftücher zusätzlich von Gesichtsschleiern bedeckt. Die Hände stecken in schwarzen Handschuhen. Kein Fitzelchen Haut bleibt frei. Nie dreht sich eine nach uns, den Besuchern, um. Dafür fällt es zwei Mädchen in einem Haus umso schwerer, ihre Neugierde zu zügeln. Blitzschnell schieben sie die Gardine zur Seite und linsen für einen Augenblick hinaus. Sie kichern, zupfen an ihren lilafarbenen Kopftüchern. Plötzlich stehen sie vor dem Haus.
Ein Autowrack inmitten eines Dorfes
Von Autowracks übersät: Das Wahabiten-Dorf Gornja Maoca© Sabine Adler
Ich bin Sabine. Und ihr?
"Selima. Fatima."
Der Muezzin ruft, ich frage Selima, wo ihre Mutter ist. Sie zeigt auf ein Haus an der Straße. Es sieht aus wie ein Rohbau, an dem seit Jahren nicht weitergearbeitet wurde. Vor dem Eingang reihen sich auf einem Regal Gummistiefel, Pantoffeln und Sandalen aneinander. Die Tür geht auf, hinter dem Vorhang, der den Blick nach innen verwehrt, bewegt sich etwas. Eine schmale Frau nimmt den Vorhang beiseite und lässt mich ein.

Schön wie Nicole Kidman

Erst als wir durch den dunklen Flur den Wohnraum betreten, sehe ich ihr Gesicht: porzellanweiße feine Haut, strahlend blaue Augen und rotes, leicht lockiges Haar, das modern auf halbe Länge geschnitten ist. Sie sieht aus wie die Zweitausgabe von Nicole Kidman, könnte gut ihre Schwester spielen. Eine Schönheit, die aber wohl niemals auf einer Leinwand bewundert werden wird, weil sie sich nur ihrer Familie zeigt oder nicht-männlichen Gästen im Haus.
Jetzt trägt sie eine Bluse mit weitem offenem Kragen und einen langen schmalen Rock. Ein dunkelbrauner Niqab hängt an der Garderobe. Ich erkenne ihn wieder, sie muss eine der draußen vorbeihuschenden verhüllten Frauen gewesen sein. Was sich unter dem Schleier verbarg, hatte ich mir anders vorgestellt.
Ein Hauseingang im Wahabiten-Dorf
Unerwartete Gastfreundschaft wartet hinter dieser Tür.© Sabine Adler
"Ich bin aus Banja Luka. Während des Krieges flüchtete ich nach Sarajewo. Dort heiratete ich und bekam drei Kinder. Selima ist die Älteste, zwölf, die Söhne sind zehn und acht Jahre. Wir hatten Schwierigkeiten, eine Wohnung zu finden, überall war die Miete zu hoch. Es ist sehr teuer, in einer Stadt zu leben. Hier ist es viel günstiger. Man muss schließlich die Kinder ernähren und kleiden. Ich habe das Gymnasium besucht. Mein Mann ist Händler auf dem Markt. Vor vier Jahren sind wir hier hergekommen."
Haben Sie früher, zum Beispiel in Sarajewo, auch einen Schleier getragen?
"Nein. Hier trage ich ihn. Ich wollte es auch dort, aber das ging nicht."
Sie wollten das schon in Sarajewo?
"Ja, ich wollte es, aber alle schauten mich schief an, vor allem, als wir eine Wohnung suchten. Es ging nicht. Hier dagegen ist es so einfach, alle tragen ihn."
Können Sie mir erklären, welchen Vorteil es hat, einen Schleier zu tragen?
"Wenn du ausgehst, bist du attraktiv für jeden. Aber mit dem Schleier kann niemand dein schönes Gesicht sehen. Denn diese Schönheit bewahrst du für dich selbst auf und für deinen Ehemann. So einfach ist das."
Einfach, wenn man damit einverstanden ist.

Nie ohne Nikab

Selimas Mutter sagt zwar, dass sie 40 Jahre alt ist, doch wie sie heißt, verrät sie nicht. Alle anderen Fragen beantwortet sie offen, erzählt bereitwillig von sich. Dass sie ohne Nikab niemals das Haus verlässt, auch nicht, wenn sie nur die Kinder zur Schule bringt.
"Manchmal wird man diskriminiert. Man merkt das in der Kommunikation mit anderen Menschen. Zum Beispiel kann man sich ohne Schleier Brot leihen. Aber mit Schleier bekommt man nichts."
Tochter Selima ist in der sechsten Klasse, sie lernt Englisch, ein zartes schüchternes Mädchen, das uns wach beobachtet, sich aber nichts zu sagen traut. Anders als ihre Mutter, die immer freier spricht.
"Ich wollte Lehrerin werden, habe in Bihac studiert, aber das Studium nicht abgeschlossen, weil ich krank wurde. Die Ärzte in Sarajewo wussten erst nicht, was ich hatte. Es war die Schilddrüse und ich fühlte mich während des Studiums so schwach, dass ich jedes Interesse daran verlor."
Über Maoca habe ich gehört, dass in dem Dorf Wahabiten oder Salafisten wohnen, dass es eine abgeschlossene Gemeinschaft ist, niemand mit Fremden spricht. Ist das falsch?
"Ich denke, es geht den Medien um eine interessante Story, aber ich kümmere mich nicht darum."
Fühlen sie sich frei, auf diese Art zu leben?
"Ja, denn ich kann arbeiten und ich könnte jederzeit das Dorf auch verlassen, zurückgehen. Wenn ich das Studium beendet hätte, könnte ich jetzt als Lehrerin arbeiten."
Aber nicht im Schleier, das würde kaum funktionieren.
"Vielleicht doch. Ich weiß es nicht. Aber ich könnte ja auch etwas auf der Nähmaschine nähen und dann verkaufen."
Von oben links nach unten rechts: Hijab, Niqab, Tschador, Burka.
Muslimische Frauen mit unterschiedlichen Schleiern: Hijab, Niqab, Tschador und Burka© AFP PHOTO
Muss ihre Tochter auch irgendwann den Schleier tragen?
"Ich würde sie nicht dazu drängen. Es ist nicht Vorschrift. Aber die Mädchen sehen ihre Mütter und wollen wie wir den Schleier tragen."

Das Wort des Mannes ist Gesetz

Auf meine Frage, ob ich sie fotografieren darf, nickt Selimas Mutter und greift zu dem braunen Gewand an der Garderobe. Sie streift es über die Bluse, zieht dann den braunen Hidschab über den Kopf. Schließlich nimmt sie den Schleier, den sie am Hinterkopf über dem Kopftuch zusammenbindet. Der schwarze Stoff reicht bis zur Taille. Die Frau ist jetzt vollständig verhüllt.
Nur ein schwarzer Streifen Gaze auf Augenhöhe verschafft ihr etwas Durchblick. Für den Betrachter sind ihre hellen Pupillen nicht zu erkennen. Die muslimische Frau als Individuum ist verschwunden. Ihre braun-schwarze Gestalt bewegt sich zum Sofa, bedeutet ihrer Tochter, sich neben sie zu setzen, beide schauen in die Kamera. Die Mutter mit Schleier, die Tochter ohne, aber mit Kopftuch. Beide wollen die Fotos begutachten.
Die Mutter ist zufrieden, hat aber Bedenken, dass ihr Mann die Aufnahme freigibt. Sie schickt die Zwölfjährige los, den Vater um Erlaubnis zu bitten. Als Selima nur wenig später das Haus betritt, schüttelt sie traurig den Kopf. Keins der Fotos darf verwendet werden. Das Wort des Vaters ist Gesetz.
Drei Kinder sind nicht so viel.
"Ich bin krank, deswegen darf ich nicht so viele Schwangerschaften haben. Aber für mich und meinen Mann sind drei Kinder genug. Haben Sie Kinder?"
Ja, einen Sohn. Wie ist der Kontakt zu den anderen Familien im Dorf, sind sie alle miteinander befreundet?
"Ja, mehr oder weniger. Wenn man Tiere hat, arbeitet man zu Hause. Wir haben Pferde, Hühner und Ziegen. Eine Nachbarin hat uns gezeigt, wie man Käse macht. Hier im Dorf finden manche, dass das ein unmodernes Leben ist. Aber wenn man Tiere mag und gern mit den Ziegen in den Wald geht, damit sie dort grasen können, ist es okay."

Früher wehte im Dorf die IS-Flagge

Über Gornja Maoca wehte vor zwei, drei Jahren die schwarze Flagge des sogenannten Islamischen Staates. Wenn sich Fremde näherten, wurde diese immer rasch eingeholt. Das kann auch Selimas Mutter nicht verborgen geblieben sein. Sie lebt immer noch hier. Ist nicht gegangen.
Was Sagen Ihre Freunde aus der Schulzeit oder in Sarajewo über Ihre Art zu leben? Kommen sie manchmal her?
"Nein, nur die Familie. Aber ich fahre nach Sarajewo, ich besuche meine Eltern, Schwiegereltern und meine Schwester und auch unsere Freunde. Wir sind ihnen nicht böse, dass sie nicht zu uns kommen. Wir verstehen, dass sie Angst haben, denn es gibt jede Menge Geschichten über uns in den Medien. Du musst dich frei und wohl fühlen, bei dem was du tust, dann kannst du auch mit anderen Menschen kommunizieren. Wenn du dich nicht frei fühlst, geht das nicht."
Interessant, dass Sie sagen, dass sie sich frei fühlen. Es gibt das Stereotyp, dass sich Frauen mit Schleier wie im Gefängnis fühlen. Fühlen Sie sich gefangen?
"Nein. Vor allem hier nicht. In Österreich wäre das anders. Dort dürfen Frauen nicht mit Schleier, also Burka oder Niqab auf die Straße gehen. Wenn sie von der Polizei gesehen werden, müssen sie Geldstrafen zahlen. Das ist ein Gefängnis. Wenn dagegen jemand in einem Badeanzug auf die Straße geht, muss er nichts zahlen. Ich kenne die Angst vor Terroranschlägen, aber man kann doch nicht alle Frauen mit Schleier und Männer mit Bart als Terroristen bezeichnen. Das ist doch eine Lüge. Dann wären doch Millionen Menschen Terroristen."
Vor dem Haus wird es unruhig. In vollem Galopp stürmt ein brauner Hengst die Dorfstraße hinauf. Es ist das Pferd, mit dem Selimas Familie Holz aus dem Wald holt. Das zottlige Tier ist ohne Halfter, der Rücken hängt tief durch. Ein Mann ruft ihm hinterher und etwas in Richtung von Selimas Elternhaus. Alle sind in Aufruhr, unser Gespräch ist zu Ende und das Interview mit Abu Abdullah findet vorerst nicht statt.

Wahabismus in Sarajevo

Den Wahabismus, die saudi-arabische Staatsreligion, könne man nicht nur in den sogenannten Wahabiten-Dörfern finden, sondern ebenso in der Hauptstadt, sagen Sicherheitsexperten. Auch in den tristen Plattenbau-Vierteln werde rekrutiert. Am auffälligsten ist der saudi-arabische Einfluss in Bosnien-Herzegowina im Sarajewo Shopping Center. Unter den Kundinnen hier würde Selimas Mutter in ihrem Niqab nicht auffallen.
Von der Altstadt zur Kaisermoschee, von wo aus die Islamische Gemeinde verwaltet wird, sind es ein paar Schritte über den Fluss. Neben dem Gotteshaus steht eine Ruine, das Hotel National, das – anders als die Moschee – im Bosnienkrieg fast völlig zerstört wurde. Muhammed Jusic reagiert gereizt auf Politiker der Europäischen Union, die meinen, dass sich Bosnien-Herzegowina immer weiter islamisiere.
"Europa hat Angst vor Muslimen, die als Flüchtlinge kommen, und vor europäischen Muslimen, die schon sehr lange in Europa leben. Sie alle werden jetzt gleichermaßen als Bedrohung angesehen. Diese Wahrnehmung kam mit dem Entstehen der Rechtsextremen in Europa. Wir wollen die Gefahr durch gewaltbereite Extremisten nicht herunterspielen, allerdings sind die wirklich Gefährlichen schon längst in Syrien. Aber auf die traditionellen Salafisten hier, das sind einige tausend, richtet sich jetzt die ganze Aufmerksamkeit."
Prachtbauten wie die Kaisermoschee von Sarajewo, wurden nur in großen Städten gebaut, erklärt der Sprecher der bosnischen Islamischen Gemeinde, der sich auch wehrt gegen die Unterstellung der Serben und Kroaten im Land, dass sich die muslimischen Bosnier radikalisierten.
"Es gab hier einen Genozid, das haben wir nicht vergessen. Kriegsverbrecher werden als Helden verehrt, nicht von irgendwelchen Leuten, sondern von Regierungspolitikern. Das Problem mit extremistischen Muslimen in Bosnien ist, dass sie marginale Gruppen sind, die unter voller Beobachtung stehen. Aber gleichzeitig geben radikale und vielleicht noch extremere Nationalisten den Ton im Land an. Wir stehen im Moment unter großem Druck, den Radikale aus allen Richtungen ausüben, um die Gesellschaft zu spalten. Der Radikalismus der einen Seite dient der anderen Seite, sich selbst zu radikalisieren."

Trainingsangebote für Imame

Die islamische Gemeinschaft in Bosnien sei moderat eingestellt, die Salafisten dagegen würden als radikal in Glauben und Verhalten wahrgenommen, jedoch nicht automatisch als gewalttätig. Auch deswegen versuche die Gemeinde, die Salafisten zurückzuholen und zu integrieren.
"Wir müssen dafür sorgen, dass diese Ideen nicht überhand nehmen. Und vielleicht geschieht ja endlich etwas, dass die finanzielle Hilfe für sie aufhört."
Der Sprecher der Islamischen Gemeinde Bosnien-Herzegowinas sitzt in einem Stuhl.
Muhammed Jusic ist der Sprecher der Islamischen Gemeinde Bosnien-Herzegowinas.© Sabine Adler
Der Gemeindesprecher wünscht sich nichts dringender, als mehr diplomatischen Druck auf Saudi-Arabien, damit die Missionierung durch saudische religiöse Organisationen ein Ende findet. Für die einheimischen Imame gebe es Trainingsangebote, damit sie der in Bosnien fremden Auslegung des Islam genug Argumente entgegensetzen können.
Keine fünf Gehminuten von der Kaisermoschee entfernt liegt die Universität von Sarajewo. Der Politologe Sead Turcalo lehrt und forscht hier über Islamismus in Bosnien-Herzegowina, denn aus dem 3,5-Millionen-Einwohner-Land Bosnien sind immerhin weit über 200 Personen nach Syrien und in den Irak gegangen. Zum Vergleich: Aus Deutschland sollen es 1000 gewesen sein.

IS-Rückkehrer unter verschärfter Beobachtung

Bosnische Sicherheitsdienste interessieren sich aber erst seit dem Beginn des Syrienkrieges für die Salafisten, wie die Behörden die gewaltbereiten strenggläubigen Muslime nennen. Die Regierung hat das Kämpfen im Ausland oder die Anstiftung zu bewaffneten Auseinandersetzungen dort inzwischen unter Strafe gestellt. Auch die sogenannten Parajamaats, also inoffizielle Glaubenskongregationen, wurden verboten, darf niemand mehr ohne offizielle Erlaubnis Religion unterrichten. Zudem wurden die IS-Rückkehrer unter verschärfte Beobachtung genommen.
"Und das dritte Problem war, dass man sehr klar erkannt hat, dass die salafistischen Gruppierungen die offizielle islamische Gemeinschaft untergraben wollen. Das waren die Gruppierungen, die am Rande der Gesellschaft gelebt haben, die abgeschottet gelebt haben wie in Gornja Maoca oder in Osve. Man hat das Ganze nicht als Problem betrachtet."
Blick in eine Straße in der Altstadt von Sarajewo mit dem Minarett einer Moschee im Gegenlicht
Sarajewo ist übersät von Moscheen: Blick in eine Straße in der Altstadt. © picture-alliance / dpa / Hannibal Hanschke
Die Radikalisierung des Islam hat nicht erst mit dem Syrienkrieg oder dem 11. September 2001 begonnen. Sie setzte bereits 1992/93 ein, unter dem Radar des Bürgerkriegs auf dem Balkan, als Mudschahedin aus Ägypten und Saudi-Arabien nach Zentralbosnien kamen, in Städte wie Zenica und Travnik.
"Man schätzt, dass es während des ganzen Krieges nicht mehr als 700 Mudschajedin gegeben hat. Nicht mehr als 700. Sie haben weniger gekämpft, dafür mehr missionarische Arbeit durchgeführt, um die bosnischen Muslime zu einem neuen Verständnis des Islam zu konvertieren. Das war die Hauptaufgabe und man hat klar gesehen, was sie da gewollt haben. Die waren meist in Zentralbosnien und in Zenica stationiert. Und wenn man nach dem Krieg sieht, wo die meisten Parajamaats angesiedelt waren, dann erkennt man, dass das in diesen beiden Teilen Bosniens geschah."

20.000 Salafisten in Bosnien-Herzegowina

Sead Turcalo schätzt, dass sich von den 1,8 Millionen bosnischen Muslimen im Land inzwischen rund 20.000 als Salafisten verstehen, die Sprecher dieser Glaubensrichtung geben selbst an, insgesamt sogar 50.000 Anhänger zu haben. Nicht nur die Hauptstadt Sarajewo, ganz Bosnien-Herzegowina ist übersät von Moscheen. Nagelneu und schneeweiß fallen sie auf in einem Land, das ansonsten noch immer von Kriegswunden gezeichnet ist.
"Wenn es um die Golf-Länder geht, ging es nicht nur um den Wiederaufbau. Die haben eine sehr klare Agenda gehabt. Ich weiß nicht, ob jemand das gezählt hat. Es sind sehr viele neu gebaut wurden, besonders unmittelbar nach dem Krieg, als Saudi-Arabien und andere Golf-Länder die neue Interpretation einzuführen versuchten. Das war der Hintergrund, warum sie so darauf gepocht haben, überall zumindest eine dieser Moscheen zu bauen. Und man erkennt sehr deutlich die Moscheen, die von den Golf-Ländern gebaut wurden, und von Bosniaken, und – wenn man die Architektur der Moscheen ansieht – dass sie sehr fremd in Bosnien aussehen."
Eine weiße Moschee in Bosnien
Nagelneu und schneeweiß - eine saudische Moschee in Bosnien © Sabine Adler
Sead Turcalo hat die Orte, in denen die fundamentalistischen Muslime zurückgezogen leben, selbst besucht. Er gilt als Salafismus-Experte in Bosnien-Herzegowina. Das kleine Balkanland mit seinen drei Millionen Einwohnern ist von großen Terroranschlägen bislang verschont geblieben. Die strenggläubigen Muslime lehnen den säkularen Staat aber ab, ebenso Geschlechtergerechtigkeit, Gleichheit und das Recht auf Bildung.

Ein Gespräch mitten auf der Dorfstraße

Zurück nach Gornja Maoca, in die Berge an der bosnisch-kroatischen Grenze. Das Treffen mit Edis Bosnic, den ich Abu Abdullah nennen soll, kann stattfinden. Er empfängt mich in Arbeitskleidung. Trotz des wolkenverhangenen Himmels trägt er eine getönte Brille. Wie meine erste Gesprächspartnerin spricht auch Edis Bosnic Englisch. Kälte und Regen können dem großen kräftigen Mann offenbar nichts anhaben, er führt das Gespräch mitten auf der Straße des Ortes, den sie in der Umgebung nur das Wahabiten-Dorf nennen.
"Das ist keine neue Religion oder Wahabismus, wie man das nennt, was hier eingeführt wurde. Als Wahabismus bezeichnen unsere Feinde den Islam. Wir nennen uns einfach nur Muslime. Im Islam werden Frauen geehrt und geschätzt. Aber wertvolle Dinge werden nicht öffentlich gezeigt, sie dürfen nicht von jedem berührt oder benutzt werden. Wertvolle Dinge werden verwahrt und bedeckt."
Als wollte er seinen Worten Nachdruck verleihen, streicht sich Edis Bosnic über den Bart, der den Hals verdeckt. Der 40-Jährige hat elf Jahre in den USA gelebt, wohin seine Familie während des Bosnienkrieges Anfang der 1990er Jahre floh. Er kennt die westliche Welt.
"Keiner mag diesen Lebensstil. Sich inmitten von Drogenabhängigen, Alkoholikern zu befinden, täglich ausgeraubt werden zu können. Kein Mann möchte mit einer Frau verheiratet sein, mit der schon jeder aus der Stadt zusammen war."
Was der eloquente Bosnier vom Westen hält, machte er schon in einem Fernsehinterview 2016 klar, in dem er androhte, – Zitat – seinen schönen Glauben nach Europa tragen zu wollen. Nur deswegen unterstütze er den Beitritt Bosnien-Herzegowinas zur EU. Seine Familie lebt vom Verkauf von Brennholz, das sie aus dem angrenzenden Wald holt. Die Stämme werden im Dorf zerhackt. Er habe viele Kinder zu versorgen, aber nur eine Ehefrau. Nicht mehrere, wie es den Strenggläubigen in den entlegenen Dörfern oft nachgesagt werde.
"Dieses Dorf ist Teil Bosniens und deswegen habe ich legal und illegal eine Frau. Ich habe eine, nicht zwei Frauen, das Gesetz in Bosnien erlaubt nur eine Frau."

Der Dorfsprecher preist ein gottgefälliges Leben

Edis Bosnic bezeichnet sich weder als Wahabit noch als Salafist, wobei er sich durchaus häufig auf den Propheten Mohammed beruft. Wenn Journalisten Gornja Maoca besuchen, ist er es, der die Gespräche führt und erklärt, dass die Gemeinschaft nichts dringender möchte, als abseits der verführerischen Städte ein Gott gefälliges Leben zu führen, wie in früheren Zeiten.
Porträtaufnahme von Edis Bosnic
Edis Bosnic ist Sprecher des Wahabiten-Dorfes. © Sabine Adler
"Da geht es uns wie vielen Christen in Deutschland, die die alte Art, ihren Glauben zu leben, zurückhaben wollen. Wie die Nazis, die gegen Schwarze in der Fußball-Nationalmannschaft sind."
Fühlen sie sich denen nahe?
"Das genaue Gegenteil."
Was meinen Sie damit?
"Das sind Radikale und Nationalisten. Im Islam ist Nationalismus verboten. Ein muslimischer Deutscher steht mir näher als ein nichtmuslimischer Bosnier."
Gornja Maoca gilt als Rekrutierungs- und Rückzugsort für Kämpfer des IS. Bilal Bosnic musste sich für die Anwerbung von Dutzenden von IS-Kriegern vor Gericht verantworten. Edis trägt den gleichen Familiennamen wie der 2015 Verurteilte, der immer noch im Gefängnis sitzt.
Wie ist ihre Beziehung zu Bilal Bosnic? Ist er mit Ihnen verwandt?
"Nein, wir haben aber den gleichen Nachnamen."
Was wissen Sie über seine Vergangenheit, darüber, weswegen er zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde?
"Ich glaube, dass seine Verurteilung ungerecht war. Er hat kein bosnisches Gesetz gebrochen. Wenn er allerdings vor ein islamisches Gericht gestellt worden wäre, hätte er verurteilt werden können."
Er ist verurteilt worden für die Rekrutierung von IS-Kämpfern.
"Ja, aber es gibt keinen Beweis dafür, dass er das getan hat. Er hat zu etwas aufgerufen, was im Islam nicht erlaubt ist. Dafür hätte er nach islamischem Recht belangt werden können. Nicht, weil er Kämpfer aufgefordert hat, dorthin zu gehen, sondern weil er zur Unterstützung dieser Ideologie aufgerufen hat. Das war nicht korrekt. Wenn es um ein weltliches Gericht geht, ist es egal, wozu und in welcher Eigenschaft er zu etwas aufruft. Er hätte das als Kommunist, Protestant, als Schiit oder Sunnit tun können. Ich habe die Berichterstattung verfolgt und habe die Eltern gehört, die beklagten, was mit ihren Söhnen geschehen ist. Es gab keinen Beweis dafür, dass er sie aufgefordert hat, zu gehen und dort zu kämpfen."
Die nächste Frage bitte: Wie viele Söhne haben Sie?
"Sechs."
Alle sechs Kinder sind Söhne?
"Nein, ich habe noch drei Töchter. Aber sechs Kinder gehen zur Schule."
Was würden Sie sagen, wenn sich einer ihrer Söhne oder auch mehrere entschließen würden, in Syrien für den IS zu kämpfen?
"Die sind zu jung, der älteste ist 14."
Und wenn sich jemand aus ihrem Dorf dem IS anschließen würde, bekäme er Ihre Unterstützung?
"Nein, der IS verfolgt eine korrupte Ideologie."

Steter Umbau von Familie und Gesellschaft

Aus Gornja Maoca stammt Mevlid Jasarevic. Er schoss 2011 mit einer Kalaschnikow auf zwei Polizisten vor der US-Botschaft der USA in Sarajewo und rief dabei "Allahu Akbar". Die Beamten wurden schwer verletzt. Er wurde zu 18 Jahren Haft verurteilt. Auch deshalb sieht die Polizei regelmäßig in Gornja Maoca nach. Reine Routine, beteuert Edis Bosnic.
"Die Polizei patroulliert überall in Bosnien und das ist hier eine öffentliche Straße auf bosnischem Gebiet. Wenn Sie die Polizei fragen, werden Sie hören, dass das der gesetzestreueste Platz ist, auch wenn für uns das islamische Gesetz über jedem anderen steht. Denn Gott ist weiser als der Mensch. Und Gesetze verändern sich. Heute werden wir vielleicht als Kriminelle angesehen, aber in einigen Jahren kannst du als Held gelten."
Es ist der stete Umbau von Familie und Gesellschaft, auf den die Salafisten setzen und der die Behörden herausfordert. Wie sich Gornja Maoca weiter entwickelt, werden die bosnischen Behörden und auch die EU genau verfolgen müssen.
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