Radikale Ideen und filmische Experimente

Von Bernd Sobolla · 08.05.2007
In Oberhausen sind die 53. Internationalen Kurzfilmtage zu Ende gegangen. Der russische Beitrag "Auf dem dritten Planeten von der Sonne aus" wurde im internationalen Wettbewerb mit dem Hauptpreis ausgezeichnet. Er handelt von den Wasserstoffbombentests im Norden Russlands vor 45 Jahren. An dem Festival nahmen mehr als 140 Filme aus aller Welt teil.
Euphorie war besonders im Kinderwettbewerb zu spüren, der viel von Schulklassen besucht wird. Das Schwerpunktthema "Dreh dich nicht um! – Kinder, Kindheit, Kino" hingegen bot vor allem den Erwachsenen die Möglichkeit, auf die Entwicklung von Kinder- und Jugendkurzfilmen zu schauen. Wobei es nur auf den ersten Blick eine gewisse Verbindung zu all den Kinderspezialsendungen gab, die die TV-Sender in letzter Zeit ausstrahlen. Das jedenfalls meint Lars Henrik Gass, der Festivalleiter der Kurzfilmtage.

" Kinder und Jugend ist im Moment in der Tat sehr en vogue. Wobei wir uns gefragt haben, ob es da wirklich um das Wohl der Kinder, um das Wohl – möglicherweise – der Mütter geht, wenn man über Fragen der Krippenplätze spricht und dergleichen mehr. Oder nicht viel mehr darum, ein wirtschaftliches Problem auch in Deutschland auf diesem Umwege zu lösen. (…) Was uns mehr interessiert hat, ist, danach zu schauen, welches Bild gewissermaßen von Kindheit und Jugend und Erwachsenwerden liegt eigentlich all diesen Entwürfen zu Grunde, die im politischen Raum gerade diskutiert werden. "

Die Festivalreihe setzte humorvoll bei Laurel und Hardy an, die 1936 in dem Film "Brats" in einer Doppelrolle als Kinder und Eltern zu sehen sind. Dann ging es weiter mit den Erziehungsfilmen der 50er Jahre: Das Werk "Babys on Parade" zeigt, wie in den USA schon 1950 Eltern ihre Babys für Wettbewerbe trimmen. Während der Film "Toward emotional maturity" den Jugendlichen eine Anleitung für ein ordentliches Leben geben sollte. Was vor allem auf sexuelle Enthaltsamkeit hinauslief.

Da sieht es in der Gegenwart nun wirklich anders aus: Der Film "Leonie Saint" zum Beispiel schildert, wie die gleichnamige 19-jährige Pornodarstellerin einerseits stolz ist auf den Medienrummel, den sie verursacht, andererseits aber unter der Ablehnung leidet, die sie teilweise von ihrer Familie oder auch von ihrem Ex-Freund erfährt.

Filmausschnitt aus "Leonie Saint": " Und dann hat er mir halt noch so E-Mails geschickt, wie schlecht ich doch wäre. Hast du nicht gesehen. Das hat mich schon getroffen irgendwie. Weißt du, ich habe gedacht, das ist das Ende, und auf einmal schreibt er mir eine E-Mail, was ich doch für eine billige Nutte ich wäre."

Der Werdegang von Leonie, so deutet es der Film an, wurde wohl auch durch ihren Vater unterstützt, der ihr zur Aufklärung ein paar Pornohefte in die Hand drückte, als sie 11 Jahre alt war. Interessanter aber noch ist, dass die Pornobranche nach fast den gleichen Mustern arbeitet wie die TV-Superstarsucher. Dass die Filmemacherin Jana Debus den Film überhaupt drehen konnte, verdankt sie nämlich der Pornoproduktionsfirma.

Jana Debus: " Das gehört zu ihrem Repertoire natürlich, dass ihr das auferlegt wird, diese Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Sie wird ja so zu sagen zu einem Starlet hochgearbeitet. Das gehört ja alles mit dazu. "

Bestimmte Bilder, und zwar fast immer die gleichen, zeigen Familienalben und alte Super-8-Filme, die im Familienkreis gedreht wurden. Die Österreicherin Gabriele Mathes hat diese Idylle von Ausflügen, Ballspielen und Urlaubsreisen kontrastreich montiert mit dem finanziellen Niedergang ihrer Familie, den sie – eine traumatische Kindheitserinnerung - im Off schildert. "Eine Million Kredit ist normal, sagt mein Großvater" heißt das Werk.

Filmausschnitt aus "Eine Million Kredit ist normal, sagt mein Großvater": " Um 7.00 Uhr früh bietet meine Mutter dem Exekutor Kaffee an. Er ist gekommen, um Lieferantenschulden einzutreiben. Die Arbeiter gehen an der offenen Bürotür vorbei und wünschen guten Morgen. Sie betrachten den frühen Gast neugierig. Meine Mutter schließt die Tür. "

Mit einer gewissen Leichtigkeit gehen dagegen die asiatischen Filmemacher an schwierige Themen heran. Wai Yee Chan und Yee Nam Lon befragen in ihrem Film "Gay or not" die Schüler eines buddhistischen Gymnasiums in Hongkong über zwei Mitschüler, von denen alle glauben, dass sie homosexuell sind. Es stellt sich heraus, dass fast keiner erklären kann, was Homosexualität eigentlich ausmacht oder wie ihre Religion dazu steht. Eine ernsthafte und zugleich humorvolle Betrachtung, wie der Kurator Marcel Schwierin betont:

" Ja. Es ist z.B. auffällig, dass die fröhlicheren Filme kommen eigentlich weniger aus Europa. Also ich habe einen Film aus Indien von Amih Datha, "X, Y, Z" heißt der. Und der beschreibt einen Jungen, der auf dem Schulweg nach Hause geht und dem dann das ganze Alphabet durcheinander kommt. ... Das ist ein ganz leichter Film, der Bilder aus der indischen Mythologie, Bilder aus der indischen Ikonographie mit der Phantasiewelt des Jungen vermengt zu einem ganz zauberhaften Film. "

Eine Brücke vom Kino in die Schule schlugen die Kurzfilmtage auch im Rahmen einer Podiumsdiskussion, die unter dem Motto stand: "Filmvermittlung in Lehrerausbildung und Unterricht". Dabei widersprach Winfried Pauleit von der Universität Bremen der weitläufigen Meinung, dass es eine Filmsprache gebe, die man wie ein ABC lernen könne. Vielmehr hätte jeder Filmemacher eine Art Individualsprache.

Winfried Pauleit: " So wie die Kritzelzeichnung eines Kindes. (…) Die ganz wichtig sind für die Entwicklung des Kindes usw. (…) Aber dass als eine Sprache wie die Schriftsprache zu nennen, halte ich nicht für adäquat. Was man aber untersuchen kann: (…) Mal nur auf den Ton zu hören, mal nur sich das Bild anzuschauen. (…) Die Sinnlichkeit zu schulen, wäre der erste Schritt. Dann kann man weitergehen: Wie komplex ist die Komposition aufgebaut? (…) Wir wirkt die Tonebene auf das Bild und verändert damit auch das Bild? Und nicht das Bild alleine spricht zu uns, sondern gerade diese Verbindung."

Ansätze, für die sich gerade der Kurzfilm in seiner prägnanten und ideenreichen Art eignet und mit denen Lehrer die Schüler vielleicht sogar im Zeitalter von YouTube und Handy-Filmen neu fürs Kino begeistern könnten.

Lehrer: " Schwer. Aber ich versuche es. Wir gehen ja auch mit denen ins Theater. " (Lacht.)