Radikal im 21. Jahrhundert

Von Barbara Wahlster · 06.10.2006
1971 in England geboren und aufgewachsen, ist Rana Dasgupta einer der Shooting Stars der indischen Literaturszene. Sein Debütroman "Tokyo Cancelled", im vergangenen Jahr erschienen, gehörte sofort zu den Top Ten. Die Kritik verglich die "Märchen unserer Tage" mit Chaucer und Boccaccio. Der Roman ist mittlerweile in sechs Sprachen übersetzt, zum Buchmessen-Schwerpunkt Indien erscheint die deutsche Version: "Die geschenkte Nacht".
"Wenn ich mich an vielen Orten, wo ich gelebt habe, meistens als Außenstehender gefühlt habe, dann hat das bestimmt damit zu tun, dass ich einen indischen Vater und eine englische Mutter habe und in England aufgewachsen bin. Das hat zu einem gewissen Zynismus geführt und auch zu einer geschärften Aufmerksamkeit für unterschwellige, weniger offensichtliche Dinge, wie sie wohl Menschen, die sich ihrer Sache oder ihres Ortes im Leben sehr sicher sind, kaum wahrnehmen."

Rana Dasgupta hält nichts von festen Identitäten. Das hat ihn vom Literaturstudium in Oxford, zum Konservatorium in Aix en Provence geführt, vom Klavier zum Film und zum Kommunikationsstudium in den USA. Für ein Marketingunternehmen zog er durch die Welt, bevor er vor sechs Jahren – der Liebe wegen – von New York nach Delhi gezogen ist. Wo er schließlich nicht mehr nur für Freunde und Zeitschriften schrieb, sondern endgültig zum Schriftsteller geworden ist:

"Und zwar weil Delhi ungeheuer inspirierend ist, jede Menge Erfahrungen erlaubt, die in Europa oder in Amerika eher fern von dir ablaufen würden. Hier ist alles sehr explizit und geschieht im Offenen, die Prozesse sind klar und deutlich – im Kleinen wie im Großen. Ich finde hier einen Reichtum an Geschichten und Ideen über das moderne Leben, wie sie ein Schriftsteller vor Augen haben sollte."

Der Lärm der Stadt bleibt ausgesperrt aus der Wohnung im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses im Süden von Delhi. Auf dem Baum vor der Fensterfront dreht ein Erdhörnchen seine Runden. In den geordneten Verhältnissen dieser besseren Wohngegend lebt der Nomade karg und mit leichtem Gepäck. Seine Freundin, eine Medienkünstlerin, ist nicht da. Der zierliche Dunkelhaarige im T-Shirt wirkt zurückhaltend und jünger als seine 35 Jahre – und hat keinerlei Interesse an einer literarischen Schutzzone. Er ist Wirklichkeitssammler.

"Kürzlich etwa, als Slums im Osten zerstört wurden, bin ich hingegangen, um zu fotografieren und habe auch mit den Betroffenen gesprochen. Ich mache bei einer Menge Online-Aktivitäten und Real World Networks mit, funktionierende Zusammenschlüsse von Akademikern, Schriftstellern und anderen Künstlern mit einem großen Interesse an der Stadt. Auf diese Weise können auch solche Informationen verbreitet werden, auf die man sonst nicht ohne weiteres stößt. Architekten oder Anthropologen wissen andere Dinge, allein schon aufgrund ihres Interesses. Mit solchen Menschen tausche ich mich sehr oft aus. Auch aus anderen Städten."
Seine eigene Website dokumentiert die Suche nach angemessenem Handwerkszeug zur Durchdringung der Gegenwart: Bilder statt psychologische Erklärungen, Momentaufnahmen statt Herleitungen. So sind auch Geschichten von überall – aus Buenos Aires und Osaka, Lagos und Frankfurt und aus vielen anderen Regionen der Welt - eingeflossen in sein Buch "Die geschenkte Nacht". 13 zufällig zusammen gewürfelte Fremde erzählen sie sich im ort- und zeitlosen Nirgendwo eines Flughafens. Angelehnt an alte Erzähltraditionen, verhandelt der Autor – gewissermaßen im Märchenton und damit aus scheinbar großer Distanz – beunruhigende Fragen nach dem Ende vieler kultureller Gewißheiten: Datenerfassung und Gedächtnisverlust, Liebe und Klonen, Geheimnisse des Geldkreislaufs und Illegalität, Gewalt und Mitmenschlichkeit.

"Ich suche in meiner Fiktion nach neuen Formationen, wo Menschen inmitten von Zerstörung oder fern von jeder vertrauten Realität – mit mehr oder weniger Erfolg – versuchen, um sich herum eine neue Wirklichkeit zu schaffen, die für sie eine mögliche oder versprechende Zukunft enthält. Das ist unsere Aufgabe, finde ich. Wenn wir lediglich voller Angst auf die Zukunft starren, dann weil das der einfachste Weg ist. Aber wir sind doch gezwungen, neues Terrain zu erforschen. Vorstellungskraft ist entscheidender als nur an das Ende zu glauben."
Die alten Utopien haben ausgedient für einen, der so radikal im 21.Jahrhundert lebt. Trotzdem will er sie noch einmal nacherzählen und gleichzeitig heute mögliche kreative Auswege in chaotisches, fragmentiertes Neuland beleuchten. Schauplatz ist diesmal das alte Europa.

"Ich höre viel Musik und mein neuer Roman handelt auch über große Strecken von Musik. Aber zurzeit spiele ich nicht. Wahrscheinlich sollte ich ein Klavier kaufen."