Quirlige Universitätsstadt

Der Zauber von Breslau

Von Henryk Jarzcyk, ARD Warschau  · 04.02.2014
Breslau steht seit Jahren im Ruf, eine der dynamischsten Großstädte Polens zu sein. Ostblock ist passé, Multikulti ist in. Die Zeiten, da jeder aus Polen, wenn er nur konnte gen Westen flüchtete, sind vorbei.
"Ich spüre wirklich den Genius Loci dieser Stadt. Den Schutzgeist, der sich aus der alten Geschichte der Stadt ergibt. Einer Stadt, die immer in einer Grenzregion lag, wo Tschechen, Polen, Deutsche und Juden nebeneinander lebten und phantastisch miteinander auskamen. Nach dem Krieg strömten die Vertriebenen aus dem Osten nach Breslau. Sie brachten eigenen Geist mit, der Breslau einzigartig bereichert hat."
So wie Joanna und ihr Mann Pawel entdecken immer mehr Polen den Südwesten des Landes. Strandurlaub war gestern, sagen sich vor allem jene, deren Kinder aus dem Haus sind. Jetzt sind Städtereisen angesagt. Und da steht Breslau zweifelsohne neben Krakau und Danzig mit auf dem Programm.
Breslau kurz vor Mitternacht. Wochenende? Mitnichten! Es ist Dienstag. In Breslau, sagen die Nachschwärmer, spiele der Tag keine Rolle.
"Wenn wir Zeit haben, dann gehen wir regelmäßig aus. Und wir haben Zeit. Wir studieren im ersten Jahr. Die Stadt hat uns verzaubert. Hier gibt es so viele junge Menschen. Einfach toll."
Rein darf nur, wer die Gesichtskontrolle besteht
Marta und ihre Freundinnen stehen geduldig Schlange vor einem der angesagten Clubs und warten auf Einlass. Die kurz geschorenen, bulligen Gestalten in schwarzen Anzügen und mit dem obligatorischen Knopf im Ohr lassen sich auf keine Diskussionen ein. Hinein darf nur, wer ihre Gesichts- und Alterskontrolle besteht. Paulina, gerade 20 geworden, hat keine Bedenken, dass sie es auch diesmal schaffen wird, die Türsteher mit ihrem jugendlichen Charme zu verzaubern.
"Domowka ist der beste Club in der Stadt. Ich bin hier sehr häufig, jede Woche. Alles super: die Musik, die Menschen, die Inneneinrichtung. Jeden Dienstag ist der Eintritt frei, dann ist es hier sehr voll. Wirklich super. Man kommt so gegen 23 Uhr und beendet den Clubbesuch um vier, fünf Uhr morgens, wenn die Party eben zu Ende ist."
Wer es etwas ruhiger mag, den Abend im Kreis eines etwas älteren Publikums verbringen möchte, der dürfte sich im "Jazzda", dem Club neben an, sicher wohl fühlen.
Keine Bodybilder am Eingang, keine Warteschlangen vor der Tür. Trotz oder vielleicht doch eher wegen der fortgeschrittenen Uhrzeit ist an den runden Tischen noch Platz. Aus den Lautsprechern dröhnt Musik der 70er und 80er Jahre. Passend dazu eine Discokugel, die abwechselnd gelb, blau und rot angeleuchtet wird. Wer hierher gerät, fühlt sich sofort um mindestens 30 Jahre jünger. Das Lokal, sagt der Clubmanager mit einem Augenzwinkern, müsse sich von den anderen in der Umgebung eben unterscheiden.
"Mit unserem Konzept sorgen wir dafür, dass unsere Gäste deutlich älter als 21 Jahre sind. Ohne dabei eine Grenze nach oben zu setzen. Hauptsache, die Menschen, die zu uns kommen, verhalten sich vernünftig."
"Ich komme aus Danzig und bin hier auf Dienstreise. Ein Breslauer hat mir dieses Lokal empfohlen, und ich muss sagen, das war ein guter Tipp. Auch die Damen, mit denen ich hierhin gekommen bin, amüsieren sich gut. Ich bin zum vierten Mal in Breslau. Ich bin bislang immer mit der Familie gekommen und habe mich vor allem auf Besichtigungen konzentriert. Jetzt bin ich, wie gesagt, auf Dienstreise. Deshalb will ich mich ein bisschen entspannen und tanzen."
Kulturinteressierte am Tag
Wo am Abend zuvor noch laute Musik und das Gelächter junger Menschen zu vernehmen waren, herrscht jetzt eine völlig andere Stimmung. Nicht Nachtschwärmer, sondern Kulturinteressierte prägen nun das Bild. Vor allem Touristen aus Deutschland.
Im dichten Gedränge auf dem Markt trifft Joanna ihre Breslauer Bekannte Beata Wers. Normalerweise, erzählt die 45-jährige, wäre sie jetzt im Klassenraum und würde Kinder in Geographie und Geschichte unterrichten. Sie habe ein paar Stunden frei, Zeit genug, um die Schönheit ihrer Stadt zu genießen.
"Breslau ist sehr besonders. Im Verlauf der Geschichte wurde die Stadt von vielen verschiedenen Herrschern regiert. Am Anfang waren hier die Slawen. Dann gehörte Breslau 200 Jahre den Böhmen, später den Österreichern, dann wieder Preußen. Danach Deutschland, und erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt wieder polnisch. Eine bewegte Geschichte, die man auch als vorteilhaft betrachten kann. Wroclaw wird deshalb auch die Stadt der Begegnungen genannt. Hier trafen sich verschiedene Traditionen, verschiedene Völker."
Beata Wers ist stolz darauf, Breslauerin zu sein. Vor allem, wenn sie die prachtvoll restaurierten Häuser am Ring betrachtet - mit Fassaden, an denen sich die bewegte Geschichte der Stadt besonders gut ablesen lässt. Wunderschön sind auch die kleinen Nebenstraßen. In all diesen Gassen stecke ein gewisser Zauber, sagt Beata Wers.
"Die Straße, in der wir uns gerade befinden, ist ein solch magischer Winkel. Die Menschen suchen immer mehr Zuflucht in solchen Ecken - in denen diese geheimnisvolle, diese ganz andere Welt steckt."
Magische Ecken
Genau diesem Zauber erliegt auch Joanna jedes Mal, wenn sie in Breslau vorbeischaut. Sie sei schon so oft in dieser Stadt gewesen, erzählt sie. Und sie entdecke immer wieder neue Ecken, die sie geradezu magisch anziehen würden.
"Ich erinnere mich sehr gut an einen abendlichen Spaziergang nach Ostrów Tumski auf die Dominsel. Damals ging ich zum ersten Mal über die Brücke der Verliebten. Ich hatte davon keine Ahnung, erst mein Mann Pawel hat mich über ihren besonderen Charakter aufgeklärt. Ich habe kein Schloss ans Brückengeländer gehängt. Das machen nur Brautpaare. Als wir in Breslau unterwegs waren, da hatten wir noch gar nicht solche Pläne. Aber vielleicht hat unser Besuch auf der Brücke dazu geführt, dass wir bis heute zusammen sind und dieses irgendwo virtuell hängende, magische Schloss auf unsere Beziehung ganz gut weiter wirkt."
Jene, bei denen es nicht so gut läuft, können ihr Glück auf dem Platz Solny versuchen, dem ehemaligen Salzmarkt der Stadt. Wieder einer dieser ganz besonderen Orte von Breslau, wie Beata Wers versichert:
"Der Markt hat heute mit Salz nichts mehr zu tun. Damit hat man hier früher gehandelt. Heute werden hier ausschließlich Blumen verkauft. Und zwar rund um die Uhr - unabhängig von der Jahreszeit und vom Wetter. Auch bei klirrender Kälte, bei minus 20 Grad, sind die Blumenstände offen. Breslau ist eine Stadt, in der ja auch nachts viel los ist. Kneipen, Restaurants, Pubs und Cafes haben so lange offen, bis der letzte Gast geht. Manchmal verlassen die Gäste das Lokal erst in den frühen Morgenstunden, und auf dem Weg nach Hause kaufen sie Blumen. Und deshalb blüht hier der Handel Tag und Nacht."
An der sogenannten Bernsteinstraße entlang der Oder gelegen, galt Breslau Jahrhunderte lang als eine der reichsten Städte Zentraleuropas. Umso schwerer wiegen die Zerstörungen Ende des Zweiten Weltkrieges. Nahezu 70 Prozent der Gebäude im Zentrum der Stadt wurden dem Erdboden gleichgemacht. Aus dem deutschen Breslau wurde auf Beschluss der Alliierten das polnische Wroclaw. Eine Stadt, in der vor allem Menschen aus der heutigen Ukraine und den ehemaligen polnischen Ostgebieten zwangsweise angesiedelt wurden. Ein denkbar dunkles Kapitel in der Geschichte der Stadt. Beladen mit starken Emotionen auf beiden Seiten. Sowohl bei den zwangsangesiedelten Polen als auch jenen Deutschen, die aus Breslau vertrieben wurden. Objektivität bleibt da schnell auf der Strecke. Der Historiker Krzysztof Ruchniewicz befasst sich seit langem mit dieser Thematik.
"Breslau ist eine besondere Stadt, denn hier gab es einen vollständigen Austausch der Bevölkerung. Gekommen sind neue Einwohner aber die alten Baudenkmäler sind geblieben. Es ist eine polnische Stadt, aber die materiellen Zeugnisse einer deutschen Vergangenheit sind auch da. Die Geschichtsstudenten sitzen heute in Hörsälen, in denen die Bänke die Inschrift Universität Breslau tragen. Ich denke, die heutigen Einwohner Breslaus wissen das zu schätzen."
Breslauer leugnen deutsche Vergangenheit nicht
Die Breslauer, davon ist der Leiter des Willy-Brandt-Zentrums fest überzeugt, seien heute weit davon entfernt, die einst prägende deutsche Vergangenheit zu leugnen. Die Jahrhunderthalle, die angrenzenden Parkanlangen, das wunderschöne Rathaus, die Universität - all das hat Breslau deutschen Architekten und Künstlern zu verdanken. Darüber zu reden, geschweige denn dies zu unterstreichen, galt Jahrzehnte in Breslau als deplatziert. Geschichtsklitterung war sehr lange die oberste Devise. Und zwar bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit. Am Wiederaufbau der Stadt, erzählt Joanna, sei die Parteiführung nicht interessiert gewesen.
"Unmittelbar nach 1945 gab es in Polen die Losung: Die ganze Nation baut ihre Hauptstadt. Vor allem die ehemaligen deutschen Städte und Baudenkmäler haben darunter gelitten. Sie wurden systematisch auseinandergenommen. Marmorelemente wurden aus Palästen entfernt und nach Warschau gebracht. Die zweitgrößte Synagoge Breslaus wurde im Krieg nicht zerstört, denn sie war umgeben von Villen, in denen Deutsche gewohnt haben. Sie haben also die Synagoge nicht gesprengt, obwohl sie das bestimmt gern getan hätten. Die größten Zerstörungen erlitt die Synagoge nach dem Krieg. Absurd! Die polnische Regierung dachte überhaupt nicht daran, die jüdischen Baudenkmäler liebevoll zu restaurieren und zu pflegen."
Ein Thema, das in Breslau lange tabuisiert wurde. Bis in die späten 50er Jahre wurde alte Geschichte mit kommunistischer Präzision demontiert. Stein für Stein. Und was sagten die Menschen dazu? Nicht viel, meint Joanna sichtlich berührt. Die meisten Deutschen seien ja vertrieben worden oder hätten freiwillig die Stadt verlassen. Angesiedelt wurden daraufhin in Breslau in erster Linie Familien aus den ehemaligen ostpolnischen Gebieten, die heute zur Ukraine gehören. Um etwas mehr darüber zu erfahren, schlägt Joanna vor, den Historiker und Leiter des Ossolineum Nationalinstituts, zu befragen: Professor Adolf Juzwenko – ein Vertriebener aus Lemberg, der als Kind die Stadt, die damals Lwow hieß, auf Stalins Befehl gemeinsam mit seinen Eltern verlassen musste, um fortan in Wroclaw zu leben.
"Wir haben uns hier sehr lange fremd gefühlt. Jeder dachte, vielleicht kehren wir nach Hause in den Osten zurück. Ich verstehe gut die Gefühle der vertriebenen Deutschen. Sie haben auch jahrelang so etwas gehofft. In den 60er Jahren, als die ersten – sagen wir sogenannten - deutschen Touristen kamen, um ihre Heimatorte zu besuchen, erwachte bei uns immer die gleiche Angst. Irgendwann werden sie zurückkommen, um ihre Häuser zu beanspruchen."
Ängste, die das Leben in Breslau bis in die 80er Jahre hinein prägten. Ängste, die einen Wiederaufbau der Stadt nahezu unmöglich machten - dieser Ansicht ist zumindest der Leiter des Willy Brand-Zentrums, Krzysztof Ruchniewicz.
"1989 war Breslau grau und unansehnlich. Drei Jahre später war es bereits eine bunte Stadt. Zu verdanken haben wir dies dem wiedererwachten Bewusstsein seiner Bewohner. Breslau war und ist wieder eine multikulturelle Stadt. Daraus kann man Vorteile schöpfen. Hier wird wieder jene Toleranz betont, die für Breslau so charakteristisch war. Und zwar nicht nur im Bezug auf Menschen anderer Nationalitäten, sondern auch anderer Religionen."
Aufgeschlossenheit und gegenseitige Achtung – zwei Tugenden, zu denen die Bürger Breslaus erst allmählich zurückgefunden haben. Heute sind sie nahezu an allen Ecken dieser wunderbaren Stadt zu spüren. Nicht zu vergessen der Witz und die Leichtigkeit, mit der sie hier das kommunistische System mit Hilfe der sogenannten orangenen Alternative in den 80er Jahren Schritt für Schritt systematisch demontiert haben. Die typischen Symbole der sogenannten Breslauer orangenen Alternative sind heute überall in der Stadt zu sehen: in Bronze gegossene Zwerge. Sinnbilder jugendlicher Unbeschwertheit. Genau diese Leichtigkeit, sagen die Breslauer, mache den Charakter der Stadt aus. Genau deshalb, seufzt Joanna, komme sie so gerne hier her.
"Meine Familie sagt, sie möchte in Breslau leben. Bei mir geht das nicht so weit. Ich fühle mich einfach wohl, wenn ich hier bin. Breslau ist eine Stadt mit einer ungewöhnlich reichen Geschichte, mit sehr regem Leben und Menschen, die mir sehr sympathisch sind und sehr aufgeschlossen: einfach nett."