Queeres Kultbuch

03.06.2009
Lisa ist 26. Nach dem Ende einer Liebesbeziehung bricht sie nach Australien auf und begibt sich auf die Suche nach ihrer Identität. - Svealena Kutschke hat mit "Etwas Kleines gut versiegeln" einen zeitgemäßen und poetischen Debütroman vorgelegt.
Die Handlung dieses Romans ist schnell erzählt: Lisa, 26, bricht nach dem Ende der Beziehung zu "B.", einem Transgender-Menschen, ihr Fotografiestudium ab und fliegt nach Australien, wo sie von Marc, dem Ex ihres Bruders, aufgenommen wird. Nach anfänglicher Lethargie streift sie durch die Stadt, findet einen Job in einem Café; sie verliebt sich in den Künstler Nick, der ihre Gefühle nicht erwidert, und beginnt eine heftige Affäre mit dessen Freund Ben. Mit eigentümlicher Schamlosigkeit hängt sie sich an Menschen und ist doch zugleich regelrecht in sich selbst eingekapselt.

Eines Tages findet sie ein Foto, auf dem sie in einem Café und mit Menschen abgebildet ist, die sie nicht kennt, und sie beginnt die Suche nach einer Erklärung. Dabei verstärkt sich ihre Identitätskrise:

"Ich konnte Nick nicht erklären, dass der Gedanke an mein Bild auf einem Foto, das es nicht geben konnte, ein Misstrauen in mir auslöste, meinem Körper gegenüber. (…) Ich verlor den Boden unter den Füßen, meine Haut wurde seltsam substanzlos, und wenn da nicht bald jemand kam und nach mir griff, seinen Abdruck auf meiner Haut hinterließ, dann würde ich mich mit Sicherheit auflösen."

Mit Mora, einer Transgender-Frau, und Marc reist sie in den Outback, wo sie ihre alten Filme zerstört und wieder zu fotografieren beginnt. Nach einem Jahr ist ihr Aufenthalt in Australien (vielleicht) beendet, sie bricht jedenfalls auf – wohin auch immer.

Diese kargen Zusammenfassung der äußeren Handlung lässt kaum erahnen, was sich in diesem Erstlingsroman von Svealena Kutschke, die 2008 die Zweitplazierte von Open Mike war, tatsächlich ereignet: Eine metaphernreiche, kraftvolle und fantasievolle Sprache eröffnet neue Wahrnehmungsräume, macht Rätselhaftes, Absurdes, Verzweiflungen, Begehren und Einsamkeit geradezu sinnlich spürbar, ohne jemals ins Kitschige abzugleiten – das wird durch Ironie verhindert.

Lisa ist offensichtlich auf der Suche und auf der Flucht zugleich: auf der Suche nach einem möglichen Leben, und auf der Flucht vor der Vergangenheit und vor der Bodenlosigkeit einer nur scheinbar kontrollierbaren, sinnvoll geordneten Welt. Die Grenzen zwischen Realem und Irrealem, Innen und Außen werden auf raffinierte Weise immer wieder überschritten. Dargestellt wird das trotz der existenziellen Thematik mit erstaunlichem Witz. Die "Fragen" des Schweizer Künstlerduos Fischli & Weiss begleiten sie dabei wie Orakel: "Bin ich der Schlafsack meiner Seele?" oder: "Warum will man wissen, wo ich gestern war?"

Der Roman wird bereits als queeres Kultbuch gefeiert, und das mag er aufgrund der Figuren sein, die zwischen den Geschlechtern oszillieren - aber er ist es noch mehr wegen der Art des Erzählens selbst. Es setzt herkömmliche Wahrnehmungen und Kategorien in Bewegung und außer Kraft und verweigert sich der endgültigen Fixierung. Dieser Roman ist auch ein Bildungsroman.

Aber während vor 200 Jahren Goethes "Wilhelm Meister" noch ziemlich genau wusste, wo er sein Leben sucht, als er aus den bürgerlichen Verhältnissen (vorerst) ausbricht, bricht Lisa tatsächlich ins Unbekannte auf, denn in der Welt der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten gilt es, das eigene Leben von Grund auf immer wieder neu zu erfinden. Ein sehr zeitgemäßer Roman - und ein sehr poetischer Roman.

Rezensiert von Gertrud Lehnert

Svealena Kutschke: Etwas Kleines gut versiegeln
Wallstein Verlag, Göttingen 2009
294 Seiten, 19,90 Euro