"Pure Euphorie"

Stephan Puille im Gespräch mit Joachim Scholl · 01.02.2012
Als Stephan Puille Phonographen-Aufnahmen aus dem Jahr 1889 entschlüsselte, fand er heraus, dass eine der Stimmen Otto von Bismarck gehörte - eine historische Sensation, denn viele Jahre hatte man vergeblich nach den Aufnahmen gesucht.
Joachim Scholl: Gleich hören Sie einen Ton, der heute im Wortsinn die Welt aufhorchen lässt, eine Stimme aus dem Jahr 1889, eine der ältesten erhaltenen Sprachaufnahmen der Welt. Im Wesentlichen hört man erst mal rauschen, aber hinter diesem Rauschen eine Stimme, und wenn Sie genau zuhören, erkennen Sie sogar ein paar Worte:

Originalaufnahme mit der Stimme von Reichskanzler Otto von Bismarck aus dem Jahr 1889 (MP3-Audio)Toneinspielung "Friedrichsruh, Oktober 1889"

"Der Rat eines Vaters an seinen Sohn", so endet die wahrlich historische Aufnahme, die jetzt aufgetaucht ist – aufgenommen 1889 mit dem Phonografen von Thomas Alva Edison. Der Herr, der hier zu hören war, unter vielem Knistern und Rauschen, das ist kein Geringerer als Otto von Bismarck, Kanzler des Deutschen Reiches. Dass wir jetzt wissen, wie seine Stimme geklungen hat, ist eine kulturelle Sensation, und ich bin jetzt verbunden mit dem Mann, der herausgefunden hat, dass es der Eiserne Kanzler ist, der hier spricht: Stephan Puille, Restaurator von altem Tonmaterial, Laboringenieur an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. Guten Tag, Herr Puille!

Stephan Puille: Guten Tag, Herr Scholl!

Scholl: Sagen Sie, was war das für ein Moment für Sie, als Ihnen bewusst war, das ist er, das ist Bismarck?

Puille: Das war natürlich pure Euphorie. Das ist ein Traum, der da in Erfüllung ging, ein Traum, den ich im Grunde gar nicht geträumt hatte, denn ich habe wirklich nicht daran gedacht, dass so etwas passieren könnte. Als ich das Material bekommen habe, war es ja völlig ergebnisoffen. Niemand wusste vorher, dass sich dahinter Bismarck verbirgt. Es war also eine große Überraschung für alle Beteiligten.

Scholl: Lassen Sie uns mal diese Sensation Schritt für Schritt rekonstruieren, Herr Puille. Das Material ist in Amerika aufgetaucht – wo und wie?

Puille: Das Material ist bereits in den 1950er-Jahren in Amerika aufgetaucht, und zwar in einer Kiste, wo insgesamt 21 Walzen enthalten waren, ursprünglich. Diese Kiste stand hinter Edisons Bett in seiner Bibliothek. Und in den 50er-Jahren gab es eine große Inventur, und dort kam dieses Material zum Vorschein, wurde damals als nicht sehr bedeutend erachtet und wieder weggestellt. Dann hat es noch fast 50 Jahre gedauert, bis man sich erinnert hat an dieses Material, und Geld gesammelt hat, um diese Aufnahmen zu digitalisieren. Und dann kam ich ins Spiel.

Scholl: Und wie?

Puille: Ich bin seit über 15 Jahren beschäftigt mit frühen Tonträgern und habe einen gewissen Ruf – einen guten Ruf, wie ich hoffe, in der Szene –, und habe auch ein Team von Spezialisten, mit dem ich immer wieder arbeite, seit Jahren schon, und einer aus diesem Team, Patrick Feaster, ein Medienhistoriker, hat sich dann sofort mit mir in Verbindung gesetzt und hat mich gefragt, ob ich Interesse hätte, mir dieses Material mal anzuhören. Und natürlich hatte ich Interesse – Herr Feaster hatte schon Graf von Moltke identifiziert, wusste aber nichts mit dem Inhalt anzufangen, denn das ist sehr schwierig zu transkribieren gewesen. Und die anderen Walzen, bis auf eine Walze eines Geigers, hatte er nicht identifizieren können, sodass ich noch genug vor mir hatte, und ich habe dann, als ich das Datenmaterial bekommen habe – die Original-Walzen sind ja nach wie vor in Amerika sicher verwahrt …

Scholl: Weil sie viel zu kostbar sind, zu transportieren.

Puille: … ja, sie sind zu kostbar, sind auch vor allen Dingen viel zu fragil, sie sind sehr empfindlich für Temperaturunterschiede, Feuchteunterschiede, das heißt, es wäre nicht ratsam gewesen, diese einmaligen Objekte so einem Stress auszusetzen, zumal ich mit dem digitalen Datenmaterial ja viel besser arbeiten kann.

Scholl: Wie haben Sie das denn nun herausgefunden, wer da spricht?

Puille: Beim Querhören ist mir sofort aufgefallen, dass auf dieser Walze als Aufnahmeort Friedrichsruh genannt ist. Und ich wusste von meinen Recherchen, die ich natürlich parallel zu meinen Audioarbeiten immer wieder mache, dass Bismarck in Friedrichsruh aufgenommen wurde von Herrn Wangemann, dem Vertreter von Edison. Und dann war mir klar, dass das eine Sensation sein musste, denn ich hatte entsprechende Presseunterlagen gesammelt aus der Zeit, und aus denen ging in etwa der Inhalt dieser Walze hervor. Und ich habe dann, als ich den Aufnahmeort hatte, rekonstruiert, indem ich die ersten Wortfetzen verstanden habe, und habe versucht, das in Übereinstimmung zu bringen mit dem Material, was mir vorlag, und das ist mir gelungen. Ich habe sogar noch einige Dinge mehr identifiziert, die damals in der Tagespresse nie erwähnt wurden, aber die Dichte des Materials, das was ich schon wusste, und dass das jetzt dazu kam, das hat wunderbar gepasst, sodass ich auch persönlich keinen Zweifel habe, dass es sich hier um Bismarck handelt.

Scholl: Also sozusagen der Fälschungsvorwurf, den können wir gleich ausräumen. Ich meine, so was kommt immer vor, dass man bei so einer tollen Sensation so etwas findet. Ist ja auch schon öfter mal passiert, dass es dann hieß, es war nichts – aber das ist doch authentisch, ja?

Puille: Ja, aus meiner Sicht schon. Auch alle Beteiligten haben da keine finanziellen Vorteile. Ich habe da keinen Pfennig oder keinen Cent dafür bekommen für meine Arbeit. Es ist auch wie gesagt völlig ergebnisoffen gewesen, und man muss eben eine große Hintergrundinformation haben, um diese Walze identifizieren zu können, denn Bismarck ist auf der Walze überhaupt nicht erwähnt als Person.

Scholl: O-Töne der allerseltensten Art, so klang Bismarck. Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Berliner Restaurator Stephan Puille, er hat die Aufnahmen rekonstruiert.

Herr Puille, wir haben vorhin diesen kurzen Ausschnitt gehört, da war von Ratschlägen eines Vaters an den Sohn die Rede. Bismarck sagte ja aber noch mehr. Was denn?

Puille: Er fing an, mit einem englischen Gedicht, "In good old colony times", was er zu Studentenzeiten gelernt hat von einem Kommilitonen, der später amerikanischer Botschafter wurde, dann spricht er ein deutsches Gedicht, "Als Kaiser Rotbart lobesam", heute nicht mehr sehr bekannt, früher sehr wohl. Es war etwas, was jeder, der in die Schule ging, wohl gelernt hat. Dann kam ein lateinisches Gedicht, ein Studentenlied eigentlich, "Gaudeamus Igitur", und dann, zur großen Überraschung von mir, die "Marseillaise".

Scholl: Es hört sich ja nach einer doch etwas seltsamen Textmischung an. Wie erklären Sie sich denn die?

Puille: Ja, also es gibt verschiedene Ansätze. Ein Ansatz wird bestimmt sein, dass Bismarck tatsächlich stolz darauf war, dass er also in vier Sprachen sprechen kann, also er wollte polyglott erscheinen, er wusste ja auch, dass die Walze nach Amerika zurückgeht. Die erste Aufnahme in Englisch hat er, denke ich, als Gruß an Edison geschickt, damit er das direkt verstehen konnte, ansonsten hat er sich aber bemüht, bis auf die "Marseillaise", betont unverfänglich es zu sprechen, denn er war sich bewusst, dass seine Gegner diese Aufnahme unter Umständen gegen ihn verwenden konnten. Wangemann, wie ich aus den damaligen Presseerklärungen aus Wangemanns eigenem Interview weiß, hatte ursprünglich was anderes vorbereitet: Bismarck sollte eigentlich eine Nachricht an die Deutschen diesseits und jenseits des Atlantik sprechen, was natürlich auch für uns heute sehr interessant gewesen wäre. Aber Bismarck war sehr klug und sehr zurückhaltend und hat diese Bitte abschlägig beurteilt und hat dann lieber etwas Harmloseres gesprochen.

Scholl: Also jener Theo Wangemann, der die ganzen Aufnahmen eben gemacht hat, dieser Mitarbeiter Edisons, der wird dort wahrscheinlich verblüfft auch gewesen sein, wie wir jetzt, wenn er jetzt also den Eisernen Kanzler die "Marseillaise" zitieren hört. Ist das so ein kleiner Spott Richtung Frankreich, oder muss jetzt die Forschung umgeschrieben werden, der Eiserne Kanzler war ein Spion des Erzfeindes?

Puille: Sehr interessante Theorie. Ich war selbst verblüfft, und ich kenne die Walze jetzt ja schon seit Mai letzten Jahres. Und die ganze Zeit habe ich mich gefragt, warum die Marseillaise? Und ich baue sehr darauf, dass die Bismarck-Forschung mir erklären wird, was es damit auf sich hat. Ich habe schon die ersten Erklärungen gelesen. Was ich nicht wusste, dass Bismarck eben so viel Witz hatte, dass es womöglich eben eine Verballhornung des Erzfeindes war, wie auch vielleicht eine Form von Herabwürdigung. Ich bin sehr gespannt, was die Forschung dazu sagt. Dazu bin ich kein Experte.

Scholl: Sie haben vorhin, Herr Puille, schon erwähnt , dass Helmuth von Moltke auch auf diesen Aufnahmen ist, der greise Feldmarschall. Der war im Jahr 1889 also wirklich schon uralt, und der wurde noch im 18. Jahrhundert geboren. Das muss man sich vorstellen. Gibt es eigentlich überhaupt ein Tondokument eines Menschen, der noch Mozart begegnet sein könnte?

Puille: Sehr unwahrscheinlich. Ich weiß, dass im Jahre – ich glaube, 1890 – wurde eine Aufnahme in Amerika eines 100-Jährigen gemacht, der müsste also dann 1790 geboren sein, aber weiter zurück wird es nicht gehen. Ich bin wirklich begeistert, dass Moltke im Jahr 1800 geboren ist, denn dann kann man es mit Fug und Recht behaupten: Wir haben eine Stimme aus dem 18. Jahrhundert. Er ist damit etwa zehn Jahre älter wie die nächstältere Aufnahme. Also das ist schon was ganz Besonderes, ganz abgesehen davon, wer er ist. Helmuth Karl Bernhard von Moltke war zusammen mit Bismarck und dem Kaiser eine der drei bedeutendsten Persönlichkeiten im Deutschen Reich der damaligen Zeit, und vom Kaiser gibt es dann noch später Tonaufnahmen, sodass wir ihn auch als Stimme haben.

Scholl: Wie man weiß, Herr Puille, hat jener Theo Wangemann sein Gerät damals ja so als diesen Phonographen im Triumphzug eigentlich durch Deutschland geführt, auch durch Berlin – dem Kaiser wurde es auch vorgespielt, ich glaube, auch dem russischen Kronprinzen, die wollten aber alle nicht drauf sprechen.

Puille: Ja, das ist richtig. Also bei meinen Untersuchungen habe ich festgestellt, dass der Kaiser zwar mehrmals die Möglichkeit hatte, darauf zu sprechen – Wangemann hat ihn in Potsdam auf seinem Schloss besucht –, aber er hat seine drei Söhne vorgeschickt, den siebenjährigen Kronprinzen Wilhelm und seine beiden noch jüngeren Brüder, etwas auf eine Walze zu sprechen. Warum er selbst nicht gesprochen hat, weiß ich nicht, ich könnte mir vorstellen, dass auch er, der gerade frisch im Amt war, noch sehr zurückhaltend war und nicht wusste, ob das vielleicht auch gegen ihn verwendet werden könnte. Er hat sich dann ja später sehr umfangreich in der Presse geäußert und auch weitere Aufnahmen gemacht.

Scholl: Herr Puille, für Sie – Sie sagten es vorhin schon – die größte Sache Ihrer Karriere, seit 15 Jahren machen Sie das. Haben die Korken geknallt in Ihrem Institut gestern, oder knallen sie noch heute?

Puille: Ja, wir waren zurückhaltend. Die Korken werden erst knallen, wenn ich Zeit dafür habe, was zu trinken, denn ein Interview reiht sich ans andere, …

Scholl: … jagt das nächste!

Puille: … ich kann es überhaupt noch nicht genießen, aber ich habe natürlich schon geahnt, was passieren würde, wenn diese Nachricht rausgeht.

Scholl: So macht Bismarck auch Sie berühmt. Ein historischer Fund, eine wissenschaftliche Sensation: Die Stimme Otto von Bismarcks im O-Ton. Der Restaurator Stephan Puille hat sie herausgehört und die Umstände rekonstruiert. Herzlichen Glückwunsch nochmals von uns, Herr Puille, und vielen Dank für das Gespräch!

Puille: Vielen Dank, Herr Scholl!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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