Literaturauszeichnung

Esther Kinsky erhält den Chamisso-Preis

Esther Kinsky
Die Übersetzerin und Autorin Esther Kinsky 2009 auf der Buchmesse in Leipzig. © picture alliance / dpa / Foto: Thomas Schulze
Von Georg Gruber · 03.03.2016
In München wird in diesem Jahr neben Uljana Wolf auch Esther Kinsky mit dem Chamisso-Preis geehrt. Die Auszeichnung erhält sie für ihr Gesamtwerk und insbesondere, so die Begründung der Jury, für ihren Roman "Am Fluß".
"Am Fluß" – Esther Kinsky erzählt in diesem Roman von einer Frau, die durch London streift, allein, durch verlorene Straßen und Brachlandschaften. Orientierung gibt ihr ein Fluss, der River Lea, der viel über die Geschichte der Stadt berichten könnte:
"Dieser Fluss war die Trennung zwischen dem rein und raus in die Stadt, oder raus aufs Land. Die travellers, Zigeuner oder Roma gab es ja nicht in dem Sinne in England, durften nicht auf die andere Seite des Flusses, die mussten auf der östlichen Seite des Flusses bleiben. Also auf der östlichen Seite mussten alle Leute bleiben, die keinen festen Wohnsitz hatten, und das war zum Beispiel etwas, was mich unglaublich fasziniert hat."
Esther Kinsky, 59, ist eine zierliche Frau, schwarzer Pullover, die Haare grau, kurz und verstrubbelt. Flüsse haben in ihrem Leben schon immer eine große Rolle gespielt, seit ihrer Kindheit. Sie ist in der Nähe von Bonn aufgewachsen, am Rhein, mit dem sie viele Erinnerungen verbindet, auch das Gefühl von Weite:
"Damals war ja auch noch viel mehr Lieferschiffsverkehr und es war für Kinder faszinierend, so ein permanentes Vorüberziehen dieser verschiedenen Flaggen. Und dann gab es diese kleinen Welten auf den Booten."
Auch ihre Leidenschaft für das Übersetzen rührt schon aus der Kindheit, als kleines Mädchen wollte sie von ihrem Vater wissen, wann man eine Fremdsprache wirklich beherrscht.
"Mein Vater konnte sehr, sehr gut italienisch, und dem waren wir auch sehr viel ausgesetzt und er wurde dann auch so ein anderer Mensch. Und dann hat mein Vater, was für mich wirklich denkwürdig ist, gesagt, wenn man bei dem Wort für ´blau`ein anderes blau sieht, und bei dem Wort für ´Berg` einen anderen Berg, als eben im Deutschen. Und das ist für mich Zeit meines Lebens, ich bin jetzt weit über 50 Jahre, ich war vielleicht sechs, als ich ihn das gefragt habe, dann ist mir das eine wunderbare Antwort geblieben."

Esther Kinsky übersetzte zuerst Lyrik und kurze Prosatexte

Sie lernte Englisch, Russisch und Polnisch. War in den 80er-Jahren oft in Warschau, übersetzte zuerst Lyrik und kurze Prosatexte. Nach der Wiedervereinigung zog sie mit ihren Kindern nach London, lebte dort 15 Jahre, bis ihr der Alltag zu teuer wurde. Sie kaufte sich ein Haus in Ungarn an der Grenze zu Rumänien, um in Ruhe schreiben zu können – wo sie sich nun, vor allem wegen der politischen Situation in dem Land, nicht mehr wohl fühlt. Inzwischen wohnt sie in Berlin/Neukölln. Drei junge Katzen streichen um ihre Beine, sie dürfen nach draußen, in den Innenhof. Ihr Arbeitszimmer geht zur Straße, die Passanten könnten ihr auf den Schreibtisch schauen, wären die Fensterscheiben nicht mit milchiger Folie beklebt.
"Also der Blick fehlt mir wahnsinnig hier, ich bin im Erdgeschoß wegen der Katzen, ich muss was finden, wo ich wieder aus dem Fenster gucken kann."
Ihren dritten Roman "Am Fluß", für dessen poetische Sprache sie nun ausgezeichnet wird, hat sie im Rückblick geschrieben, aus der Distanz. Er hat biografische Anklänge, die Zeitebenen und Orte wechseln, doch was bleibt, ist das Gefühl, dass sich die Protagonistin in der Fremde bewegt, fremd bleibt, nicht nur in London:
"Ich denke schon, dass das eines meiner wichtigsten Themen innerlich ist, mit dem ich mich beschäftige, vielleicht hat das auch mit dem Flussthema zu tun, dieses Fließen, nicht verharren. Das Fremde ist so ein eigentlich sehr schwierig zu übersetzendes Wort, das bezeichnete ja ursprünglich nur den Lehrling auf der Wanderschaft. Es ist die Einzigartigkeit dieses Wortes im Deutschen, dieses mitschwingende Element des Unsteten, wie es auch bei Schubert in der Winterreise thematisiert ist, das mir so gut gefällt an diesem Wort."

Literarisches Reisetagebuch von der Krim

Zuletzt erschien von Esther Kinsky ein literarisches Reisetagebuch "Karadag Oktober 13: Aufzeichnungen von der kalten Krim", von einer Reise, die sie – noch vor der Annexion durch Russland – zusammen mit ihrem Mann gemacht hatte, dem schottischen Übersetzer und Historiker Martin Chalmers. Er starb nach der Reise an einem Krebsleiden, bevor sie die Arbeit an dem gemeinsamen Buchprojekt abschließen konnten.
"Es war sein ganz großer Wunsch gewesen, dieses Buch zu schreiben, und ich hätte nie das Buch alleine schreiben wollen und hab dann eben mich an sein Reisetagebuch gemacht und Briefe und Emails an Freunde und seine Tochter ausgewertet, und so kam es zu diesem Text und ich finde, das war natürlich ein sehr schmerzlicher Prozess, aber er hatte auch was heilsames: Am Ende ist was da."
Im Nachlass ihres Mannes sind noch weitere Texte, die sie ins Deutsche übersetzen möchte. Wo, das ist noch offen, vielleicht in London, denn da zieht es sie wieder hin.
Informationen zum Chamisso-Preis auf den Seiten der Bosch-Stiftung
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