Psychotherapeut Otto Kernberg

„Psychoanalytiker sind keine perfekten Menschen“

74:28 Minuten
Portärt von Otto Kernberg
Otto Kernberg sieht sich als ein Brückenbauer, zum Beispiel auch zwischen Psychiatrie und Psychoanalyse. © Verlag Herder
Moderation: Susanne Führer · 25.12.2020
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Otto Kernberg ist einer der bekanntesten Psychoanalytiker der Welt. Er gilt als Autorität für die Behandlung schwerer Persönlichkeitsstörungen. Diesen Menschen zu helfen, „sich selbst zu befreien“, hält offenbar jung: Mit 92 hat er eine 60-Stunden-Woche.
Seit Jahren verspricht Otto Kernberg seiner Frau, bald in den Ruhestand zu gehen. Aber so richtig glaubt der Psychoanalytiker und Psychiater selbst nicht an einen baldigen Abschied von seinen Patientinnen und Patienten. Im Alter von 92 arbeitet er 60 Stunde die Woche.
"Solange es mir Spaß macht und ich arbeiten kann, liebe ich es. Wenn es mir nicht mehr Vergnügen macht, oder wenn ich irgendwie durch physische oder psychische Krankheit beschwert wäre, dann würde ich aufhören."
Otto Kernberg gilt heute als einer der berühmtesten Psychotherapeuten der Welt. Er hat zahlreiche internationale Auszeichnungen erhalten. Der Psychoanalytiker ist Professor für Psychiatrie und Leiter des Instituts für Persönlichkeitsstörungen der Cornell Universität New York.

Neue Therapien entwickelt

Sein Name ist besonders mit Diagnostik und Therapie der schweren Persönlichkeitsstörungen verbunden. Sie galten zuvor für die Psychoanalyse als nicht behandelbar. Kernberg hat psychotherapeutische Behandlungsstrategien entwickelt, die auch diese Störungen – wie zum Beispiel für Borderline-Störung oder bösartigen Narzissmus – für eine psychoanalytisch orientierte Therapie zugänglich machen.
Porträt von Otto Kernberg
Brach mit einigen Regeln der orthodoxen Psychoanalyse: der Psycholanalytiker Otto Kernberg.© Verlag Herder
"Mir fiel auf, wie sich solche Menschen dummerweise das Leben selbst ruinieren. Mit normaler Intelligenz, mit so vielen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Ich dachte, dass psychoanalytisches Verstehen helfen sollte, diese Menschen von sich selbst zu befreien. Der Erfolg mit ein paar klinischen Fällen gab mir dann den Mut, das zu einer vollen Theorie der Technik zu entwickeln."
Für diese Arbeit, die mit einigen Regeln der orthodoxen Psychoanalyse brach, wurde Otto Kernberg von vielen verehrt, von anderen aber auch angefeindet.

Immer mitten in der Kontroverse

Otto Kernberg findet, er sei dafür ein Stück weit mitverantwortlich. "Es war meine eigene Schuld, dass man mich kritisch beobachtete. Ich fand die psychoanalytische Ausbildung zu hierarchisch, zu autoritär. Ich bin ein radikaler Kritiker der psychoanalytischen Ausbildungsmethoden. In dieser Beziehung bin ich in der Mitte einer Kontroverse."
Er sieht sich als ein Brückenbauer, zum Beispiel auch zwischen Psychiatrie und Psychoanalyse. Schon früh habe ihn ein Freund gewarnt, dass, wer Brücken baut, riskiert, von beiden Seiten angegriffen zu werden. Heute lacht Kernberg darüber.
An der Wirksamkeit der Psychoanalyse, die immer wieder diskutiert wird, gibt es für Otto Kernberg jedoch keine Zweifel.
"Besonders in Deutschland, wie auch in den Vereinigten Staaten, gibt es Forschungen, die die Effektivität von psychoanalytischen Behandlungen und von psychoanalytischer Psychotherapie beweisen. Es gibt genügend klinisches Material, um die Effektivität von Psychoanalyse in vielen Fällen behaupten zu können."

Psychoanalyse als große Seelen-Chirurgie

Das bedeute aber nicht, dass die Psychoanalyse die einzig mögliche Therapie sei. Sie sei auch keinesfalls für die Behandlung jeder psychischen Störung geeignet.
Es gab Zeiten, da gehörte der Gang zum Psychotherapeuten in bestimmten Kreisen zum guten Ton. In seinem Film "Der Stadtneurotiker" hat Woody Allen dieser Kultur ein Denkmal gesetzt. Wann würde Otto Kernberg eine Psychoanalyse empfehlen?
"Falls Sie ernste Schwierigkeiten in ihrem Leben haben, die durch leichtere Formen von Psychotherapie, Medikamente oder andere Behandlungsarten nicht verändert werden können. Psychoanalyse ist sozusagen große Chirurgie. Die Instrumente sind der menschliche Geist. Wenn ich über große Schwierigkeiten spreche, spreche ich über die allgemeinen Gebiete, aus denen das tägliche Leben besteht. Das ist hauptsächlich Arbeit und Beruf, Liebe und Sexualität, soziales Leben und Kreativität."

"Ich bin auch schon mal eingeschlafen"

Bis heute existieren zahlreiche Klischeebilder von psychotherapeutischen Sitzungen. Da gibt es zum Beispiel das vom schlafenden Analytiker, während der Patient auf der Couch liegt und vor sich hin redet. Auch Otto Kernberg kann davon erzählen.
"Ich bin auch schon mal eingeschlafen. Nicht während einer Analyse, sondern während einer Psychotherapie mit einer schizophrenen Patientin. Deren Sprache war so verwirrt, dass ich nichts verstehen konnte. Es waren leere Worte. Und ich bin dann eingeschlafen."
Überhaupt, so der Professor für Psychiatrie an der Cornell University New York, würden Psychoanalytiker ihr Leben nicht grundsätzlich besser gestalten können.
"Wir finden die größten Probleme im sozialen Verhalten, in Persönlichkeitsstörungen, in allerlei Symptomen auch bei Analytikern. Denn zum Teil sind ja unsere psychologischen Krankheiten auch biologisch bedingt. Analytiker werden auch krank, brauchen auch psychologische Behandlungen. Sie sind keine idealen und perfekten Menschen."

"Ich will Trump nicht diagnostizieren"

In den letzten Jahren wurde Otto Kernberg einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Das lag vor allem an Donald Trump. Als Spezialist für narzisstische Persönlichkeitsstörungen wurde er häufig zum US-Präsidenten befragt. Obwohl er "sehr gern und offen darüber spreche, was ich über Trump denke", sei ihm eines wichtig:
"Ich bin im Prinzip dagegen, psychiatrische Diagnosen über Politiker zu stellen. Wir können nicht sicher sein, dass das öffentliche Verhalten eines Menschen wirklich die Persönlichkeit gut darstellt, denn da ist so viel manipuliertes Verhalten. Deshalb habe ich mich immer geweigert Trump zu diagnostizieren. Obwohl ich natürlich sein Verhalten als sehr entsprechend von einem Symptom sehe, das wir in meinem Institut studiert haben und dass ich als Erster beschrieben habe. Und zwar das des bösartigen Narzissmus."

Verfolgt von den Nationalsozialisten

Mit 92 Jahren blickt Otto Kernberg heute zufrieden auf sein Leben zurück. Seit den 1960er-Jahren lebt und arbeitet der Mediziner in den USA. Noch immer liebt er seine Geburtsstadt Wien, auch wenn so viele schlechte Erfahrungen damit verbunden sind. 1928 in eine jüdische Familie geboren, gelang ihm und seinen Eltern gerade noch rechtzeitig die Flucht vor den Nazis. Bis auf einen Cousin, so Otto Kernberg, "wurden alle Verwandten, Tanten, Onkels, Großeltern, ermordet."
1939 kam Otto Kernberg nach Chile, nur für dieses Land hatten die Eltern noch ein Visum erhalten. In Santiago erfuhr er von Psychoanalyse, las die Bücher von Sigmund Freud. "Vieles habe ich nicht verstanden, aber ich fand alles spannend. Ich wollte Arzt werden. Zuerst wollte ich Gastroenterologe werden, dann Neurologe. Dann am Ende, als ich in der Psychiatrie anlangte, da war mir ganz klar, das war das Gebiet, was mich interessieren würde."

Zwei glückliche Ehen

Mit seiner Ehefrau, der chilenischen Kinder-Psychiaterin und -Psychoanalytikerin Paulina Fischer-Kernberg, ging Otto Kernberg 1961 in die USA. Dort arbeiteten sie später beide am Institut für Persönlichkeitsstörungen. Das Paar bekam drei Kinder. Nach 52 Jahren Ehe verstarb Paulina Kernberg 2006. Es war "der schwerste Moment meines Lebens", sagt Otto Kernberg.
Wegen Depressionen begab er sich danach selber in Behandlung. Aber in dieser Phase verliebte er sich auch wieder. Doch eine neue Beziehung, eine Hochzeit, bei diesen Gedanken sei ihm nicht wohl gewesen. Mit 78 Jahren konsultierte Otto Kernberg seinen Therapeuten: Ob er noch warten solle mit der Heirat? Antwort: "Was glaubst Du, wie viel Zeit Du noch hast?!"
Seit 2007 ist der Psychiater und Psychoanalytiker zum zweiten Mal glücklich verheiratet. Hat er einen Rat, eine Lebensweisheit für uns? Kernberg zitiert Woody Allen: "Im Grunde genommen muss man Spaß haben." Und lacht.
(ful)
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