Psychologe: In der Koalition gibt es eine Kluft "zwischen gemeinsamen und gegensätzlichen Zielen"

Eberhard Stahl im Gespräch mit André Hatting · 04.06.2012
Eberhard Stahl betrachtet das Klima in der Koalition aus psychologischer Sicht. Es sei eine klassische Leitungsaufgabe, dass Konflikte partnerschaftlich gelöst werden. Man müsse sich die Frage stellen, ob die Leitungsfunktion in dieser Koalition voll umfänglich wahrgenommen werde.
André Hatting: Heute treffen sich die Chefs der Regierungsparteien mit der Bundeskanzlerin. Es geht um die wichtigsten Projekte bis zum Ende dieser Legislaturperiode, also bis zu den Bundestagswahlen 2013. Politisch ist es brisant, weil CDU/CSU und FDP sich beim Betreuungsgeld nicht einig sind. Wir haben heute Morgen schon mehrfach darüber berichtet.

Psychologisch ist der Gipfel in Berlin aber mindestens ebenso ergiebig, könnte man eine wissenschaftliche Arbeit darüber schreiben - Titel: "Kommunikation in Gruppen mit hoher Konfliktdichte" oder so ähnlich. Damit kennt sich Eberhard Stahl sehr gut aus. Der Psychologe ist Geschäftsführer einer Hamburger Beratungsfirma und Autor des Standardwerks "Dynamik in Gruppen". Guten Morgen, Herr Stahl.

Eberhard Stahl: Guten Morgen, Herr Hatting.

Hatting: Wie sieht denn die Dynamik der Gruppe Merkel, Seehofer, Rösler aus?

Stahl: Wovon man erst mal ausgehen kann ist, dass sich in dieser Gruppe wie in allen Gruppen, aber in dieser vielleicht ganz besonders, eine Kluft zwischen den gemeinsamen Zielen und den gegensätzlichen Zielen auftut. Die gemeinsamen Ziele, die wollen ja alle drei, da gehen wir erst mal von aus: den Erfolg dieser Koalition. Und in dem Sinne sind die in einem Boot und brauchen so etwas wie ein funktionierendes Wir-Gefühl.

Gleichzeitig haben die gegensätzliche Ziele, jeder vertritt eine andere Partei und hat in Bezug auf seine Partei natürlich besondere Ziele und Wünsche. Und diese Gemengelage, die bringt jetzt einen Konflikt mit sich, nämlich den des Abwägens zwischen gemeinsamen und gegensätzlichen Zielen, und der sollte im Idealfall so gelöst werden, dass die gemeinsamen Ziele von allen Beteiligten als die überwiegenden wahrgenommen werden. Wenn das gelingt, dann werden die sich miteinander partnerschaftlich im Konflikt auseinandersetzen. Das heißt, die werden darauf verzichten, sich auf Kosten der anderen zu behaupten.

Hatting: Warum scheint das bei dieser Koalition so schwer zu sein? Es fällt auf, dass sehr, sehr häufig die Konflikte nach außen getragen werden, statt, wie sonst in Regierungen eigentlich üblich, sie intern zu lösen.

Stahl: Auch da können wir nur spekulieren. Dafür zu sorgen, dass Konflikte partnerschaftlich gelöst werden und nicht gegnerschaftlich oder feindschaftlich, ist eine klassische Leitungsaufgabe. Und die Frage, ob diese Leitungsaufgabe in dieser Koalition voll umfänglich wahrgenommen wird, die muss man sich stellen, die müsste man den Leitenden da stellen: Gelingt es euch, die Beteiligten, wenn ihr zusammen seid und wenn ihr auseinander seid, dazu zu bringen, dass sie ein Wir-Gefühl empfinden, dass sie also die gemeinsamen Ziele höher bewerten als die gegensätzlichen.

Wenn das nicht gelingt, dann wird es destruktiv, dann werden die gegensätzlichen Ziele wichtiger und dann fängt man an, sich auf Kosten der anderen durchzusetzen, zu profilieren. Dann leidet das Wir-Gefühl, und dann kommt eine Dynamik auf, die schon ein bisschen was von Panik hat, denn wenn ich Teil einer Gruppe bin, bei der ich kein Vertrauen mehr haben kann, darin, dass auf mich Rücksicht genommen wird, dann muss ich sehen, dass ich meine Schäfchen ins Trockene bringe, und dann geht das wechselseitige Bashing los.

Hatting: Herr Stahl, Sie haben gerade die Leitungsfunktion angesprochen. Die hat die Bundeskanzlerin, denn sie hat die Richtlinienkompetenz. Ist Frau Merkel keine gute Führungspersönlichkeit?

Stahl: Oh, das kann ich überhaupt nicht beantworten. Es gibt da ja auch unterschiedliche Auffassungen. Ich habe letzten Freitag in Ihrem Sender eine Diskussion gehört, da war die Auffassung, das Kanzleramt müsste da aktiv werden, gar nicht die Kanzlerin selbst. Also dass diese Funktion nicht ausreichend wahrgenommen wird, kann man jedenfalls vermuten aufgrund der doch sehr häufigen Wendung nach außen der Beteiligten in Konflikten. Wer die da nicht ausreichend wahrnimmt und warum das nicht ausreichend wahrgenommen wird, das kann ich nicht beantworten.

Hatting: Spielen da auch die Methoden der Bundeskanzlerin eine Rolle, die vielleicht nicht immer angemessen sind? Ich nehme mal das Beispiel der Entlassung des Bundesumweltministers Röttgen. Dafür hat sie sieben Sätze gebraucht, für einen Mann, der ihr sieben Jahre lang treu gedient hat, kein Wort der Erklärung, keine Begründung.

Stahl: Nun weiß man auch da wieder nicht, wie viele Worte intern gefallen sind. Was allerdings tatsächlich Not täte, um eine konstruktive Konfliktbewältigung intern zu gewährleisten, ist tatsächlich eine Leitung, die zwei Dinge hinkriegt, nämlich erstens, die strittigen Themen zur richtigen Zeit anzusprechen, und der Bundeskanzlerin geht ja so ein bisschen der Ruf voraus, dass sie da eher einen vermeidenden Stil pflegt.

Und die zweite Geschichte wäre, dafür zu sorgen, dass die richtigen Themen dann auch partnerschaftlich im Konflikt ausgetragen werden, und da gewinnt man von außen zumindest häufiger den Eindruck, dass dafür zu wenig miteinander gesprochen wird. Und wenn die beiden Dinge nicht gelingen, dann wird es schwierig.

Hatting: Also möglicherweise ein Kommunikationsdefizit, weil einfach zu wenig miteinander kommuniziert wird, wie Sie es gerade angesprochen haben. Könnte es vielleicht auch daran liegen, dass die Bundeskanzlerin als Führungspersönlichkeit grundsätzlich härter auftritt, als es vielleicht Männer tun müssen, weil in der Gesellschaft es immer noch so ist, dass Frauen in Führungspositionen dies so tun müssen, härter sein als Männer?

Stahl: Das wäre jetzt sehr spekulativ. Ich möchte nur erinnern an den Vorgänger der jetzigen Bundeskanzlerin, Gerhard Schröder. Dem ist ja auch vorgeworfen worden, dass er nun gerade mit einer männlichen Basta-Politik auftritt. Ich glaube, da wird man sich schwer tun, von außen zu sagen, was die Motive für ein Verhalten sind.

Hatting: Schauen wir noch mal auf die anderen Mitglieder, mit denen heute gesprochen wird, auf Seehofer, Chef der CSU, und Rösler, Chef der FDP. Was glauben Sie, wie werden die sich verhalten in dem Gespräch?

Stahl: Die sehe ich in der schwierigsten Position von der Gruppendynamik her, denn die sind von ihrer Identifikation vielleicht gar nicht vorrangig identifiziert mit der Koalition, wenn die sich heute treffen, sondern die sind vorrangig identifiziert unter Umständen mit ihrer Zugehörigkeit zur bayrischen CSU und zur FDP und mit den Sorgen und Nöten, die diese Parteien im Moment haben. Und wenn die vorrangige Identifikation damit gegeben ist, dann sind die eher bereit und eher motiviert, auch auf Kosten der gemeinsamen Sache sich Vorteile zu verschaffen.

Hatting: Dann hat die Bundeskanzlerin wahrscheinlich auch das Problem, dass beide in ihren Parteien im Augenblick genügend Baustellen haben.

Stahl: Eben. Mit jemandem an einem Strang zu ziehen, der noch auf anderen Hochzeiten tanzt und da viel zu verlieren hat, das ist gruppendynamisch immer schwierig, weil dessen Bereitschaft, sich in die Gruppensolidarität einbinden zu lassen, die sinkt und dann kann es schwierig werden für denjenigen, der die Leitung hat, da wirklich ein verlässliches Vertrauen und ein verlässliches Wir-Gefühl zu etablieren.

Hatting: Das Spitzentreffen im Kanzleramt und die psychologische Dynamik – das war ein Gespräch mit dem Diplompsychologen Eberhard Stahl. Ich bedanke mich, Herr Stahl.

Stahl: Ja gerne! Tschüss.


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