Psychogramme der Nazis

Von Margarete Limberg · 17.06.2005
Eine einzigartige historische Quelle ist nun erstmals in Deutschland zugänglich. Es handelt sich um Aufzeichnungen der Gespräche mit Angeklagten und Zeugen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Sieben Monate lang führte ein amerikanischer Arzt und Psychiater ausführliche Interviews mit 19 Hauptangeklagten und einigen Zeugen.
Die Situation war einzigartig: Einige der ranghöchsten Protagonisten des 3. Reiches, unsagbarer Untaten angeklagt, standen Monate lang psychologischer Erkundung zur Verfügung. Der damals 34 –jährige amerikanische Arzt und Psychiater Leon Goldensohn hatte die Aufgabe, den psychischen und seelischen Zustand der in Nürnberg angeklagten Kriegsverbrecher zu überwachen und führte mit den Nürnberger Häftlingen fast täglich ausführliche Interviews. Die Führungsriege des Dritten Reiches von Göring bis Ribbentrop, gestern Hitler noch treu ergeben, zeigte sich nun ängstlich besorgt, sich in ein das milde Licht der Ahnungslosigkeit zu rücken und jegliche Verantwortung auf Hitler und seine Clique zu schieben. Mit Informationen zeigten sie sich großzügig, wenn es darum ging, andere zu belasten. Sie selbst wussten nichts von den Verbrechen, und wenn sie etwas wussten, waren sie nicht beteiligt, und wenn sie beteiligt waren, dann nur auf Befehl.

Der Historiker Wolfgang Benz :
"Sie fühlten sich nicht von den Verbrechen, die ihnen zur Last gelegt wurden, beschwert. Sie plädierten auf gute Absichten und besten Willen, auf Verführung und Befehl."

Goldensohn erwies sich als guter Zuhörer und genauer Beobachter. Im Unterschied zu anderen, die vor ihm die psychischen Untiefen der NS-Verbrecher auszuloten suchten, bemühte er sich um äußerste Professionalität. Er wollte die Häftlinge nicht vorführen und ließ sie doch nie im Zweifel…

"... dass er auf der Gegenseite steht, dass er nicht als Beichtvater fungiert oder in irgendwie anwaltschaftlicher oder seelsorgerischer Funktion, sondern hat ihnen klar gemacht … erhielt sie für Monster und wollte herauskriegen, warum sie das getan hatten, welche seelischen und psychologischen Strukturen notwendig sind."

Die Häftlinge hatten die Möglichkeit zu reden und sie taten es ausführlich. Goldensohn machte seine Notizen z. T. noch während der Gespräche, z. T. unmittelbar danach. Das gibt dem von ihm gesammelten Material seine besondere Bedeutung. Deutlich wird die Gefühlskälte von Männern, die unglaublicher Taten beschuldigt werden, eine besondere Herausforderung für den 34-jährigen Goldensohn. Ein Beispiel für die monströse Mischung aus Banalität und Bestialität ist der Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz, Rudolf Höss, den , so Wolfgang Benz, keine bösen Träume, keine schrecklichen Phantasien störten:

"Rudolf Höss, Vater von fünf Kindern, dessen Karriere als Obersturmbannführer als 45-Jähriger zu Ende ist, empfindet im Gespräch mit Goldensohn keinerlei Bewegung, als er gefragt wird, ob ihn der Massenmord nicht manchmal aus dem Gleichgewicht bringt, ob er Entsetzten verspüre angesichts der getöteten Kinder, die so alt waren wie seine eigenen."

Neu ist nicht, dass die NS-Täter ihre eigene Rolle als möglichst klein und unbedeutend darstellten , sondern nach Ansicht des Zeithistorikers…

"…dass Julius Streicher, die Inkarnation des Judenfeindes, der beträchtlichen Anteil daran hat, dem deutschen Volk klar zu machen, dass der Weg nach Auschwitz führen muss, dass der sich auch als Unbeteiligter zurückziehen will … Dieses Fortwirken nationalsozialistischer Propaganda bei den Akteuren, diese Realitätsferne scheint mir angesichts des Scherbenhaufens, auf dem sie standen, schon ein Moment, das eingehender Betrachtung wert ist."

Jahrzehnte lang blieben die Notizen Goldensohns, der 1961 gestorben ist, unbeachtet, bis sie im letzten Jahr von dem renommierten amerikanischen Historiker und Täterforscher Robert Gellately veröffentlicht wurden. Sie gehören, so Benz, zum Besten und Wichtigsten, was über das Dritte Reich und seine Führungsriege erschienen ist:

"Das ist das Gegenmittel der Aufklärung, nämlich hier können wir jetzt, vermittelt durch Goldensohn, tatsächlich den Blick in das Innere der Täter tun. Das ist wichtiger und besser als alle Memoiren , die von den Akteuren des Dritten Reiches erschienen sind, besser als manch eine Biographie und sicherlich heilsamer als manches, was noch über die Protagonisten des Dritten Reiches erscheint."