Psychische Reaktionen auf Corona

Die Krise und die Krisen

04:12 Minuten
Eine Frau mit Mund- und Nasenschutzmaske fasst sich mit beiden Händen an den Kopf.
Manche Sorgen und Ängste seien in der Krise durchaus naheliegend, meint Thorsten Padberg. © Unsplash / Engin Akyurt
Ein Einwurf von Thorsten Padberg · 10.06.2020
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Corona schlägt aufs Gemüt: Zuletzt häufen sich Meldungen über den Anstieg psychischer Störungen. Das ist nachvollziehbar, meint der Psychotherapeut Thorsten Padberg. Aber nicht jede Reaktion müsse gleich als pathologisch angesehen werden, warnt er.
Wir haben uns lange schon daran gewöhnt, heftige Reaktionen auf negative Ereignisse als Ausdruck einer kranken Psyche anzusehen. Als wäre die Coronapandemie nicht genug, stehen wir jetzt auch noch vor einem Tsunami.
Das Frühwarnsystem des Royal College of Psychiatry, die wichtigste Psychiaterorganisation Großbritanniens, hat jedenfalls Alarm geschlagen: Mit der Infektionswelle würden auch unsere psychologischen Beratungsstellen überflutet werden. Das Virus greife nicht nur unsere Lunge an, sondern auch unsere Psyche.
Viel zu viele Menschen hätten viel zu viel Angst vor der Pandemie und ihren Folgen, heißt es. Sie alle gelten, weil sie sich sorgen, als psychisch krank. Das Census Bureau der Vereinigten Staaten - dort so etwas wie das Statistische Bundesamt - hält inzwischen ein Drittel aller US-Amerikaner für entweder depressiv und/oder angstgestört.
Im Vergleich zu früheren Erhebungen berichten doppelt so viele Amerikaner von depressiven Symptomen.

Psychische Störung oder soziale und ökonomische Krise?

Dabei könnten die Daten aus den USA auch als Ausdruck einer - je nach persönlicher Lage - vollkommen angemessenen Reaktion gedeutet werden: Von denjenigen, die mehr als 150.000 Dollar im Jahr verdienen, berichteten nur 6 Prozent von unkontrollierbaren Sorgen.
Während diejenigen, die weniger als 25.000 Dollar verdienten, dies zu 28 Prozent taten. Die Ärmsten haben eben auch in Zeiten von Corona mehr Anlass zu Beunruhigung. Es fehlt an beruflicher Sicherheit, an Kinderbetreuung und an genügend Platz in der eigenen Wohnung, um sich mal gegenseitig aus dem Weg zu gehen.
Wir müssten nicht über psychische Störungen, sondern über eine soziale und ökonomische Krise sprechen.

Naheliegende Reaktionen auf echte Lebensprobleme

Statt Sorgen und Ängste in Krisenzeiten als naheliegende Reaktion auf echte Lebensprobleme anzusehen, haben viele meiner Kolleginnen und Kollegen in den letzten Wochen der Öffentlichkeit die Funktionsweise der Amygdala erläutert. Dass sie ein Teil des Angstsystems sei, der die Menschen bei Bedrohungen davon abhält, klar zu denken.
Der Angstforscher und Psychiater Borwin Bandelow wusste zu berichten: Da "sind Menschen wie Tiere. Auch sie reagieren auf die Entscheidungen des Hirnstamms." Und wer es nicht schaffe, seiner animalischen Amygdala Zügel anzulegen, der übertreibe es halt mit dem sich Ängstigen.
Vielleicht sollten wir es einmal mit der Gegenthese probieren: Diejenigen, die jetzt seelenruhig zu Hause sitzen oder lautstark und ohne Abstand zu halten auf den Straßen "Freiheit" fordern, haben die nicht ein Angstdefizit? Sorgen sie sich nicht zu wenig? Um ihre Gesundheit und ihre Arbeit, um die Alten und Kranken und Schwachen?

Pandemie psychiatrischer Diagnosen

Wie wäre es also mit CADDS, dem Corona-bedingten Angst-und Depressions-Defizit-Syndrom, das wir immer dann diagnostizieren, wenn man innerhalb der letzten zwei Wochen auf mindestens einem Corona-Spaziergang war? - Ja, das wäre offensichtlich Unsinn.
Dagegen braucht es offenbar wenig, um Angst- und Depressionsgefühlen das Label "klinisch" voranzustellen. Wer im Fragebogen des Census Bureau angab, während der letzten beiden Wochen an mehr als der Hälfte Tage interesselos gewesen zu sein und sich dazu noch ein paar Tage "down" gefühlt hatte, der galt bereits als auffällig.
Auf diese Weise kommt es natürlich schnell zu einer Pandemie psychiatrischer Diagnosen.

Die Sorgen ernstnehmen

Auf dieser Grundlage fordern Mental-Health-Aktivisten und Psychotherapeuten jetzt die verstärkte Suche nach psychischen Krankheiten und deren Behandlung. Dann könnten auch diejenigen, deren Jobs gefährdet und deren Gesundheit aufgrund von Vorerkrankungen gefährdet ist, endlich lernen, "geistig gesund" durch die Pandemie zu kommen.
Sie könnten für ihre hyperaktive Amygdala Entspannungsübungen machen und sorgenfrei leben. Also so "resilient" und widerstandsfähig werden wie die Reichen und Schönen.
Oder wir nehmen ihre Sorgen ernst, indem wir mit Wohnraum, Geld und Arbeit für existenzielle Sicherheit sorgen. Das dient dann auch der psychischen Gesundheit.

Thorsten Padberg arbeitet als Verhaltenstherapeut, Dozent und Supervisor in Berlin. Er beschäftigt sich mit der Wirksamkeit und den gesellschaftlichen Auswirkungen von Psychotherapie, Psychiatrischer Diagnostik und Psychopharmaka. Er arbeitet als freier Journalist für verschiedene Medien sowie wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Zeitschriften.

© Carolin Pitzke
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