Psychiatrische Diagnosen

"Schwanken zwischen Trauer und Euphorie"

29:15 Minuten
Die Illustration zeigt die Schemen einer Frau, wie in einem Kaleidoskop, in dreieckigen Ausschnitte gebrochen. Zwei dieser Fragmente sind farbig, die restlichen sind grau.
Der Weg zu einer Diagnose und einer Behandlung muss kein einfacher sein. In der Psychotherapie gehören feine Abstufungen, Grautöne und Facetten zum Alltag. Für die Behandelnden genauso wie für die Behandelten.. © Illustration: Dragan Denda
Von Pia Rauschenberger und Thorsten Padberg · 01.10.2019
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Zweifel oder Bedenken sind im therapeutischen Prozess eher die Regel als die Ausnahme. Dennoch beginnen die meisten Menschen eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung freiwillig. Im Fall von Kira war das anders.
Wer eine Psychotherapie oder eine psychiatrische Behandlung anfängt, hat vorher oft Sorgen oder Bedenken. "Zum einen gibt es natürlich auch Leute, die sagen: Gehöre ich überhaupt hierhin? Nehme ich vielleicht Leuten, die es vielleicht nötiger haben den Platz weg?" erklärt der Psychotherapeut Thorsten Padberg.
"Aber es gibt natürlich auch die umgekehrte Sorge: Ist das eigentlich das Richtige für mich? Was machen die da? Wird er meine Kindheit umdeuten? Wie verändern sich meine Beziehungen?" Solche Sorgen können zu Beginn einer Psychotherapie oder in deren Verlauf thematisiert werden und gehören zum therapeutischen Prozess.

"Ist das eigentlich das Richtige für mich?"

Bei Kira (Name geändert) verläuft der Beginn ihrer Behandlung anders als der Normalfall. Als sie merkt, dass sie sich verändert, stört es sie selbst erst einmal gar nicht so sehr. Ein erstes Anzeichen ihrer Veränderung sind ihre stark schwankenden Gefühle: "Wie man da so schön sagt 'Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt.' Also auch mal Lachen und Weinen gleichzeitig, weil Dinge unglaublich traurig und gleichzeitig irgendwie lustig sind."
Kira hat gerade ihr Abitur gemacht, aber anstatt zu entspannen, hat sie ein volles Tagesprogramm: Sie kümmert sich um ihren festen Freund und ihre beste Freundin, die beide psychische Probleme haben und gießt den Garten ihrer Eltern, die gerade im Urlaub sind.
Irgendwann schläft sie kaum noch. Als ihre Eltern nach ein paar Wochen aus dem Urlaub zurückkommen, erkennen sie ihre Tochter nicht wieder: Kira denkt, dass sie von Strahlen beeinflusst wird, die sie quälen. Leise Geräusche bringen sie völlig aus der Ruhe. Ihre Eltern beschließen, sie in die Psychiatrie zu bringen.

Zwangseinweisung nur wenn eine Gefährdung droht

Im Gegensatz zu Kira beginnen die meisten Menschen eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung freiwillig. Um Menschen unter Zwang einzuweisen, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt werden.
Der Psychotherapeut Thorsten Padberg erklärt, dass die Bedingungen im PsychKG, im Psychisch-Kranken-Gesetz geregelt seien: "Das ist von Bundesland zu Bundesland verschieden. Aber letzten Endes sind die zentralen Punkte gleich: Um über das Psychisch-Kranken-Gesetz eingewiesen zu werden, muss man eine Gefährdung darstellen, entweder für sich selber oder für andere. Und zwar aus psychologischen Gründen. Aufgrund einer psychischen Störung."

Die Diagnose als Eintrittskarte für eine Behandlung

In der Psychiatrie erhält Kira die Diagnose Schizophrenie. Ob in der Psychiatrie oder in der psychotherapeutischen Behandlung - eine Diagnose steht immer am Anfang einer Behandlung. "Diagnosen schließen einfach bestimmte gesellschaftliche Ressourcen auf", so Padberg.
Für ihre Diagnose orientieren sich Therapeuten, Psychiater und Gutachter an bestimmten Manualen. Dort sind verschiedene psychische Störungen und ihre Symptome aufgelistet. Es gibt zum einen das DSM, das Diagnostische Statistische Manual, und den ICD, die Internationale Klassifikation von Krankheiten, die von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben werden. In Deutschland wird zur Vergabe von Diagnosen in der Regel der ICD-10 verwendet. Das DSM ist in den USA verbreitet und wird in Deutschland eher zu Forschungszwecken verwendet.

Kira wird zwangsfixiert

Kira kommt auf die Kinderstation der Psychiatrie, aber sie wehrt sich gegen ihre Behandlung. Sie hat nicht das Gefühl, dass psychisch etwas nicht mit ihr stimmt. Sie will einen Bluttest machen, um zu überprüfen, ob körperlich etwas nicht in Ordnung ist.
"Und dann bin ich halt an dem ersten Abend ziemlich durchgedreht", erzählt sie. Kira wird auf der Erwachsenenstation zwangsfixiert. Bundesweite Zahlen dazu, wie oft das passiert, gibt es nicht. Schätzungen zufolge gibt es pro Jahr in Deutschland etwa 200.000 Maßnahmen dieser Art.
Da es sich um eine Freiheitsberaubung handelt, ist die Zwangsfixierung sehr umstritten und muss seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 2018 von einem Richter genehmigt werden, sobald sie länger als eine halbe Stunde dauert. Auch hier ist die Eigen- oder Fremdgefährdung der einzige Grund für eine Fixierung.
Vier Jahre nach ihrer unangenehmen Erfahrung in der Psychiatrie hat Kira sich getraut, eine Psychotherapie anzufangen, obwohl sie große Bedenken gegenüber Psychiatern und Therapeuten hatte: "Und dann habe ich mich dazu entschlossen, das zu machen. Also ich achte immer sehr darauf abzuwägen, was ich eigentlich möchte. Und was ich nicht möchte. Und in was für Situationen ich mich begebe, um auch wirklich selber entscheiden zu können, was meine Grenze ist und was für Behandlungen ich mir aussuche und was nicht."
Inzwischen macht sie eine Ausbildung in einem Fahrradladen. Dort arbeiten nur Menschen, die eine Diagnose haben. Ihre psychischen Probleme haben Kira hinter die verschlossenen Türen der Psychiatrie gebracht, ihr Mut sich erneut Hilfe zu suchen, hat ihr andere Türen geöffnet.